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Donnerstag, 13. September 2007

WoZ 13.9.: Der forschungspolitische Kaninchentrick

Roland Fischer in der WoZ:
Demnächst soll es losgehen: Nachdem sich das Bewilligungsverfahren für Sesam (Swiss Etiological Study of Adjustment and Mental Health) länger hingezogen hat, als es den Projektverantwortlichen lieb war, will man im Oktober mit der Rekrutierung schwangerer Frauen für die gross angelegte Studie zur psychischen Entwicklung beginnen. Da bislang erst die Ethikkommission beider Basel (EKBB) grünes Licht gegeben hat, rekrutiert man vorderhand am Sesam-Hauptstandort. In Zürich, Bern, Lausanne und Genf wird man voraussichtlich erst nächstes Jahr mit der Suche nach Studienteilnehmerinnnen beginnen können. Die Zürcher Ethikkommission wird die Studie im Oktober unter die Lupe nehmen, in Bern wollte man zum Termin keine Auskunft geben. In der Romandie wurden die Gesuche noch nicht eingereicht. Ob sich die Hoffnung der Sesam-Verantwortlichen erfüllt, dass die Studie nach dem EKBB-Entscheid in den anderen Kantonen einfach durchgewinkt wird, ist fraglich. In Zürich wird es laut Niklaus Herzog, dem Sekretär der Kommission, vermutlich kein abgekürztes Bewilligungsverfahren geben.
Die Sesam-WissenschaftlerInnen sind in Eile, denn sie befürchten, nicht so viele TeilnehmerInnen wie erhofft zu finden. 3000 Familien will man bis 2009 für die Kernstudie gewinnen, und nochmals an die 1000 Familien für diverse Teilstudien. Alexander Grob, stellvertretender Direktor von Sesam, gibt zu, dass das Ziel ambitiös sei. Man strebt eine Quote von 75 Prozent der angefragten Familien an. Für die Kernstudie rekrutiert man an Unispitälern, die werdenden Mütter sollen direkt von den behandelnden ÄrztInnen zur Teilnahme bewogen werden. Für den erheblichen Aufwand werden die TeilnehmerInnen (neben der Mutter
und ihrem Kind auch der Vater und wenn möglich die Grosseltern) finanziell nicht entschädigt. Aber immerhin: Sesam kommt zustande, auch wenn sich deutlich weniger als 3000 Familien verpflichten sollten. Noch vor einem halben Jahr stand ein grosses Fragezeichen hinter der Studie. Die Finanzierung der ersten Projektphase war zwar gesichert, der Nationalfonds hat Sesam den Status eines nationalen Forschungsschwerpunkts verliehen, und Roche hat einen grossen Anteil der verlangten Drittmittelfinanzierung übernommen.
Doch dann erwies sich die EKBB als Spielverderberin. Man beurteilte die Studie zwar prinzipiell positiv, doch eine Auflage hatte es in sich: Die Kommission verlangte, auf genetische Tests an Kindern bis zu deren Volljährigkeit zu verzichten. Damit geriet das ganze Studiendesign in Schieflage: Die biologisch-genetische Perspektive ist ein zentraler Aspekt von Sesam. Und einfach zu warten, bis die Einwilligung der Kinder vorliegt, war keine realistische Alternative: «Zwanzig Jahre sind ein enormer Zeitraum im wissenschaftlichen Kontext», sagt Alexander Grob.
Doch plötzlich zauberten die Sesam-Verantwortlichen einen neuen Schwerpunkt aus dem Hut: die Epigenetik. Das Forschungsgebiet ist der letzte Schrei auf dem molekularbiologischen Laufsteg, es untersucht nicht die genetische Veranlagung, sondern deren Regulation. Der genetische Einfluss ist dem Menschen ein für alle Mal eingeschrieben, die Epigenetik hingegen ist in ständigem Fluss, weshalb man beim Sammeln diesbezüglicher Informationen nicht zuwarten kann. Die EKBB hat der Entnahme von Speichelproben bei Säuglingen für epigenetische Tests zugestimmt. Und sie hat den Sesam-ForscherInnen das Versprechen abgenommen, damit keine genetischen Tests zu machen - denn genetisches und epigenetisches biologisches Material lassen sich nicht trennen.
Dem von Sesam-GegnerInnen geäusserten Vorwurf, die Epigenetik sei erst nach dem negativen EKBB-Entscheid aufgetaucht, um die biologischen Aspekte von Sesam zu retten, widerspricht Urs Christ vom Nationalfonds: «Die Epigenetik war schon Teil der ersten Forschungseingabe.» Man habe das ganze Projekt nach dem Entscheid allerdings von einem internationalen Expertengremium nochmals begutachten lassen. Es stand also durchaus die Frage im Raum, ob Sesam ohne Genetik überhaupt noch Sinn ergab. Was genau mit den Speichelproben geschieht, ist indes noch nicht klar. Man sammelt erst mal auf Vorrat, bis die entsprechende Methodik ausgearbeitet ist, die Proben werden in einer externen Biobank aufbewahrt.
Die EKBB hat allerdings ein Vetorecht: Die Sesam-ForscherInnen müssen genaue Protokolle der geplanten Tests einreichen, und die Ethikkommission behält sich vor, bei Bedenken auf ihren prinzipiell positiven Entscheid zurückzukommen. Das Zittern im Sesam-Lager ist also noch nicht vorbei.

