Neue Zürcher Zeitung, 07.03.2008, Seite 16
Sesam fehlen die Frauen
Forschungsschwerpunkt sucht nach Studienteilnehmerinnen
hof. «Sesam» bekundet Mühe, genügend Frauen für die angepeilten Studien zu rekrutieren. Die Wissenschafter des Nationalen Forschungsschwerpunkts Sesam, dessen Hauptsitz an der Universität Basel ist, wollen die psychische Entwicklung über die Lebensspanne untersuchen (Sesam steht für Swiss Etiological Study of Adjustment and Mental Health). Dazu werden seit vergangenem Oktober in verschiedenen Kliniken schwangere Frauen gesucht, die bereit sind, an den Versuchen mitzumachen. In der ersten Phase werden die Teilnehmer interviewt, es finden Verhaltensbeobachtungen und Ultraschalluntersuchungen sowie biologische Messungen statt. «Bisher haben sich dafür deutlich weniger Frauen gemeldet, als wir geplant haben», sagt Jürgen Margraf, Direktor von Sesam und Professor für
klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Basel. Genaue Zahlen möchte er noch nicht nennen. Am Montag werde man die neusten Zahlen zusammentragen und am Donnerstag die Öffentlichkeit informieren, sagt er. Man müsse sich jetzt überlegen, wie die Versuchsanlage angepasst werden könne, um die Ziele trotzdem zu erreichen. Insgesamt will die Studie über 20 Jahre hinweg 3000 Kinder und deren Familien forschend begleiten. Es bestünde zum Beispiel die Möglichkeit, die Frauen statt während der Schwangerschaft erst ab Geburt zu rekrutieren, sagt Margraf. Dabei erziele man in der Regel bessere Resultate, was die Anzahl Studienteilnehmer betrifft. Allerdings wäre man dann gezwungen, die Phase der Schwangerschaft retrospektiv zu erforschen. Ein anderer Weg wäre, die Fristen zu verlängern, was aber Geld kostet. Im April werde man mit den Institutionen, die Sesam tragen, das weitere Vorgehen besprechen, sagt Margraf. Unterstützt wird das Projekt, für das bis 2009 über 22 Millionen Franken budgetiert sind, neben dem Nationalfonds auch von Pharmaunternehmen. Sesam ist in Basel immer wieder von Seiten der Nichtregierungsorganisation «Basler Appell gegen Gentechnologie» unter Beschuss geraten. Die Kritiker stellen die Zulässigkeit von Forschung an Kindern grundsätzlich in Frage. Von den zuständigen Ethikkommissionen ist Sesam bewilligt worden.
Tages-Anzeiger, 07.03.2008, Seite 36
Viel zu wenig Schwangere wollen an Basler Forschungsprojekt teilnehmen
Das umstrittene Basler Projekt Sesam findet nicht genügend Freiwillige. Wenn sich auch noch die Geldgeber zurückziehen, könnte das Forschungsvorhaben scheitern.
Von Anke Fossgreen
Seit gut fünf Monaten fragen Ärzte der Frauenklink Basel schwangere Frauen, ob sie beim Nationalen Forschungsschwerpunkt Sesam teilnehmen wollen. Seit Januar versuchen Gynäkologen am Inselspital Bern werdende Mütter zu rekrutieren, und dieser Tage startet auch das Universitätsspital in Zürich. Bisher haben allerdings nicht einmal 30 Frauen zugesagt - 3000 sollen es jedoch bis zum Jahr 2010 sein. «Die Zahlen sind weit unter unseren Erwartungen», sagt Jürgen Margraf besorgt. Der Leiter des Nationalen Forschungsschwerpunktes sieht das gross angelegte Forschungsvorhaben in Gefahr, «wenn wir es nicht schaffen, bis zum Sommer genügend Teilnehmerinnen zu rekrutieren».
Bei Sesam (Swiss Etiological Study of Adjustment and Mental Health) wollen mehr als 20 Schweizer Forschergruppen die psychische Entwicklung von 3000 Kindern von Beginn an, also bereits im Mutterleib, bis zu ihrem 20. Lebensjahr verfolgen. Mit eingeschlossen werden sollen auch Eltern und Grosseltern werden. So wollen die Wissenschaftler unter anderem erkunden, warum Schweizer Jugendliche im internationalen Vergleich besonders häufig an psychischen Störungen leiden. Die Anzahl der Jugendlichen mit einer Depression ist hier zu Lande überdurchschnittlich hoch, ebenso sind es die verübten Selbstmorde in dieser Altersgruppe. Indem sie die Teilnehmer zur Erziehung befragen, zum Familienleben oder zur Stressbewältigung, wollen die Wissenschaftler Risiko oder Schutzfaktoren für psychische Erkrankungen finden.
Nächste Woche werden sich die Leiter von Sesam neue Strategien überlegen, wie mehr Frauen für das Projekt zu begeistern sind. «Ein Problem war, dass generell weniger Schwangere als gedacht in die Spitäler kamen», so Margraf, «und von denen wollten kaum welche am Projekt teilnehmen.» Allerdings sprachen viele der Frauen nicht genügend Deutsch oder Französisch. Ohne gute Kenntnisse einer der beiden Sprachen schieden sie aber von vornherein aus, da das die Sprachen der Fragebögen und Interviews sind.
Nicht nur die Forscher sind besorgt über die schlecht angelaufene Anfangsphase, auch die Sponsoren beobachten die Entwicklung von Sesam skeptisch. Laut Martina Rupp, Pressesprecherin beim Pharmakonzern Roche, werden sich noch im März die Geldgeber des Forschungsvorhabens zusammensetzen, um die Fortschritte zu beraten. Für die erste Projektphase von 2005 bis 2009 stehen insgesamt mehr als 22,7 Millionen Franken zur Verfügung, knapp die Hälfte davon finanziert der Schweizer Nationalfonds, einen Teil die Universität Basel und mehr als ein Viertel stammt von Roche. «Wenn die vereinbarten Ziele nicht erreicht werden, diskutieren die Partner, wie es mit Sesam weitergeht», sagt Rupp. Schliesslich würden die Kosten steigen, wenn die Rekrutierungsphase sehr viel länger ginge.
Keine genetischen Daten der Kinder
In die Schlagzeilen geraten ist Sesam vor allem wegen eines Teilprojektes. Wissenschaftler der Universität Basel wollten im Erbgut der Kinder nach genetischen Veränderungen suchen, die eine psychische Krankheit auslösen könnten. Die Ethikkommission beider Basel entschied jedoch vor einem Jahr, dass derartige genetischen Analysen bei Minderjährigen nicht zulässig seien. Erst wenn die Teilnehmer die Volljährigkeit erreicht haben, können sie - nach eigenem Ermessen - ihre Daten den Forschern zur Verfügung stellen, beschied die Ethikkommission. Jürgen Margraf bezweifelt, dass die Schwangeren aus ethischen Bedenken die Teilnahme verweigerten. Denn: «Etwa 90 Prozent der Angefragten hatten noch nie etwas von dem Forschungsschwerpunkt Sesam gehört.»
sesaminput - 7. Mär, 09:54
Langzeitsudie über die Erbsubstanz von Einwohnern der Schweiz
von Dr. Armin Hofmann
Die mehrere tausend Menschen umfassende Langzeitstudie «Sesam» (Swiss Etiological Study of Adjustment and Mental Health) will systematisch Daten über das Erbgut von Einwohnern der Schweiz sammeln. Gegenstand der Studie sind Familien, vom Neugeborenen und seinen Eltern bis zu den Grosseltern, an denen Zusammenhänge zwischen genetischer Veranlagung, Umwelteinflüssen und psychischen Störungen untersucht werden sollen. Unter Fachleuten bestehen erhebliche ethische und rechtliche Bedenken; sie haben Zweifel am wissenschaftlichen Wert der Studie und befürchten einen Missbrauch genetischer Daten. Einige warnen vor neuen Formen der Bevölkerungskontrolle durch Eugenik (Erbgesundheitsforschung zur Ausschaltung erbschädigender Einflüsse). – Derzeit läuft die Studie mit der Rekrutierung schwangerer Frauen für die Studie in Basel an.
Ursprünglich sollten es 15 000 Versuchsteilnehmer sein, die 20 Jahre lang untersucht und beobachtet werden. Unter dem Druck der Öffentlichkeit musste die Studie jedoch stark eingeschränkt werden. Geblieben sind 1500 Kinder ab der 20. Schwangerschaftswoche bis zum 20. Lebensjahr sowie 4000 Eltern und Grosseltern, an denen das Zusammenwirken von sozialen, psychischen und genetischen Faktoren beim Entstehen psychischer Erkrankungen untersucht wird – mittels Ultraschall, Speichel-, Blut- und Urinproben, Tests zur geistigen und körperlichen Entwicklung, Interviews und Fragebögen.
Ethisch fragwürdig ist die Studie, weil sie – für den Fall, dass sich eine psychische Störung offenbart – dem Notleidenden keine Hilfe bietet. Sie macht ihn zum Untersuchungsobjekt und instrumentalisiert ihn für Forschung und Profit.
