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Mittwoch, 20. Februar 2008

"sesam-Jahresbericht" in SNF NCCR Guide '08

Eine Art minimaler "Jahresbericht auf 3 Seiten" zu sesam ist zu finden im Guide2008 über die "National Centres of Competence in Research" des SNF. Das ist der Link zum .pdf-Dokument. Hier geht's zur sesam-Seite darin bei Slideshare (dort auf "full" klicken für Ganzseitenansicht). Und hier ist der ganze Guide via Slideshare (Slide 79):

Montag, 4. Februar 2008

Mittellandzeitung MLZ, 3.2.08: Schwangere, bitte melden!

Forschungsprojekt Sesam in Gefahr

Gesucht werden 15'000 Personen - Kinder, Eltern und Grosseltern. Das Ziel des gigantischen Projekts: herausfinden, was die Seele krank macht. Doch Sesam hat Mühe, genügend Schwangere zu finden.

Von David Sieber

Die scheizerische ätiologische Studie zur psychischen Gesundheit («Swiss Etiological Study of Adjustment and Mental Health», Sesam) ist umstritten. Ethisch-moralische Bedenken verzögerten den Beginn des 20 Jahre dauernden schweizweiten Grossversuchs, bei dem Familien über drei Generationen hinweg interdisziplinär beobachtet und untersucht werden. Im März vergangenen Jahres gab die Ethikkommission beider Basel grünes Licht, verbot aber die geplanten DNA-Tests bei Unmündigen. Vor kurzem zogen die Ethikkommissionen von Bern und Zürich nach. Ausstehend ist der Entscheid in Genf.

In Basel werden nun seit drei Monaten Schwangere gesucht, deren Kinder vom Mutterleib bis zum 20. Lebensjahr im Mittelpunkt der Forschung stehen sollen. Aber auch die Kindsväter sowie die Grosseltern sind Gegenstand der Hauptstudie und zahlreicher Teilstudien, bei denen es um die Frage geht: Welche Faktoren beeinflussen die psychische Entwicklung? Die Bandbreite reicht von der Biologie und Genetik über die Psychologie bis zur Soziologie, wie Sesam-Leiter Jürgen Margraf, Psychologieprofessor an der Uni Basel, erklärt.

Das ehrgeizige Ziel, 3'000 Schwangere für das Projekt verpflichten zu können, ist allerdings in Gefahr, denn die Rekrutieung ist weit harziger angelaufen als gedacht, räumt Sesam-Sprecher Daniel Habegger ein. Konkrete Zahlen will er nicht nennen. Am Basler Frauenspital meldet sich indes pro Tag im Durchschnitt nur eine Frau, die für Sesam in Frage kommt. Das Hauptproblem: Die komplexen Fragebögen, die den Schwangeren vorgelegt werden, gibt es nur auf Deutsch und Französisch. Die für die Repräsentativität des Projekts wichtigen kinderreichen ausländischen Familien scheitern damit häufig an der Sprachbarriere. Zwar wollte die Sesam-Leitung Fragebögen in weiteren Sprachen produzieren, wurde gemäss gut unterrichteter Quelle vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF), der das 20-Millionen-Projekt rund zur Hälfte finanziert, aber zurückgepfiffen. Beim SNF war keine Stellungnahme zu erhalten.

Um die Durchführbarkeit der Studien bangt Margraf nicht. Aber es werde zu einer zeitlichen Verzögerung von «mehreren Monaten» kommen. «Die Pilotphase hat uns einiges gelehrt» sagt der Sesam-Chef. «Wir prüfen nun, wie wir mehr Frauen ansprechen können» - zum Beispiel in Arztpraxen. Hoffnungsvoll stimmt Margraf, dass Interessierte nicht etwa ethische Bedenken vorbrächten, sondern praktische Fragen, so nach dem persönlichen Aufwand und dem Kindswohl; letzteres sei garantiert. Die Psychologin Ursula Walter von der Gruppe «Sesam watch» bleibt skeptisch: «Der Anspruch ist und bleibt gewaltig».

Freitag, 4. Januar 2008

Regionaljournal Basel, 21.12.07: Sesam-Rekrutierung - alles andere als einfach...