WoZ 13.9.: "Die Seele im Gewebe suchend"

Benno Vogel in der WoZ:
Es ist nicht einfach, einen Zusammenhang zwischen genetischer Veranlagung und psychischem Leid nachzuweisen. Trotzdem taugt das Konzept bestens dazu, Forschungsmillionen einzuwerben.

Begonnen hat die Suche nach den Genen, die einen Einfluss auf den seelischen Zustand des Menschen haben sollen, Anfang der neunziger Jahre. Technische Fortschritte in der molekularen Genetik ermöglichten es damals erstmals, die Wirkungen von einzelnen Genvariationen im grossen Stil zu unter­suchen. Begeistert von den neuen Möglichkeiten machten sich auch Forschende aus dem psychologischen Bereich daran, das menschliche Erbgut zu durchleuchten. Rasch waren die ersten Erfolge zu vermelden - die Gene für Depression, Angstneurosen oder Schizophrenie schienen gefunden.

Doch so rasch die Erfolge erzielt wurden, so schnell verflog die Euphorie zumeist wieder, wenn die Forschenden genauer hinschauten. Methodische Mängel, schlecht konzipierte Studien und zu kleine Datensätze sorgten ­dafür, dass sich viele der vermeldeten Erfolge als falsch erwiesen.

Rauchen, Asbest, Trauma

Auch bei jenen Resultaten, die einer vertieften Analyse standhielten, mussten die Forschenden feststellen, dass Gene nur einen sehr schwachen Einfluss haben. Wie schwach, das zeigt ein Blick auf das Odds Ratio. Dieser statistische Wert beziffert Krankheitsrisiken. Das Odds Ratio zwischen Rauchen und Lungenkrebs zum Beispiel liegt bei etwa 20, dasjenige zwischen Asbestexposition und Krebs bei rund 15 und das­jenige zwischen einem traumatischen Erlebnis und dem Ausbruch einer Depression bei ungefähr 12.

Das Odds Ratio zwischen einzelnen Genen und psychischen Krankheiten hingegen beträgt im Schnitt gerade mal 1,3. Mittlerweile ist auch ExpertInnen klar geworden, dass das Konzept «Gen X verursacht psychische Krankheit Y» nicht der Realität entspricht.

Haben weitere Untersuchungen - wie die Sesam-Studie (vgl. nebenstehenden Artikel) - einen Sinn, wenn sich bisher bloss schwache genetische ­Einflüsse auf die Psyche zeigten? Die meisten Forschenden sagen Ja. Sie vertrauen darauf, dass mit gründlicheren Methoden schliesslich doch noch Gene gefunden werden können, die einen starken Einfluss auf die Psyche haben.

Zudem haben die Forscher­Innen ihre Konzepte angepasst. Sie suchen nicht mehr nach genetischen Ursachen, sondern nach genetischen Anfälligkeiten, und im ­Visier sind nicht mehr einzelne Gene, sondern Genprofile, also ­ganze «Genfamilien», die im Zusammenspiel ­eine menschliche Eigenart beeinflussen. Deshalb lautet auch die Frage nicht mehr: «Welches Gen macht depressiv?», sondern: «Welches genetische Profil bedingt, dass gewisse Menschen nach einem traumatischen Erlebnis depressiv werden, andere aber nicht?»

Ein weiterer Grund, weshalb die Mehrheit der Forschenden an genetischen Untersuchungen festhält, ist pragmatischer Natur. Selbst wenn nur Gene mit schwachen Einflüssen gefunden werden, eröffnen diese allemal neue Möglichkeiten für die Entwicklung von Medikamenten. Solche Versprechungen helfen bei der Beschaffung von Forschungsmitteln, egal, wie vage der pharmakologische Nutzen vorderhand ist.