Keiner weiss so richtig, was Sesam eigentlich soll, nicht einmal die Wissenschafter selbst, denn es handelt sich um eine nicht-Hypothesen-geleitete Studie, die per Zufall etwas herausfinden will durch den Aufbau einer riesigen Datenbank. Entsprechend dürftig wird die Öffentlichkeit informiert, die grösstenteils für die Kosten aufkommt.
Träger der Studie ist der Schweizerische Nationalfonds, der das zum nationalen Forschungsschwerpunkt erklärte Projekt massgeb lich finanziert, und zwar mit 10,2 Millionen Schweizer Franken während einer ersten Phase bis 2009. Weitere Mittel in Höhe von 12,5 Millionen Franken werden von der Universität Basel, dem Stammhaus der Studie, von privaten Stiftungen und von der Wirtschaft beigesteuert; unter anderem 6 Millionen vom Pharma-Konzern Hoffmann La Roche.
Wie man zweifelhafte Studien «an den Mann» bringt
Anlass der seit 2005 in Planung befindlichen Mammut-Studie sei «der rapide Anstieg von psychisch bedingten Krankheiten (wie Ängsten, Depressionen, Sucht oder Jugendgewalt)», so der Leiter des Projekts, Professor Jürgen Margraf von der Uni Basel. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) würden Depressionen bis zum Jahr 2020 die zweithäufigste Ursache für gesundheitliche Beeinträchtigungen sein. Um Depressionen, Angst- oder Suchterkrankungen wirksam vorbeugen und behandeln zu können, fehle es jedoch am nötigen Wissen, behauptet Margraf.
Offensichtlich soll die Öffentlichkeit mit PR-Lügen und Halbwahrheiten über den wahren Zweck der Studie hinweggetäuscht werden. Tatsache ist, Psychologie und Psychotherapie verfügen heute über ein differenziertes Verständnis von Depressionen, Ängsten und Suchtkrankheiten, und es ist durchaus möglich, diese erfolgreich zu behandeln. Das wird jedoch nicht gesagt. Denn in Wirklichkeit geht es darum, biotechnologische, medikamentöse Verfahren zu entwickeln, von denen sich die Pharma-Konzerne Milliardengewinne erhoffen.
Wie die Öffentlichkeit durch PR-Lügen in Kriege gelogen wird,1 angeblich zum Schutz der Demokratie, so werden ihr zweifelhafte Forschungen verkauft, als Schutz vor psychischen Krankheiten. Oder als wohlschmeckender Sesam-Riegel für die Gesundheit. – In Wirklichkeit steckt mehr dahinter.
Wissenschaftlicher Irrglaube
Der Sesam-Studie liegt der Irrglaube zugrunde, dass soziale und psychische Störungen durch unsere Gene bestimmt oder beeinflusst seien. Von allgemeinen Persönlichkeitsmerkmalen bis zu Depressionen, Ängsten, Sucht und Jugendgewalt wird behauptet, sie hätten eine familiär ererbte genetische Grundlage.
Dieser Irrglaube war es, auf dem die unmenschliche Eugenik des 20. Jahrhunderts aufbaute.2 Wollte man früher an den Formen der Ohren die Erbanlage zu Alkoholismus, Depression und Kriminalität ablesen, so sucht man sie heute – in den Genen.
Der Mensch wird nicht mehr als Mensch in seinen sozialen Beziehungen wahrgenommen, sondern als isolierter, entseelter Träger von Krankheitssymptomen, die mit Hilfe gentechnologischer oder medikamentöser Verfahren kostengünstig und effizient beseitigt werden sollen.
Ausdruck davon ist der 1991 überarbeitete Diagnoseschlüssel ICD-10 (International Classification of Diseases) der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der eine Vielzahl von Krankheitssymptomen klassifiziert, die – unter dem Druck verknappter Mittel – durch standardisierte, kostengünstige Verfahren behandelt werden müssen. Immer mehr, so der Zürcher Psychiater und Psychotherapeut Berthold Rothschild, rückt die Frage in den Vordergrund, wie die Diagnose nach ICD-10 lautet, anstatt zu fragen, was im Patienten vorgeht, was ihn oder sie quält.
Die heilende Beziehung zwischen Arzt und Patient, die auf einem mitfühlenden Erforschen des inneren Erlebens aufbaut, wird auf ein Minimum reduziert und durch eine angeblich zeit- und ressourcensparende Behandlung mit Medikamenten ersetzt. So sei in den vergangenen Jahren eine grundsätzliche Tendenz zur Medikalisierung psychischer Störungen entstanden, die mit der Suche nach den genetischen Grundlagen seelischer Erkrankungen Hand in Hand gehe.4
Rechtlich fragwürdig
Die zweifelhafte Verknüpfung von erbgenetischen mit psychologischen Daten war es auch, die zum Stein des Anstosses wurde. Verfassungsrechtlich umstritten ist, ob die sogenannte fremdnützige Forschung, die den Untersuchten nicht unmittelbar Hilfe bringt, überhaupt zulässig ist. Sesam beruft sich auf das «Europäische Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin» (Bioethik-Konvention, 1997), übergeht dabei aber, dass das Abkommen bislang von der Schweiz nicht ratifiziert wurde. Der Studie fehlt also die rechtliche Grundlage.
Auch das so genannte Humanforschungsgesetz, das die umstrittene Forschung an Nichteinwilligungsfähigen – an Ungeborenen und Kindern – auf nationaler Ebene regeln soll, ist noch nicht verabschiedet. Die Vernehmlassung war nicht einmal abgeschlossen, da hatte der Bundesrat das Sesam-Projekt bereits bewilligt. Frühestens im Jahr 2008 wird im Parlament über das Humanforschungsgesetz debattiert, so dass mit einem Inkrafttreten vor 2010 nicht zu rechnen ist.
Der Eindruck entsteht, dass mit Sesam Fakten geschaffen werden, noch bevor die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen existieren. Auf diese Weise soll die Politik unter Druck gesetzt werden, damit die entsprechenden Gesetze im Eiltempo durchgepaukt werden können. Zweifel an der Studie werden mit Worten heruntergespielt wie: «Untersuchungen an Erwachsenen und Kindern sind Alltag. In der Pädagogik, der Pädiatrie und eben in der Entwicklungspsychologie haben solche Studien eine lange Tradition.» (Margraf, «Südostschweiz» vom 25. März)
So wird die Öffentlichkeit mit PR-Lügen in die Irre geführt. Denn es stimmt nicht, dass die systematische Untersuchung von genetischem Material an nicht einwilligungsfähigen Ungeborenen und Kindern «eine lange Tradition» hat. Sie ist relativ neu und für die Schweiz absolut einzigartig.
Ethisch zweifelhaft
Auch die brisanten ethischen Fragen, die mit Sesam verbunden sind, sind bei der Konzipierung der Studie übergangen worden. Dennoch hat der Bundesrat die Untersuchungen bewilligt. Deshalb sammelte der «Basler Appell gegen Gentechnologie» 12 000 Unterschriften Sesam-kritischer Bürger. Mit Erfolg. Die Ethikkommission beider Basel (EKBB) bewilligte in der Folge das Sesam-Projekt zwar, aber nur unter strengen Auflagen.
Sie lehnt die Entnahme und Untersuchung der genomischen DNA bei Versuchspersonen vor Erreichen der Mündigkeit grundsätzlich ab. Die Offenbarung sensibler genetischer Informationen könne ein Kind ein Leben lang belasten, wenn es erfährt, dass es eine genetische Veranlagung zu einer unheilbaren Krankheit hat. Das verletze die Verpflichtung zur Wahrung des Kindeswohls, ebenso den allgemeinen Persönlichkeitsschutz.
Die EKBB verlangt daher eine unabhängige Begleitstudie, welche die negativen psychischen Folgen der Studie untersucht. Sie fordert eine unentgeltliche Anlaufstelle, um Teilnehmer zu schützen. Verlangt wird auch, dass das Untersuchungspersonal im Umgang mit psychischen Krisen geschult wird, die im Verlauf der Studie auftreten können.
Strategischer Winkelzug
Roche wollte – ob des Entscheids der EKBB – die zugesagten Millionen zurückziehen, die Sesam-Verantwortlichen sahen das Projekt gefährdet. Da griffen sie in die Trickkiste und erdachten sich einen neuen Forschungsschwerpunkt für die Studie: Nicht die DNA an sich solle genetisch bestimmt werden, vielmehr wolle man die epigenetische Wechselwirkung zwischen Umwelt und Genen untersuchen; denn durch bestimmte umweltbedingte, psychosoziale Einflüsse, so die Vermutung, können Gene ein- oder ausgeschaltet werden, wodurch Krankheiten entstehen.
