WoZ 13.9.: Der forschungspolitische Kaninchentrick
Roland Fischer in der WoZ:
Demnächst soll es losgehen: Nachdem sich das Bewilligungsverfahren für Sesam (Swiss Etiological Study of Adjustment and Mental Health) länger hingezogen hat, als es den Projektverantwortlichen lieb war, will man im Oktober mit der Rekrutierung schwangerer Frauen für die gross angelegte Studie zur psychischen Entwicklung beginnen. Da bislang erst die Ethikkommission beider Basel (EKBB) grünes Licht gegeben hat, rekrutiert man vorderhand am Sesam-Hauptstandort. In Zürich, Bern, Lausanne und Genf wird man voraussichtlich erst nächstes Jahr mit der Suche nach Studienteilnehmerinnnen beginnen können. Die Zürcher Ethikkommission wird die Studie im Oktober unter die Lupe nehmen, in Bern wollte man zum Termin keine Auskunft geben. In der Romandie wurden die Gesuche noch nicht eingereicht. Ob sich die Hoffnung der Sesam-Verantwortlichen erfüllt, dass die Studie nach dem EKBB-Entscheid in den anderen Kantonen einfach durchgewinkt wird, ist fraglich. In Zürich wird es laut Niklaus Herzog, dem Sekretär der Kommission, vermutlich kein abgekürztes Bewilligungsverfahren geben.
Die Sesam-WissenschaftlerInnen sind in Eile, denn sie befürchten, nicht so viele TeilnehmerInnen wie erhofft zu finden. 3000 Familien will man bis 2009 für die Kernstudie gewinnen, und nochmals an die 1000 Familien für diverse Teilstudien. Alexander Grob, stellvertretender Direktor von Sesam, gibt zu, dass das Ziel ambitiös sei. Man strebt eine Quote von 75 Prozent der angefragten Familien an. Für die Kernstudie rekrutiert man an Unispitälern, die werdenden Mütter sollen direkt von den behandelnden ÄrztInnen zur Teilnahme bewogen werden. Für den erheblichen Aufwand werden die TeilnehmerInnen (neben der Mutter
und ihrem Kind auch der Vater und wenn möglich die Grosseltern) finanziell nicht entschädigt. Aber immerhin: Sesam kommt zustande, auch wenn sich deutlich weniger als 3000 Familien verpflichten sollten. Noch vor einem halben Jahr stand ein grosses Fragezeichen hinter der Studie. Die Finanzierung der ersten Projektphase war zwar gesichert, der Nationalfonds hat Sesam den Status eines nationalen Forschungsschwerpunkts verliehen, und Roche hat einen grossen Anteil der verlangten Drittmittelfinanzierung übernommen.
Doch dann erwies sich die EKBB als Spielverderberin. Man beurteilte die Studie zwar prinzipiell positiv, doch eine Auflage hatte es in sich: Die Kommission verlangte, auf genetische Tests an Kindern bis zu deren Volljährigkeit zu verzichten. Damit geriet das ganze Studiendesign in Schieflage: Die biologisch-genetische Perspektive ist ein zentraler Aspekt von Sesam. Und einfach zu warten, bis die Einwilligung der Kinder vorliegt, war keine realistische Alternative: «Zwanzig Jahre sind ein enormer Zeitraum im wissenschaftlichen Kontext», sagt Alexander Grob.
Doch plötzlich zauberten die Sesam-Verantwortlichen einen neuen Schwerpunkt aus dem Hut: die Epigenetik. Das Forschungsgebiet ist der letzte Schrei auf dem molekularbiologischen Laufsteg, es untersucht nicht die genetische Veranlagung, sondern deren Regulation. Der genetische Einfluss ist dem Menschen ein für alle Mal eingeschrieben, die Epigenetik hingegen ist in ständigem Fluss, weshalb man beim Sammeln diesbezüglicher Informationen nicht zuwarten kann. Die EKBB hat der Entnahme von Speichelproben bei Säuglingen für epigenetische Tests zugestimmt. Und sie hat den Sesam-ForscherInnen das Versprechen abgenommen, damit keine genetischen Tests zu machen - denn genetisches und epigenetisches biologisches Material lassen sich nicht trennen.
Dem von Sesam-GegnerInnen geäusserten Vorwurf, die Epigenetik sei erst nach dem negativen EKBB-Entscheid aufgetaucht, um die biologischen Aspekte von Sesam zu retten, widerspricht Urs Christ vom Nationalfonds: «Die Epigenetik war schon Teil der ersten Forschungseingabe.» Man habe das ganze Projekt nach dem Entscheid allerdings von einem internationalen Expertengremium nochmals begutachten lassen. Es stand also durchaus die Frage im Raum, ob Sesam ohne Genetik überhaupt noch Sinn ergab. Was genau mit den Speichelproben geschieht, ist indes noch nicht klar. Man sammelt erst mal auf Vorrat, bis die entsprechende Methodik ausgearbeitet ist, die Proben werden in einer externen Biobank aufbewahrt.
Die EKBB hat allerdings ein Vetorecht: Die Sesam-ForscherInnen müssen genaue Protokolle der geplanten Tests einreichen, und die Ethikkommission behält sich vor, bei Bedenken auf ihren prinzipiell positiven Entscheid zurückzukommen. Das Zittern im Sesam-Lager ist also noch nicht vorbei.
sesaminput - 13. Sep, 11:11