Durchs Labyrinth zur Depression

Andere ForscherInnen stehen genetischen Analysen skeptisch gegen­über. Sie halten die Idee, dass psychische Krankheiten durch Untersuchungen des Erbguts erklärt werden können, für falsch. Als Grund fügen sie die Komplexität psychischer Krankheiten an. Ein Einblick: Etliche unterschiedliche Stoffwechselwege sind an seelischen Zuständen beteiligt, die dann als Depression diagnostiziert werden. Hinter jedem dieser Stoffwechselwege stehen Dutzende verschiedene Gene. Diese wieder­um interagieren nicht nur miteinander, sondern auch mit der Umwelt. Und dann spielen auch Selbstwertgefühl, Lebensgeschichte und Charakter der PatientInnen eine Rolle auf dem langen Weg vom Erbgut bis zur ausgeprägten Depression. Diese Komplexität lässt sich kaum entwirren, und deshalb bezweifeln diese ForscherInnen, dass sich aus genetischen Untersuchungen medizinisch nutzbares Wissen ableiten lässt.

In der Kritik steht auch der Ansatz, über Gene neue Angriffspunkte für Medikamente zu entdecken. Nur drei Prozent der Projekte, die diesen Ansatz verfolgen, schaffen es, eine neue Substanz in präklinische Tests zu bringen. Und von dort ist es nochmals ein langer Weg zum marktreifen Medikament.

Wo steckt die Psyche?

Während das Für und Wider genetischer Untersuchungen innerhalb der Forschergemeinde heftig diskutiert wird, beginnt sich eine neue Disziplin zur Untersuchung biologischer Krankheitsursachen zu etablieren: die Epigenetik. Hier geht es nicht um die Gene, sondern um deren­ Zustand - also die Frage, ob die Gene an- oder abgeschaltet sind. Der Zustand der Gene - Epigenom genannt - kann vererbt sein, ist aber auch durch die Umwelt beeinflussbar und wird mittlerweile als möglicher Faktor bei der Entstehung von Krankheiten angesehen. So sind auch bei den 3000 Kindern der Sesam-Studie epigenetische Untersuchungen geplant.

Noch steckt die Epigenetik in den Kinderschuhen. Im Hinblick auf ihre Anwendbarkeit bei psychischen Erkrankungen stellt sich jetzt schon eine interessante Frage: Wo steckt die Psyche? Da sich das Epigenom von Gewebe zu Gewebe und von Organ zu Organ unterscheidet, ist es womöglich nicht unerheblich, welches Epigenom man mit psychischen Zuständen in Verbindung zu bringen versucht. Bei Sesam schaut man den ProbandInnen dazu vorerst mal ins Maul: Die Forschenden werden den Kindern Zellen der Mundschleimhaut entnehmen.

Ob Genetik oder Epigenetik - hinter beiden Ansätzen steckt die Idee, Ursachen psychischer Krankheiten in der Biologie des Menschen zu finden. Dass die Biologie Ängste oder Depressionen zulässt, ist klar. Wenn aber weltweit zunehmend mehr Menschen wegen Ängs­ten und Depressionen behandelt werden, kann die Ursache dafür nicht im Erbgut liegen. Denn dieses ändert sich nicht wesentlich in kurzer Zeit. Die ­eigentlichen Gründe für die zunehmende Diagnose psychischer Krankheiten sind ausserhalb der Biologie und womöglich in den gesellschaftlichen Bedingungen zu suchen. Das Ziel der biologischen Untersuchungen bleibt vor diesem Hintergrund wirtschaftlich-pragmatisch: neue Psychotherapeutika entwickeln und damit den Menschen, die ein ungünstiges genetisches Profil haben, helfen, sich den herrschenden Bedingungen anzupassen. Die ­Sesam-Kinder werden in achtzehn Jahren, wenn sie mündig sind, entscheiden können, ob sie dieses Ziel unterstützen wollen oder nicht.
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Sesam Watch

Beobachtungen und Notizen zum Schweizer NCCR "Sesam", der 3'000 Kinder und ihr Umfeld vom ersten Ultraschallbild an 20 Jahre lang beobachten wollte (vorzeitiger Abbruch: 13.3.08). Autonom, skeptisch, ehrenamtlich. Kontakt: sesamwatch@gmail.com

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