Ob genetisch oder epigenetisch, der Zweck der Studie ist derselbe geblieben: Erkenntnisse zu gewinnen, um Verfahren und Medikamente zu entwickeln, die auf der genetisch-biologischen Ebene ansetzen und nicht bei den psychosozialen Ursachen von Depressionen und anderen seelischen Leiden. Menschen sollen medikamentös ruhiggestellt werden, ohne dass die Ursachen im gesellschaftlichen, psychosozialen Umfeld ins Auge gefasst werden.5
Nun ist die EKBB im Juli dieses Jahres zurückgekrebst und hat entgegen den ursprünglichen Auflagen – Verzicht auf Entnahme und Untersuchung des Erbguts von Neugeborenen – den Abstrich von Mundschleimhaut (Speichelprobe) unmittelbar nach der Geburt erlaubt, was die Bestimmung der DNA doch möglich macht, durch die Hintertür sozusagen. Die Proben müssen aber in einer unabhängigen Biobank verwahrt werden; wobei sich die EKBB vorbehält, ihr Veto einzulegen, je nachdem, was die Sesam-Forscher damit machen. Genetische und epigenetische Untersuchungen sind nämlich kaum voneinander zu trennen.
Die Probleme mit den Biobanken sind hinlänglich bekannt. Gesetzliche Regelungen gibt es keine, und der Persönlichkeitsschutz wird nur selten gewahrt. Biobanken unterliegen keiner unabhängigen Kontrolle, sie unterstehen vielmehr der Selbstkontrolle durch die Betreiber. (Die Volkswirtschaft, Magazin für Wirtschaftspolitik 7/8, 2006, S. 48) Dem Missbrauch sind also Tür und Tor geöffnet.
Diskriminierung Kranker
Gefährlich sind auch die sozialen und gesellschaftlichen Folgen der Studie. Sesam will sogenannte Risikoprofile für bestimmte Krankheiten erstellen. Ab Anfang 2009 will der Bund die elektronische Versichertenkarte für alle Menschen in der Schweiz einführen, auf der vorerst nur die administrativen Daten – aller Einwohner der Schweiz – gespeichert werden.
Laut Mitteilung des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) soll es jedoch möglich sein, Zusatzangaben über aktuelle Krankheiten, Unfallfolgen oder Allergien freiwillig auf der Karte zu speichern. Nicht auszuschliessen ist, dass früher oder später auch Daten gespeichert werden müssen, welche die von Sesam avisierten psychogenetischen Risikoprofile betreffen. Dann kann es passieren, dass Patienten von Versicherungsgesellschaften aufgefordert werden, verfügbares Wissen über genetisch bedingte Erkrankungsrisiken offenzulegen. Das kann zu einer Erhöhung der Prämien oder zum Ausschluss aus der Versicherung führen, was diskriminierend ist und die solidarische Haftung aller Versicherungsnehmer für die Kranken untergräbt.
Neue Formen von Eugenik
Zu befürchten ist auch, dass die Sesam-Studie neuen Formen der Eugenik den Weg ebnet. Sesam geht von der Annahme aus, dass psychische Störungen (Ängste, Depressionen, Suchterkrankungen) genetisch beeinflusst sind. Zwar haben alle unsere Gefühle, Gedanken und unser Verhalten eine biochemische Grundlage; dennoch sind Ängste, Depressionen und Suchterkrankungen (auch das Abhängigkeitspotential von Suchtmitteln) nicht genetisch bedingt. Der Glaube an die genetische Bedingtheit sozialer, psychologischer Probleme scheint heute jedoch weiter verbreitet zu sein als zur Blütezeit der Eugenik.2
Auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die das Entstehen der Eugenik in den 20er- und 30er-Jahren begünstigten, ähneln denen von heute: militärische Hochrüstung, instabile wirtschaftliche Entwicklung, Börsenkrise, Arbeitslosigkeit. Die Forderung nach wirtschaftlicher Effizienz war damals wie heute ein zentrales Thema, in den USA ebenso wie in Europa. Da bot die Eugenik die Möglichkeit, seelisch und körperlich Kranke, die als wirtschaftliche Belastung angesehen wurden, zu beseitigen, um einen gesunden, leistungsfähigen «Volkskörper» entstehen zu lassen.
Mit der gegenwärtigen Verfügbarkeit von genetischen Tests und Fruchtwasseruntersuchungen hat bereits eine Art «Laissez faire»-Eugenik (Philip Kitcher) Einzug gehalten. Infolge des zunehmenden Drucks von Wirtschaft und Politik auf Familien, Risiko-Nachwuchs nicht zu kriegen bzw. abzutreiben, werden reproduktive Entscheidungen in bezug auf genetische Defekte schon heute durchgesetzt. Es handelt sich um eine Art «Eugenik durch die Hintertür» (Troy Duster). Dabei stellt sich die Frage, ob wirtschaftlicher Druck oder der Druck der öffentlichen Meinung so viel anders oder weniger heimtückisch ist als der staatliche Druck diktatorischer Regime?2
Akademisch-industrieller Komplex
Hinter Sesam offenbart sich ein akademisch-industrieller Komplex aus Pharma-Konzernen, Hochschulen und eine vom Nationalfonds gelenkte Wissenschaftspolitik, welche die öffentliche Hochschulforschung privatwirtschaftlichen und politischen Interessen unterstellt (BFT-Botschaft 2004–2007). Deshalb werden vor allem Forschungsvorhaben gefördert, die politisch und wirtschaftlich effizient scheinen; wirtschaftlich, insofern sie horrende Gewinne für die Konzerne abwerfen, politisch, indem sie psychosoziale Probleme – gemäss New Public Management – angeblich kostengünstig verwalten helfen.
Die Schweiz gilt als geradezu prädestiniert für Sesam, so Dieter Imboden, Präsident des Forschungsrates des Schweizerischen Nationalfonds, und zwar wegen des zuverlässigen Meldewesens, wegen der stabilen Bevölkerungssituation und wegen der guten Verfügbarkeit pränataler Diagnostik. Hinzu kommt, dass die Schweiz in Sachen Eugenik (Erbgesundheitsforschung) historisch nicht belastet ist, ganz im Gegensatz zu Deutschland, wo infolge der grauenvollen Nazi-Experimente eine solche Massenuntersuchung mit genetischen Daten kaum durchsetzbar wäre. Deshalb hat sich das von ausländischen Gutachtern aus Grossbritannien, Deutschland und den USA dominierte Gremium des Schweizerischen Nationalfonds auch für den Standort Schweiz entschieden.
Und Basel bietet die besten Voraussetzungen dafür, nicht zuletzt wegen der Nähe universitärer Forschung zur Pharmaindustrie, die solche Gen-Studien äusserst schätzt und grosszügig Geld gibt. Denn hier winkt das grosse Geschäft der Zukunft. «Die Konzepte […]», so die Erklärung des Pharma-Konzerns Roche, der hinter Sesam steht, «stimmen völlig überein mit den Langzeitstrategien von Schweizer pharmazeutischen Firmen wie Novartis und Roche […], die zum Ziel haben, neue therapeutische Ansätze zu bestimmen, um Menschen mit psychischen Krankheiten und Verhaltensstörungen zu helfen.»3 Da Beratung und Psychotherapie usw. angeblich zu langwierig und zu teuer seien, müssten sie durch effizientere ersetzt werden, und zwar durch gentechnologische Verfahren oder durch Medikamente, welche auf molekulare Abläufe im Gehirn Einfluss nehmen.
Eigens dafür wurde am Psychologischen Institut der Universität Basel ein Lehrstuhl für «Molekulare Psychologie» geschaffen, der mit Professor Andreas Papassotiropoulos besetzt wurde. Papassotiropoulos war von 2000–2004 Group Leader für Clinical Genetics in der Abteilung für Psychiatrische Forschung der Uni Zürich. Im Rahmen des Sesam-Projekts leitet er die Studien über den Zusammenhang zwischen genetischen Faktoren und der Entwicklung psychischer Erkrankungen.
Missbrauch vorprogrammiert
Mit Hilfe von Sesam soll eine gigantische Datensammlung über biologische Eigenschaften von mehreren tausend Menschen angelegt, und vielfältige psychologische und soziologische Daten sollen damit verknüpft werden. Diese Daten können in beliebige, ökonomisch und politisch opportune Zusammenhänge gebracht werden und für den Einzelnen wie für die Gesellschaft heute nicht voraussehbare Konsequenzen haben. Eine gigantische Datenbank mit Informationen von Tausenden von Menschen stelle eine grosse Versuchung dar, so der Sesam-kritische Basler Appell, der deshalb fordert: Keine Gen-Forschung an Menschen, bevor die ethischen und rechtlichen Zweifel ausgeräumt sind und die grosse Gefahr des Missbrauchs gebannt ist!3
In Basel hat man im Oktober begonnen, schwangere Frauen für die Studie zu rekrutieren. An den Hochschulen in Zürich, Bern, Lausanne und Genf wird man voraussichtlich erst nächstes Jahr mit der Suche nach Studienteilnehmer(innen) beginnen können. Ob dann allerdings die Ethik-Kommissionen die Studie in den anderen Kantonen durchwinken, ist fraglich.
Inzwischen kommt Widerstand von Bürgerinnen und Bürgern. Von Wissenschaftern, Ärzten und Intellektuellen wird gefordert, vereinfachten genetischen Erklärungen für soziales Verhalten, wie sie der Sesam-Studie zugrunde liegen, entgegenzutreten, sowohl in fachlichen wie auch in populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen.
