Brief in der baz heute
Bedenken zu «sesam»
Leserbrief - Tür zu «sesam» wird definitiv geschlossen; baz 24. 2. 06
Ich freue mich, dass die zu erwartende Reihe von kritischen Leserbriefen zum Projekt «sesam» von Kollege Mark Fellmann so kurz, gehaltvoll und kompetent eröffnet wurde. Meine Bedenken: Nicht nur in der Tierverhaltensforschung, sondern in allen Naturwissenschaften ist heute bekannt, dass allein schon Beobachtung die zu beobachtenden Prozesse stört. Im Falle der sensiblen Beziehungen zwischen Eltern und Kind in der Entstehungs- und Entwicklungsphase können Beobachtungen darüberhinaus durchaus schädlich sein. In dieser Phase entstehen die beiden Geisseln psychischen Leidens: Kontrollängste - sowohl vor dem Kontrollierenden als auch vor dem Verlust autonomer Kontrolle - und Schuldgefühle (wesentliche Depressionsauslöser). Dies weiss man heute schon. Die Planer des «sesam»-Projekts seien gewarnt, mit Forschungseifer das sich entwickelnde zarte Geflecht von Eltern- und-Kind-Beziehungen zu gefährden.
Dr. med. Ann Leiser, Psychoanalytikerin, Muttenz
Leserbrief - Tür zu «sesam» wird definitiv geschlossen; baz 24. 2. 06
Ich freue mich, dass die zu erwartende Reihe von kritischen Leserbriefen zum Projekt «sesam» von Kollege Mark Fellmann so kurz, gehaltvoll und kompetent eröffnet wurde. Meine Bedenken: Nicht nur in der Tierverhaltensforschung, sondern in allen Naturwissenschaften ist heute bekannt, dass allein schon Beobachtung die zu beobachtenden Prozesse stört. Im Falle der sensiblen Beziehungen zwischen Eltern und Kind in der Entstehungs- und Entwicklungsphase können Beobachtungen darüberhinaus durchaus schädlich sein. In dieser Phase entstehen die beiden Geisseln psychischen Leidens: Kontrollängste - sowohl vor dem Kontrollierenden als auch vor dem Verlust autonomer Kontrolle - und Schuldgefühle (wesentliche Depressionsauslöser). Dies weiss man heute schon. Die Planer des «sesam»-Projekts seien gewarnt, mit Forschungseifer das sich entwickelnde zarte Geflecht von Eltern- und-Kind-Beziehungen zu gefährden.
Dr. med. Ann Leiser, Psychoanalytikerin, Muttenz
patpatpat - 28. Feb, 11:19
Eine andere Hypothese
Es heisst, die psychischen Probleme werden zu einer der Hauptursachen von Gesundheitsstörungen in der Zukunft werden. Demzufolge werden immer mehr Menschen arbeitsunfähig sein und zu Rentenbezügern / Sozialhilfeabhängigen. Ist dies nicht das Hauptproblem der psychischen Störungen für die gesamte Gesellschaft ? Ist nicht die Frage, wie die Gesellschaft diese Kranken in Zukunft finanzieren wird, die Motivation des Nationalfonds zu diesem Schwerpunktforschungsthema?
Wenn ja, dann wäre doch das Ziel einer Forschung nicht ein unsinniges Stöbern in Familiengeschichten (über den Zusammenhang zwischen Kindheit und späterer psychischer Krankheit forscht die Psychoanalyse und Psychologie in Haupttätigkeit seit über hundert Jahren und hat darüber ein grosses Wissen angesammelt), sondern die Analyse der Faktoren, die dazu führen, dass ein psychisch kranker Mensch nicht in die heutige Arbeitswelt eingegliedert werden kann.
Meine Hypothese lautet so, dass keineswegs Depressionen, Angststörungen und Störungen aus der Gruppe der Schizophrenien (die sind nicht zu vergessen!!!) im Vormarsch sind, sondern dass diese Krankheiten heute viel öfter erkannt und diagnostiziert werden, da die Menschen, die unter diesen Krankheiten leiden, dem Stress der heutigen Arb eitswelt nicht mehr gewachsen sind. Eine Generation vorher noch fand man in vielen Firmen und Institutionen Nischen oder verständnisvolle Arbeitgeber, die aufgrund der Arbeitskräfteknappheit auch Menschen beschäftigten, die ab und zu krankheitshalber keine volle Leistung bringen konnten. Dadurch, dass die Kranken nicht aus dem Arbeitsprozess und damit aus einem wichtigen Teil des gesellschaftlichen Lebens ausgegliedert wurden, war ihre soziale Stellung nicht die eines Sozialhilfebezügers oder Behinderten, sondern sie lebten sozial integriert.
Mein Begehren: Eine Studie ist notwenig, die untersucht, wie psychisch Kranke im Erwerbsleben gehalten werden können, wie Arbeitsplätze gestaltet sein sollten, damit Gesunde unter Stress nicht krank und die Kranken unter Stress nicht noch kränker werden. Ausserdem gäbe es zu erforschen, wie sich die durch IV und Sozialhilfe erzeugte Untätigkeit, Wertlosigkeitsgefühle und Leere negativ auf den Verlauf der Krankheiten auswirken.
Dazu bräuchte es aber eine wirklich interdisziplinäre Forschung, an der alle Fakultäten eingeschlossen wären, d.h. Mediziner, Sozialwissenschafter, Psychologen, aber auch Wirtschaftswissenschafter und Historiker. Dazu müsste ein ständiger, intensiver und reziproker Austausch mit Entscheidungskräften der Wirtschaft sowie Organisationen der psychisch Kranken selbst stattfinden. Die Resultate dieser Forschung sollten in konkreten Projekten für arbeitslose psychisch Kranke münden.
Dies mein Vorschlag zur Diskussion.
lic. phil. I Nathalie Anderegg Balaid (Ethnologin / Soziologin), Basel