Bürgerinnen und Bürger verlangen berechtigterweise Transparenz in Sachen Sesam, denn schliesslich wird die Studie zu einem Grossteil mit öffentlichen Mitteln finanziert.6 In der Debatte um die elektronische Gesundheitskarte setzen sie sich für ein Krankenversicherungssystem ein, das nicht diskriminiert, sondern Menschen mit Risikoprofilen schützt. Sie verlangen auch eine Abkehr von der neoliberalen Globalisierungsdoktrin, die nur zu mehr Krieg, verknappten Ressourcen, verschärfter Konkurrenz und Entsolidarisierung der Gesellschaft führt. So soll verhindert werden, dass gesellschaftspolitische und wirtschaftliche Bedingungen entstehen, unter denen Bevölkerungskontrolle und eugenische Lösungen einmal mehr als akzeptabel angesehen werden.2 •
1 Tobias Salander: Rezension von Becker/Beham «Operation Balkan: Werbung für Krieg und Tod» – Oder über die Kolonialisierung der Medien durch die PR-Industrie. In: Zeit-Fragen Nr. 8 vom 27.2.2007
2 Allen, Garland E.: Genetik, Eugenik und die Medikalisierung des sozialen Verhaltens: Lehren aus der Vergangenheit. In: Endeavour, Bd. 23(1), 1999
3 Sesam-Riegel für das seelische Wohlbefinden, www.baslerappell.ch; siehe auch www.sesam swiss.ch, sesam.twoday.net
4 Rothschild, Berthold: Viadukte über das Jammertal Psychiatrie. Analysieren wollen und können viele, mitfühlen und nachempfinden nur wenige. «Neue Zürcher Zeitung», 13.1.2007, abgedruckt in Zeit-Fragen am 3.4.2007
5 Vogel, Benno: Die Seele im Gewebe suchend, in: Die Wochenzeitung 37/13.9.2007, Seite 27
6 Siehe: www.baslerappell.ch; www.sesamswiss.ch, sesam.twoday.net
Nationalrat öffnet fremdnütziger Forschung die Tür
Anfang Oktober genehmigte der Nationalrat das «Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin» des Europarats. Der Basler Appell gegen Gentechnologie kritisiert die Vorlage schon seit Jahren. Zu hoffen ist, dass der Ständerat [in der aktuellen Wintersession 2007, Anm. der Red.] die Notbremse ziehen wird.
Im Europäischen Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin werden erstmals auf internationaler Ebene die wichtigsten Grundsätze in den Bereichen Einwilligung in medizinische Eingriffe, Schutz der Privatsphäre, Genetik, Organ entnahme für Transplantationszwecke und medizinische Forschung verbindlich geregelt. Das Übereinkommen, kurz auch «Bioethikkonvention» genannt, trat 1999 in Kraft. Doch wegen seiner zu liberalen Grundsätze wurde es bis heute von Staaten wie Deutschland, Frankreich, Italien und Österreich nicht ratifiziert.
Vorschnelle Ratifizierung
In der Schweiz soll sich dies nun ändern. Der Nationalrat folgte Anfang Oktober der Empfehlung der vorbereitenden Kommission und befürwortete eine vorschnelle Ratifizierung mit 121 zu 17 Stimmen. Damit wird der fremdnützigen Forschung an nichteinwilligungsfähigen Menschen hier in der Schweiz der Weg geebnet. Dies ist insofern nur schwer nachzuvollziehen, als die nationale Gesetzgebung zum Thema noch in den Kinderschuhen steckt. Die Vernehmlassung zum Humanforschungsgesetz ist erst gerade abgeschlossen.
Öffentliche Diskussion nötig
Geht es nach dem Nationalrat, soll das Pferd nun von hinten aufgezäumt werden. Anstelle der dringend notwendigen öffentlichen Debatte darüber, auf welche ethischen Standards man sich in der Schweiz festlegen will, sollen nun Fakten geschaffen werden, die durch die Hintertür einen Paradigmenwechsel einleiten. Denn mit der Befürwortung der Bioethik konvention wird besonders schutzwürdigen Menschen wie Behinderten oder Kindern das Grundrecht auf Unversehrtheit abgesprochen. Eine Sistierung des Geschäfts ist aus der Sicht des Basler Appells gegen Gentechnologie unabdingbar, damit eine öffentliche Diskussion lanciert werden kann. Nur so ist es möglich, dass die Debatte um die Forschung am Menschen in der Schweiz auch wirklich geführt wird.
Abstimmung im Frühjahr 2009
Erst kürzlich wurde die Botschaft, vorerst nur zum Verfassungsartikel über die Forschung am Menschen, veröffentlicht. Dies bedeutet, dass die Vorlage über kurz oder lang in den Räten beraten werden wird. Geht es nach dem Bundesrat, so soll der Verfassungsartikel bereits im Frühjahr 2009 vor das Volk kommen. Das Humanforschungsgesetz allerdings braucht etwas mehr Zeit. Der Gesetzesentwurf wird zur Zeit überarbeitet, geplant ist die Botschaft auf Ende 2008.
Schiebt Ständerat einen Riegel?
Wichtige ethische Grundwerte dürfen nicht unüberlegt und im Eilzugtempo untergraben werden. Es bleibt zu hoffen, dass die Kleine Kammer ein Einsehen hat und der Ratifizierung der Bioethikkonvention im letzten Moment den Riegel schiebt. Damit bliebe der Weg frei für eine intensive und vor allem ehrliche Diskussion des Wegs, den die Schweiz in Bezug auf die fremdnützige Forschung an Urteilsunfähigen einschlagen will.
Quelle: Aha! Rundbrief des Basler Appells gegen Gentechnologie 5/2007
Bioethikkonvention – Paradigmen wechsel durch die Hintertür
Fremdnützige Forschung an Nichteinwilligungsfähigen?
Was Deutschland, Frankreich, Italien und Österreich abgelehnt haben, dem soll nun die Schweiz den Weg ebnen? Ratifiziert die Schweiz die Bioethikkonvention des Europarates, sinkt das Schutzniveau zum Beispiel für Ungeborene, Kleinkinder oder Alzheimer-Kranke in unserem Land. Der Nationalrat befürwortete Anfang Oktober mit 121 zu 17 eine übereilte Ratifizierung des Abkommens. Nun liegt alle Hoffnung auf dem Ständerat, der in Woche zwei der Wintersession 2007 dieses Geschäft behandelt. Lehnt er ab, bleibt die Chance gewahrt auf eine «ehrliche und offene Diskussion des Wegs, den die Schweiz in bezug auf die fremdnützige Forschung an Urteilsunfähigen einschlagen will.»
(Siehe Kasten: «Nationalrat öffnet fremdnütziger Forschung die Tür»)
Wie mit PR-Kampagnen «Sesam» der Öffentlichkeit verkauft wird
Eine junge schwangere Frau mit einem Kind an der Hand, gekleidet in ein eng anliegendes rotes T-Shirt mit Schweizerkreuz wirbt für Sesam. Jung, dynamisch, national. Schliesslich liege ihr die Gesundheit ihrer Kinder am Herzen, so die Aussage des Hochglanzprospekts. Dabei geht es um fremdnützige Forschung an Einwilligungsunfähigen (siehe Kasten: «Nationalrat öffnet fremdnütziger Forschung die Tür»). So soll Müttern weisgemacht werden, dass die Teilnahme an Sesam der Gesundheit ihrer Kinder etwas bringt.
Beauftragt mit der PR-Kampagne wurde die Agentur Opcon Communications von Regensberg ZH, die laut eigener Aussage spezialisiert ist auf «Marketing communication campaigns» oder: wie man mit «value-creating mechanisms» zweifelhafte Produkte, dazu gehören auch Forschungsvorhaben, der Öffentlichkeit als etwas Gutes verkauft.
sesaminput - 10. Dez, 17:25
Es geht los: Das Forschungsprojekt Sesam startet Anfang Oktober. Gesucht werden schwangere Frauen; Andrea Masek stellt die Fragen.
Wie nun genau Teilnehmerinnen und Teilnehmer für das Nationale Forschungsprojekt Sesam gewonnen werden, erklärt der stellvertretende Direktor Alexander Grob.
Herr Grob, wann und wo geht es mit Sesam los?
Alexander Grob: In Basel im Oktober. In der Universitäts-Frauenklinik knüpfen wir den ersten Kontakt zu schwangeren Frauen. In der Regel lassen Schwangere in der zehnten bis zwölften Woche einen ersten Ultraschall machen. Der untersuchende Arzt oder die Ärztin machen sie dort darauf aufmerksam, dass das Spital Sesam unterstützt. Der Frau wird gesagt, sie könne mit einer Sesam-Kontaktperson im Spital sprechen. Diese werde sie darüber informieren, was Sesam ist. Willigt sie ein, werden in standardisierter Form erste Informationen zu Sesam gegeben.
Was meinen Sie mit standardisierter Form?
Grob: Alle Sesam-Mitarbeiterinnen werden so geschult, dass sie die Teilnehmerinnen einheitlich aufklären können. Beim Erstkontakt wird vorab geklärt, ob die Sprachkenntnisse ausreichen. Danach gibt es generelle Informationen über Studie, Ablauf und Untersuchungszeitpunkte.
Überfährt man damit die Frauen nicht etwas?
Grob: Keineswegs, es steht der Frau ja frei, mit der Kontaktperson zu sprechen. Anschliessend an das Gespräch wird die ausführliche Informationsbroschüre für Studienteilnehmende abgegeben, ebenso das Heft mit der Einverständniserklärung. So bekommen die interessierten Frauen und ihre Angehörigen Gelegenheit, sich zu Hause in Ruhe alles anzuschauen. Sie können auch jederzeit ihre Kontaktperson anrufen und Fragen klären.
Wer sind diese Kontaktpersonen?
Grob: Es sind alles Psychologinnen, die extra für diese Gespräche ausgebildet worden sind.
Wie lange geben Sie den Frauen Zeit, sich zu entscheiden?
Grob: Vier bis sechs Wochen. Nehmen die Frauen in diesem Zeitrahmen nicht selber Kontakt auf, rufen wir sie an. Sagen sie ja, laden wir sie zu einem Gespräch ein. Hier werden alle Punkte der Einverständniserklärung nochmals gemeinsam besprochen. Somit wird sichergestellt, dass sie genau wissen, welchen Risiken sie sich aussetzen.
Welchen Risiken setzt sie sich denn aus?
Grob: Unseres Wissens im psychologischen Bereich keinen. Dafür haben wir weltweit die Verantwortlichen von grossen Studien persönlich angeschrieben. Wir fragten, ob die Teilnehmenden irgendwelchen direkten oder indirekten Schaden genommen haben. Alle sagten sie nein. Wir sprechen hier dennoch von Risiken, um zu verdeutlichen, dass es sich hier um eine Studie handelt und nicht um eine individuelle psychologische Betreuung, bei der die Frau Hilfe für ihre persönlichen Probleme erhält. Das gehen wir mit den Teilnehmerinnen nochmals genau durch, bevor sie die Einwilligung unterschreiben. Wir halten uns dabei an internationale Standards.
Einmal unterschrieben, ist ein Ausstieg möglich?
Grob: Ja, der Ausstieg ist jederzeit und ohne einen Nachteil für die Frau möglich.
Für Ihre Studie brauchen Sie ja nicht nur Frau und Kind, sondern auch Partner und Grosseltern. Wie gewinnen Sie diese?
Grob: Die Frauen werden beim zweiten Gespräch gefragt, ob sie bereit sind, die Adressen ihres Partners/Mannes anzugeben wie auch jene ihrer Eltern und Schwiegereltern. Wir nehmen folglich Kontakt auf und erläutern ihnen die Studie.
Was ist, wenn sie nicht wollen?
Grob: Wir lassen sie wissen, dass wie auch immer sie sich entscheiden, es keine Konsequenzen für ihre Tochter/Schwiegertochter hat. Die Frau kann trotzdem teilnehmen.
Das würde aber bedeuten, dass wichtige Daten für Ihre Studie, die auf drei Generationen aufbaut, nicht gewonnen werden können.
Grob: Richtig, die Daten sind dann nicht vollständig. Aber wir lassen auch die Möglichkeit offen, dass jemand nur an bestimmten Fragestellungen mitmacht. Wenn jemand sagt, bei allem, was mit Biologie zu tun hat, möchte ich nicht mitmachen, akzeptieren wir das.
Im Vorfeld von Sesam ist immer wieder die nicht einholbare Zustimmung der Kinder diskutiert worden. Wer entscheidet nun über das Kind?
Grob: Eigentlich könnte die Mutter alleine darüber entscheiden. Doch wir haben beschlossen, wir wollen die Einwilligung sowohl der Mutter wie des Vaters.
Wie und wann werden die ersten Daten erhoben?
Grob: Bei Frau und Kind in der 20. Schwangerschaftswoche. Es folgen Untersuchungen in der 32. Woche. Der Vater wird ebenfalls in der 20. Woche befragt. Die Grosseltern haben in der 32. Woche einen ersten Untersuchtungstermin.
Was genau wird bei der Frau beim ersten Mal gemacht?
Grob: Bei Frau und Kind sind es Untersuchungen im Rahmen der medizinischen Routine. Bei der Frau werden Blut, Urin und Speichel genommen. Im Speichel und Urin kann man feststellen, wie stark die Person belastet ist. Die Frau wird zudem befragt und erhält auch Fragebögen.
Was wollen Sie in den Fragebögen wissen?
Grob: Wie sieht die Tagesorganisation aus? Wie ist sie jetzt, wie war das am Anfang der Schwangerschaft? Welche Vereinbarungen gibt es zwischen den Partnern? Wir fragen auch nach der Zukunft, dem möglichen Wiedereinstieg etc. Wir wollen wissen, wie sie ihren Alltag erlebt, wie das soziale Umfeld reagiert? Im Interview gehts um ihren psychischen Zustand, um psychische und medizinische Symptome und die soziale Situation.
Symptome?
Grob: Zum Beispiel, ob sie durchschläft oder ob Einschlafprobleme bestehen. Es ist ein klinisches Interview. Gefragt wird auch nach Medikamenten, Essverhalten etc.
Reden wir hier von Frau und Mann?
Grob: Ja, beim Mann werden die gleichen Untersuchungen und Befragungen gemacht.
Mit wie vielen Teilnehmenden rechnen Sie?
Grob: Das ist eine schwierige Frage. Als wir die Studie planten, taten wir dies aufgrund von Auftretenshäufigkeiten von bestimmten psychischen Erkrankungen. Wir wissen aufgrund von epidemologischen Studien, dass im frühen Erwachsenenalter ein gewisser Anteil der Bevölkerung an einer spezifischen psychischen Krankheit leidet. Rechnet man zurück, brauchen wir eine minimale Zahl von Teilnehmenden, damit die Entwicklungspfade zu dieser Krankheit erst verstanden und wissenschaftlich untersucht werden können. Aufgrund dieser Überlegungen ist die Zielgrösse von 3000 teilnehmden Familien zustande gekommen. Die Kliniken haben uns angegeben, wie viele Frauen pro Jahr zu ihnen für die Vorsorge ab dem ersten Schwangerschaftsdrittel und die Geburt kommen. Für Basel heisst das, wir sollten innert zwei Jahren um die 250 Frauen gewinnen können.
Die vorher Fragen beantwortet haben wollen . . .
Grob: In der Broschüre finden sie sehr viele Fragen, bei denen wir dachten, dass sie gestellt würden. Über den wissenschaftlichen Rahmen der Studie, die beteiligten Forscher, die Belastung, den möglichen Ausstieg etc.
Und kritischere Fragen nach Datenschutz etwa?
Grob: Auch hier geben wir offen Auskunft, wie wir die Daten handhaben. Wie wir die psycho-soziologischen Daten speichern, wie › von diesen getrennt › die biologischen Daten aufbewahrt werden. Es war ja eine der Auflagen der Ethikkommission, die biologischen Daten der Kinder getrennt an einem fremden Ort in einer Biodatenbank aufzubewahren. Die Daten werden dann nicht individuell ausgewertet; es werden keine Rückschlüsse auf einzelne Personen gemacht oder ermöglicht.
Sie mussten ja auch einwilligen, die Daten der Kinder erst zu verwenden, wenn diese selbst ihr Einverständnis geben können.
Grob: Zuerst möchte ich präzisieren: Die psycho-sozialen Daten der Kinder, die in Beobachtungssituationen gewonnen werden, dürfen wir schon jetzt auswerten. Die genetischen Daten, die DNA-Sequenz, dürfen wir erst auswerten, wenn die Kinder ihre Einwilligung gegeben haben. Diese Auflage hat die Ethikkommission gemacht und diese halten wir ein, auch wenn wir dies aus der Perspektive möglichen Erkenntnisgewinns und damit möglichem Nutzens zum besseren Verständnis von Krankheit und Gesundheit bedauern.
Wann wird das Kind denn zum ersten Mal tatsächlich untersucht?
Grob: Nach der Geburt. Die ersten Tage sollen Mutter und Kind aber fast unbelastet bleiben. Wir erfassen nur Minimales: Wir nehmen Speichel vom Kind und es wird der obligate Fersenstich gemacht. In der ersten Lebenswoche heisst das rund 20 Minuten. Die meisten dieser Untersuchungen erfolgen im Rahmen der Spitaltroutine.
Und danach?
Grob: Dann gibt es Erhebungen in der 6. Woche, im 6., 12. und 24. Monat. Nachher werden die Abstände noch grösser, ungefähr bis zum 6. Lebensjahr einmal pro Jahr, danach alle zwei Jahre. Die Veränderungen am Anfang des Lebens sind enorm, deshalb die grössere Frequenz. Die Basisabklärung ist dabei jedes Mal dieselbe. Weiter gibt es aufs Alter bezogene Verhaltungsbeobachtungen, es wird etwa geschaut, wie verhält sich das Kind, wenn die Eltern mit dem Kind spielen.
Verhält sich das Kind nicht anders, wenn ein Fremder dabei ist und sind demzufolge die Beobachtungen nicht verzerrt?
Grob: Kinder erleben viele Situationen, in denen fremde Personen natürlicherweise anwesend sind. Auch die Untersuchungen von Sesam sind eine derartige Situation. Das Kind kommt mit den Eltern zu uns; es spielt beispielsweise in unserem Spielzimmer.
Was müssen respektive dürfen Sie unternehmen, wenn Sie feststellen, dass etwas nicht stimmt?
Grob: Wir haben da klare Vorgaben: Im Kontext eines Offizialdelikts, zum Beispiel eines Miss- brauchs von Mutter oder Kind, wenden wir die gleichen Regeln an wie das Universitätsspital, wir müssen informieren. Liegt eine akute Gefährdung an Leib und Seele einer Person vor, schreiten wir helfend aus berufsethischen Gründen ein. Bei allem anderen können wir nicht direkt einschreiten.
Das tönt ernst. Profitieren die Teilnehmenden auch davon?
Grob: Zum einen gewinnen Mutter und Vater Einblick in die Wissenschaft. Zum anderen drücken sie gegenüber Kind und Eltern eine gewisse Haltung aus. Sie stehen zu etwas. Sie sehen sich als Teil einer grösseren Gemeinschaft, für die sie etwas einbringen. Das Kind wird irgendwann fragen, wieso sie da mitgemacht haben. Die Eltern müssen dann Stellung beziehen. Das ist wie eine Erziehungshaltung. Ich gebe Werte an mein Kind weiter und vertrete diese auch. Ich persönlich hoffe, die Kommunikation in der Familie wird angeregt.
Hoffen müssen Sie auch, dass das Kind › dann vielleicht eine alles ablehnde Jugendliche › einst die Zustimmung zum Gebrauch der Daten gibt.
Grob: Ich bin überzeugt, wenn wir die Kinder, Eltern und Grosseltern fair behandeln, das heisst offen über die Ziele der Studie informieren sowie transparent Einblick in die Untersuchungsanordnung geben, machen sie mit. Die Kinder mögen dann aufmüpfig sein, aber sie werden erkennen, dass sie immer gut behandelt worden sind und über die Freigabe der Daten selber entscheiden. Andere Studien zeigen, dass die Kinder in der Adoleszenz nicht ausgestiegen sind.
«Wenn jemand sagt, alles was mit Biologie zu tun hat, möchte ich nicht mitmachen, akzeptieren wir das.»
«Die genetischen Daten dür- fen wir erst auswerten, wenn die Kinder ihre Einwilligung gegeben haben.»
«Andere Studien zeigen, dass die Kinder in der Adoleszenz nicht ausgestiegen sind.»
sesaminput - 21. Sep, 10:05
Psychologen Stress wegen Stress-Projekt
von Andrea Masek
«Mütter (und Väter) für Studie gesucht!» Dieser Aufruf hängt in diversen Instituten und Seminaren der
Universität Basel. «Wie wichtig ist die Zeit vor der Geburt für die Entwicklung eines Menschen?» wird auf dem Flugblatt gefragt. Um genau diese Frage zu beantworten, führt die Abteilung Klinische Psychologie und Psychotherapie der Fakultät für Psychologie der Uni Basel ein Projekt durch. Und dafür wird um Unterstützung gebeten.
Dieser Aufruf macht stutzig. Die Leser und Leserinnen werden sich zu recht fragen, ob das Ganze mit dem Nationalen Forschungsprojekt Sesam zu tun hat - eine Langzeit-Studie zur seelischen Gesundheit
der Schweizer Bevölkerung. Sesam hat für seine Hauptstudie kürzlich grünes Licht von der Ethikkommission beider Basel bekommen (die bz berichtete). Auch dort sucht man werdende Mütter, deren Partner und die Grosseltern.
Aber erst ab Anfang Oktober und in Basel ausschliesslich in der Frauenklinik des Universitätsspitals, wie der stellvertretende Direktor von Sesam, Alexander Grob, der bz versichert. Er betont, dass die auf den Flugblättern erwähnte Studie «Erfahrungen in Mamas Bauch» mit Sesam nichts zu tun habe, sondern ein davon ganz unabhängiges Projekt sei.
Umstrittene Speichelprobe
Ein Projekt, das der Studienleitung zufolge von der zuständigen Ethikkommission bewilligt worden ist (für eine Stellungnahme war gestern niemand erreichbar). Dies erstaunt, weil die Mütter auf dem Flugblatt unter anderem darum gebeten werden, Haare, Nägel und auch Speichel von sich und dem Baby zu sammeln. Gerade die Speichelprobe war und ist bei Sesam ein höchst umstrittener Punkt. Erst nach strengsten Auflagen durch die Ethikkommission beider Basel, wurde sie bewilligt. Verwendet werden dürfen die (speziell gesicherten) Proben jedoch erst, wenn das Kind erwachsen ist und seine Zustimmung zum Gebrauch gibt. Verwunderlich ist es deshalb nicht, dass sich der «Basler Appell gegen Gentechnologie» zum Projekt «Erfahrungen in Mamas Bauch» äussert- und gleichzeitig gegen Sesam schiesst. Er hat von Anfang an die Sesam-Studie angegriffen und die Speichelprobe ist ihm nach wie vor ein Dorn im Auge. Beim Projekt mit dem, in seinen Worten «naiven Titel» wittert er missbräuchliche Forschungspraktiken der Sesam-Verantwortlichen. In einer Medienmitteilung fragt er: «Ist dies ein verkapptes Sesam-Teilprojekt? Werden auf diese Weise durch die Hintertür zusätzlich Daten gesammelt, die Sesam später zugeführt werden sollen?»
Dem ist nicht so, wie die bz geklärt hat. Der Inhalt der Mitteilung des Basler Appells sei spekulativ und irreführend, heisst es seitens der Sesam-Verantwortlichen. Sie kritisieren auch, dass der Appell einmal mehr die Unbescholtenheit der Forschenden in Zweifel zieht.
Der Basler Appell wird aber auch dieses Projekt der faultät für Psychologie ganz genau unter die Lupe nehmen. Selbst wenn auf dem Flugblatt steht, dass keine genetischen Analysen durchgeführt, sondern
nur verschiedene Stresshormone untersucht würden.
sesaminput - 6. Sep, 14:59
In der aktuellen Nummer berichtet Andrea Strässle von Facts über Sesam:
Kinder unter Beobachtung: Was braucht der Mensch für eine gesunde psychische Entwicklung?
Schweizer Wissenschaftler wollen 3000 Kinder samt Eltern und Grosseltern 20 Jahre lang intensiv ausforschen. Sie stossen auf heftigen Widerstand.
Stellen Sie sich vor: Es beginnt, als Sie sich, gerade mal 15 Zentimeter gross, im Mutterbauch räkeln. Forscher beugen sich über Ultraschallbilder von Ihnen, lauschen Ihren fötalen Herztönen. Später werden Sie Jahr für Jahr vermessen, untersucht, auf Herz und Hirn getestet. Während Sie dem ersten Schultag entgegenzittern, den ersten Liebeskummer durchleiden, ins Berufsleben einsteigen, werden Sie beobachtet, werden Essgewohnheiten, Fernsehkonsum und Sozialkompetenz säuberlich notiert. Nein, es geht weder um eine neue Big-Brother-Staffel noch um ein Sequel zum Film «The Truman Show». Das Szenario umschreibt das Schweizer Grossprojekt Sesam, das diesen Sommer starten soll. Psychologen, Neurowissenschaftler, Soziologen, Mediziner und Biologen wollen während 20 Jahren die gesundheitliche Entwicklung von 3000 Kindern ab der 20. Schwangerschaftswoche, von deren Eltern und Grosseltern verfolgen. Die Forscher treibt eine drängende Frage: Was braucht der Mensch für eine gesunde psychische Entwicklung?
Laut Weltgesundheitsorganisation werden Depressionen bis 2020 der zweithäufigste Grund vorzeitiger Sterblichkeit und massiver Lebensbeeinträchtigung sein. «Die Wahrscheinlichkeit, im Laufe des Lebens an einer psychischen Störung zu erkranken, liegt hier zu Lande bei 49 Prozent», sagt Sesam- Direktor Jürgen Margraf, Psychologe an der Universität Basel, Sesams Mutterhaus. Um Depressionen, Angst- oder Sucht– erkrankungen wirksam vorzubeugen und sie optimal zu behandeln, fehlt es an Wissen: Was sind Ursachen und Auslöser? Und vor allem: Was ist es, das die psychisch Gesunden gesund hält?
12 000 Protest-Unterschriften
Diese Wissenslücken will das in seiner Ausrichtung weltweit einzigartige Projekt Sesam füllen: mit Ultraschall, Verhaltensbeobachtungen, Tests zur geistigen und körperlichen Entwicklung, Speichel-, Blutund Urinproben, Interviews und Stapeln von Fragebögen. Wie oft haben Mutter und Säugling Blickkontakt? Wie oft sieht die Grossmutter ihre halbwüchsige Enkelin? Was isst der Bub zum Frühstück? All das könnte eine Rolle spielen und muss folglich protokolliert werden. Studienleiter Margraf hofft auf Daten von 3000 Kindern, 5000 Eltern und 7000 Grosseltern.
Ein derart ehrgeiziges Vorhaben sorgt für Aufregung. Im Laufe der bald zweijährigen Planungsphase schlug Sesam massive Kritik entgegen. Der Basler Appell gegen Gentechnologie sammelte 12 000 Unterschriften gegen das Projekt. «Kinder dürfen nicht zu Forschungsobjekten gemacht werden», hiess es im Petitionstext. «Forschung am Kind, die diesem keinen direkten Nutzen bringt, ist ethisch fragwürdig», sagt Gabriele Pichlhofer vom Basler Appell. Ein Beitrag des Pharmaunternehmens Roche in die Sesam-Kasse machte die Kritiker zusätzlich hellhörig. «Wer garantiert, dass die Daten – unter anderem sensible Erbgutinformationen – nicht plötzlich der Pharmaindustrie in die Hände fallen?», fragt Pichlhofer.
Sesam wird gar vorgeworfen, eine rechtliche Grauzone auszunützen. Das Projekt schaffe ein Präjudiz für das Humanforschungsgesetz, das unter anderem die Forschung an Kindern auf Bundesebene regeln will. Das Gesetz war letztes Jahr in der Vernehmlassung und dürfte frühestens 2010 in Kraft treten. Bis dahin lässt sich unter Juristen trefflich streiten, ob und unter welchen Bedingungen die so genannte drittnützige Forschung am Kind, wie Sesam sie plant, erlaubt ist oder nicht.
Bei all der Aufregung ist eines vergessen gegangen: Drittnützige Forschung am Kind ist Alltag in der Schweiz wie im Ausland, seit Jahrzehnten – und ohne dass sich bislang jemand daran gestört hätte. Tatsache ist: Was wir heute an gesichertem Wissen über die Entwicklung von Kindern haben, stammt grösstenteils aus ebensolchen Studien.
Ein Beispiel sind die Zürcher Langzeitstudien, die bislang bedeutendste Langzeituntersuchung zur kindlichen Entwicklung im deutschen Sprachraum: Seit 1954 untersuchen Wissenschaftler an über 700 Kindern die Entwicklung von der Geburt bis ins Erwachsenenalter. Protokollierten die Forscher am Anfang nur das Wachstum, kamen später auch Motorik, Sprache, Kognition, Blasen- und Darmkontrolle sowie das Schlafverhalten hinzu.
Der Erzieher der Nation
Während über drei Jahrzehnten leitete der Zürcher Kinderarzt Remo Largo das Projekt. Die Forschungsergebnisse speisten seine Bücher «Babyjahre» und «Kinderjahre», die ihn zum Erzieher der Nation machten. Für ihn ist klar: «Ohne die Zürcher Langzeitstudien gäbe es diese Bücher nicht.»
Largos Team zeigte erstmals, wie verschieden sich gesunde Kinder entwickeln. Ob ein Kind mit 11 Monaten schon durch die Stube tapst oder erst mit 17 Monaten gehen lernt, macht es keinesfalls zum Genie oder zum Spätzünder auf Lebenszeit. «Ist die Bandbreite des Normalen bekannt, entlastet das die Eltern von Normvorstellungen und verhindert unnötige erzieherische oder therapeutische Massnahmen», erklärt Largo.
Ein Blick über die Landesgrenze zeigt: Im englischen Sprachraum haben Langzeitstudien an Kindern eine besonders reiche Tradition. Grossbritannien lancierte seine erste nationale Geburtskohortenstudie mit sämtlichen Kindern, die innerhalb einer Märzwoche des Jahres 1946 zur Welt kamen. Sie gehört zu den am längsten laufenden Studien zur menschlichen Entwicklung weltweit. Ihre Ergebnisse prägen das britische Gesundheitswesen bis heute.
Auch die USA erkannten früh das Potenzial derartiger Entwicklungsstudien. Im Collaborative Perinatal Project (CPP) wurden zwischen 1959 und 1965 über 40 000 werdende Mütter rekrutiert und schon während der Schwangerschaft untersucht. Die Liste der Ergebnisse ist lang. Über 400 wissenschaftliche Veröffentlichungen basieren auf CPP-Daten – und immer noch kommen neue hinzu. Die Studie entdeckte zum Beispiel, dass Röteln bei Schwangeren zu schweren Geburtsschäden beim Kind führen kann. Weiter identifizierten die Forscher eine Reihe von Medikamenten, die das Ungeborene schädigen. Es zeigte sich, dass einer der Hauptauslöser von Frühgeburten eine Entzündung der Plazenta ist, dass die Ursachen für eine zerebrale Kinderlähmung häufiger in der Schwangerschaft als in der Geburt liegen – und vieles mehr.
Die derzeit grösste und am ehesten mit Sesam vergleichbare Langzeitstudie an Kindern läuft in der Region Avon in Grossbritannien: Das Projekt namens Alspac begleitet über 14 000 Kinder, die Anfang der Neunzigerjahre geboren wurden, und deren Eltern. Unter dem Slogan «Working towards a better life for future generations» will Alspac möglichst alle sozialen, psychologischen, umweltabhängigen und genetischen Einflüsse auf die Entwicklung von Kindern aufdecken. Die Ausbeute ist reich: Über 260 wissenschaftliche Publikationen sind bisher veröffentlicht worden. Beispielsweise zeigte die Studie, dass Schlafen in Bauchlage das Risiko für den plötzlichen Kindstod erhöht. Nach Informationskampagnen sanken die Fälle von plötzlichem Kindstod in Grossbritannien um mehr als die Hälfte. «Derartige Zusammenhänge lassen sich ohne Langzeitstudien nur schwer dokumentieren», sagt Dieter Wolke von der Universität von Warwick, ehemaliger stellvertretender Direktor von Alspac und Mitantragsteller von Sesam.
Weitere Ergebnisse von Alspac: Die Einnahme des Schmerzmittels Paracetamol im letzten Schwangerschaftsdrittel erhöht das Risiko, dass das Kind an einer frühen Form von Asthma erkrankt. Gestillte Kinder haben einen tieferen Blutdruck. Kinder, die früh in den Kindergarten kommen, entwickeln sich genauso gut wie Kinder, die länger bei der Mutter bleiben. Nicht zu viele Kalorien, sondern zu wenig körperliche Aktivität sind hauptverantwortlich für Übergewicht. Und Kinder in ausserordentlich sauberen Haushalten entwickeln eher Asthma.
Aufschrei der Empörung
Im Alspac-Programm findet selbst jene Forschung problemlos statt, über die Sesam beinahe gestolpert wäre: Die Engländer beziehen – mit dem Einverständnis der Eltern – die genetischen Daten ihrer Teilnehmer mit ein. Aus Blutzellen von Mutter und Kind züchten die Wissenschaftler Zelllinien, die einen unerschöpflichen Vorrat an DNA garantieren.
In der Schweiz führten ähnliche Pläne zu einem Aufschrei der Empörung: Eltern hätten kein Recht, das Erbgut ihrer unmündigen Kinder für Forschungszwecke freizugeben. Das ganze Projekt drohte in einem einzigen Tumult um die Reizwörter «Kind» und «Gen» zerfetzt zu werden.
Erst eine besonnene Entscheidung der Ethikkommission beider Basel brachte das schlingernde Schiff wieder auf Kurs. Das Gremium genehmigte das Projekt Sesam samt DNA-Untersuchungen, erlaubt diese aber nur an Erwachsenen. Wollen die Sesam-Forscher nebst der Eltern-DNA auch das Erbgut der Sprösslinge analysieren, müssen sie sich bis zu deren Volljährigkeit und Einverständnis gedulden. Damit kommt Andreas Papassotiropoulos, der beim Sesam-Projekt für die Genetik zuständig ist, gut zurecht: «In erster Linie interessiert mich die DNA der Erwachsenen.»
Der Molekularpsychologe kann im Gespräch nicht verbergen, wie sehr ihn die Feindseligkeit überrascht hat, die Sesam und besonders seinem Teilprojekt entgegenbrandet. Es gehe bei seiner Studie keineswegs darum, auf Grund irgendwelcher Gene Menschen zu identifizieren, die einmal an Angststörungen oder Depression erkranken dürften. «Das ist gar nicht möglich: Zum einen gibt es kein simples Angst- oder Depressionsgen, zum andern ist die Biologie nur ein Faktor von vielen, die bei einer psychischen Erkrankung mitspielen.»
Papassotiropoulos versteht die Genetik vielmehr als Werkzeug, um Moleküle aufzuspüren, die in irgendeiner Art mit psychischen Störungen zu tun haben. «Daraus ergeben sich Hinweise, wo weitere Forschungsprojekte ansetzen können.»
Nach der Auflage der Ethikkommission zu den Erbgutuntersuchungen sind die Sesam- Kritiker aber längst nicht verstummt. Die drittnützige Forschung am Kind steht weiterhin im Kreuzfeuer. Der Basler Appell fordert gar, das «Prestigeprojekt» nun ganz abzublasen, und droht mit rechtlichen Schritten.
«So etwas habe ich bei der Vorbereitung einer neuen Studie noch nie erlebt», sagt der Experte für Langzeitstudien, Dieter Wolke. Das Drama stösst nicht nur bei den Beteiligten von Sesam auf Kopfschütteln. Die Sozial- und Präventivmedizinerin Ursula Ackermann-Liebrich etwa staunt: Bis heute würden zahlreiche Therapien an Kindern durchgeführt, deren Nutzen und Wirksamkeit wissenschaftlich nicht belegt seien. «Da schreit kein Mensch. Aber wenn Forscher das Wissen, das für wirksame Prävention oder Therapien notwendig ist, vermehren wollen, dann schreit man laut.» Die Professorin der Universität Basel leitete jahrelang die Basler Kindergartenstudie, eine Langzeituntersuchung zur Entwicklung von Schweizer Kindern und italienischen Migrantenkindern. «Auf fremdnützige Forschung zu verzichten, weil das Kind vielleicht keinen unmittelbaren Nutzen hat, beruht auf einer naiven Vorstellung von Forschung.»
Kommt hinzu, dass ein fehlender unmittelbarer Nutzen nicht automatisch bedeutet, dass die Teilnehmer als Versuchskaninchen missbraucht werden. Wie liesse sich sonst erklären, dass die Teilnahmeraten von grossen Langzeitstudien nach Jahrzehnten noch bei 80 Prozent oder sogar höher liegen? Einmal rekrutiert, bleiben die Teilnehmenden «ihrer» Studie treu. «Wir haben Familien, die ins Ausland gezogen sind und trotzdem jedes Jahr zur Untersuchung anreisen», sagt Jennie Cross, Koordinatorin bei Alspac. Kinder wie Eltern ziehen oft einen ganz persönlichen Gewinn aus ihrer Teilnahme – oder haben schlicht ihren Spass daran.
Mühe mit Herausragendem
Was bleibt dann noch übrig als Grund für die Ablehnung von Sesam? Dieter Imboden, Präsident des Nationalen Forschungsrats des Schweizerischen Nationalfonds, ortet das Problem im typisch schweizerischen Misstrauen gegenüber grossen Würfen. «Wie kaum anderswo haben wir Schweizer offensichtlich Mühe mit dem Umgang und der Akzeptanz von Herausragendem, betreffe dies Personen oder Ideen», sagte er an einer Medienkonferenz. Kritiker des Projekts sehen das anders: «Sesam will zu hoch hinaus und macht der Öffentlichkeit falsche Versprechungen», sagt die Basler Psychologin Ursula Walter.
Da sind die US-Amerikaner anders gestrickt. Sie planen ein Mega-Projekt, neben dem Sesam sich wie eine Fallstudie ausnimmt: Die National Children’s Study soll im ganzen Land 100 000 Kinder von der frühen Schwangerschaft bis zum 21. Geburtstag verfolgen. Die Studie hätte dieses Jahr starten sollen, doch nach einer Kürzung der staatlichen Mittel fehlt es am nötigen Kleingeld: Das Projekt dürfte über 25 Jahre hinweg mindestens 3,7 Milliarden Dollar kosten.
Eine zweite Erklärung für den Widerstand liegt im zeitlichen Zusammentreffen mit der Diskussion um das neue Humanforschungsgesetz: Sesam bietet sich rigorosen Gentechgegnern und Kritikern drittnütziger Forschung mit Kindern an, um ein Exempel zu statuieren. Oder wie der stellvertretende Sesam-Direktor Alexander Grob es formuliert: «Wir sind in eine unglückliche Zeit hineingekommen und müssen den Kopf hinhalten für Dinge, die mit Sesam wenig zu tun haben.»
Projekt-Finanzen: Roche setzt Fragezeichen
Das ursprüngliche Budget für den Zeitraum von 2005 bis 2008 beträgt knapp 23 Millionen Franken. Davon entfallen 10 Millionen auf den Nationalfonds, der Rest auf die Universität Basel und Dritte. Unter Letzteren ist der Pharmakonzern Roche: Er sicherte Sesam letztes Jahr 6 Millionen Franken zu. «Roche stärkt mit diesem Engagement die Life Sciences am Forschungs- und Wirtschaftsstandort Basel und knüpft an die Unterstützung ausdrücklich keine weiteren Bedingungen», hiess es damals in einer Mitteilung der Uni Basel. Nach dem Wegfall von Erbgutuntersuchungen an Kindern will Roche, die ultraschnelle DNA-Analysegeräte vertreibt, ihr Engagement jedoch überdenken. «Wir stehen mit der Universität im Gespräch», bestätigt Roche-Sprecherin Katja Prowald.
patpatpat - 3. Mai, 10:35
20.3.07, baz:
Notwendige Korrektur
Stefan Stöcklin
Vor zwei Jahren hat der Nationalfonds das Forschungsprojekt «sesam» genehmigt,
seit gestern erst liegt das Verdikt der Ethikkommission vor, die das Projekt im Kern zwar gutheisst, aber heikle DNA-Untersuchungen bei Kindern stoppt. Dass es so lange gedauert hat, liegt nicht an der Langsamkeit der Ethiker, sondern an der Unfähigkeit der Bewilligungsbehörden und der «sesam»-Leitung. Die Behörden haben ein Projekt durchgewinkt, ohne Rücksicht auf offene Fragen und fehlende Gesetze. Die Leitung hat die Komplexität des eigenen Vorhabens massiv unterschätzt und die Probleme kleingeredet. Angesichts dieser Umstände muss man der Ethikkommission unter der Leitung von Hans Kummer ein Kränzchen winden. Sie hat ungeachtet aller Druckversuche entschieden, dass auf die genetischen Untersuchungen bei Neugeborenen verzichtet werden muss › eine notwendige Korrektur. Zudem hat sie mit der geforderten unabhängigen Begleitstudie die Kontrolle erhöht: eine Forderung etwa der SP Basel-Stadt.
Mit dem Entscheid gelingt der Doppelschlag: einerseits die Öffentlichkeit zu besänftigen und anderseits die Forscher zu befriedigen. Trotz diesem Verdikt ist das Projekt realisierbar. Auf einem anderen Blatt steht, ob es auch so viel Erkenntnis bringen wird, wie heute noch immer versprochen wird. Da sind Zweifel angebracht.
Nach dem harzigen Vorlauf steht nun die praktische Prüfung an › mit der Rekrutierung der Schwangeren. In den nächsten Monaten muss sich zeigen, ob die Probanden mitmachen, sonst wird die Finanzierung gestoppt. So entscheidet am Ende die Bevölkerung, ob sich «sesam» wirklich öffnet. Gut so.
22.3. Aargauer Zeitung
Noch zu früh für Transparenz total
Christoph Bopp
DNA-Profile Um verantwortungsvoll mit ihnen umgehen zu können, fehlt es uns an Wissen
Der Entscheid der Ethik-Kommission beider Basel, das «Sesam»-Projekt grundsätzlich zu erlauben, war richtig. Dass sie es nur mit Auflagen tat, war sogar weise. Denn wir sind weder technisch- wissenschaftlich «klug» genug, noch philosophisch-sozial «reif» genug, um mit persönlichen DNA-Profilen umzugehen. Damit hat die Ethik-Kommission ihre Aufgabe erfüllt, denn aus Wissenschaftsperspektive wäre es attraktiv gewesen, das Projekt auch auf diesem biologisch-fundamentalen Level zu betreiben. Man wird es zweifellos eines Tages auch tun. Eine «DNA-sesam-Datenbank» wäre für die Forschung in personalisierter Medizin von hohem Wert. Aber dass möglicherweise höchstens auf spekulativer Basis stehende Vermutungen über Veranlagungen oder Krankheits-Dispositionen die Entwicklung von Kindern beeinträchtigen werden, das ist klar.
Was in uns ist vererbt und was wird erworben? Die Debatte ist teilweise tabuisiert durch das «Erbe» der Nazi-Zeit, weil sie unweigerlich «eugenische Reflexe» provoziert. Wer nicht über eine tiptoppe genetische Ausstattung verfügt, darf sich gar nicht erst als vollberechtigtes Mitglied der Gesellschaft fühlen. Das ist natürlich Unsinn. Denn über diese Dinge wissen wir schlicht praktisch nichts. Man vermutet, dass das menschliche Genom aus rund 25 000 Genen besteht. Ungefähr 17 000 sind kartiert. Und bei etwa 400 weiss man, dass ein Defekt eine Erkrankung zur Folge hat. Dabei handelt es sich um sehr spezielle Fälle. Dann wird es sehr schnell sehr komplex. Die Medizin hat zudem den Vorteil, dass sie ihre «Krankheiten» viel präziser definieren kann als die Psychiatrie. Noch problematischer ist es bei der Psychologie oder bei welcher Wissenschaft auch immer, die über Charakter und Begabung nachdenkt.
patpatpat - 23. Mär, 13:29