Laut Daniel Habegger, Kommunikationsverantwortlicher bei Sesam, hat Sesam Mühe, Teilnehmerinnen zu finden: Zwar meldet sich am Frauenspital Basel pro Tag durchschnittlich eine Frau, die als Sesam-Teilnehmerin in Frage kommen könnte. Dies, weil sie schwanger und die Schwangerschaft noch nicht zu weit fortgeschritten ist. Doch nun folgt das «aber»: die meisten dieser Frauen sind Ausländerinnen und ihre Deutschkenntnisse sind bescheiden. Wer soll also die umfangreichen Fragebogen ausfüllen, die den Löwenanteil des Aufwands bei einer Studienteilnahme ausmachen?

Nun, offenbar hatte man bei Sesam mit diesem Problem gerechnet. Doch scheint es, als hapere es bei Sesam nicht nur an Teilnehmerinnen, sondern auch am Geld. Für die Übersetzung der Fragebogen zum Beispiel. Man darf also gespannt sein, wie lange der Hauptgeldgeber der Studie, der Schweizerische Nationalfonds, noch Geduld aufbringt. Dies, bis er dem Projekt endgültig den Geldhahn abdreht.

Den Beitrag des Regionaljournals vom 21.12.07 hören sie hier.

Montag, 10. Dezember 2007

FRAGEN ZUR BETEILIGUNG AN DER SESAM-STUDIE

Neu werden seit Anfang Oktober an der Uni-Frauenklinik Basel alle Schwangeren, die sich zur Voruntersuchung melden, zu einer Teilnahme an sesam eingeladen. Dies erfolgt so, wie Prof. Grob es im Artikel der MZ ausführlich darlegte.

Die sesam-watch-Gruppe hatte die EKBB (Ethikkommission beider Basel) ersucht, der Informationsschrift von SESAM an die Studien-Teilnehmerinnen einige Fragen beizulegen, welche die Problematik dieser Studie beleuchten. Dies wurde abgelehnt und die anfragende Person wurde auf allfällige private Initiativen verwiesen.

In diesem Sinn legt eine kleine Arbeitsgruppe einen Flyer mit «Fragen zur Beteiligung» vor, mit denen die Sesam-Information der Mütter zu ergänzen ist und bittet alle, diesen breit bekannt zu machen.

Fragen zur Beteiligung an der SESAM-Studie:

1. SESAM vertritt ein bestimmtes Verständnis von psychischer Gesundheit und von Wegen zu deren Erforschung, das innerhalb und ausserhalb der Wissenschaft umstritten ist. Überzeugt Sie das Menschenbild, das hinter dieser Studie steht?

2. Was würde es für Sie bedeuten, wenn die Studie Ihr Kind oder Ihre Familie in eine Gruppe speziell gefährdeter Menschen einteilen würde?

3. Was werden Sie antworten, wenn Ihr Kind Sie später fragt: Warum habt Ihr mich in diese Forschung eingereiht?

4. Wollen Sie den Forschern mit Ihrem Erbgut (DNA) Daten über sich und Ihre Familie preisgeben, ohne präzise zu wissen, was damit geschieht und wie deren Vertraulichkeit über so lange Zeit garantiert ist?

5. Ist Ihnen bewusst, dass Sie mit Ihrem Erbgut auch Informationen über verwandte Dritte ohne deren Einwilligung zur Verfügung stellen?

6. Die Pharmaindustrie fördert das Projekt mit Millionenbeträgen. Warum wohl?

7. Die Forschungsstudie möchte die Entwicklung Ihres Kindes über 20 Jahre beobachten. Möchten Sie sich mit Ihrem Kind und Ihrer Familie über eine so lange Zeit beteiligen?


Sesam-watch-Gruppe,
u.a. Sabine Keller, Dr. med. Kinderpsychiaterin; Ruth Waldvogel, Dr.sc.nat und lic.phil, Psychotherapeutin; Ursula Walter, lic.phil. Psychologin, Psychotherapeutin; Susann Ziegler, lic.phil. Klinische Psychologin und Psychotherapeutin FSP;
Kontakt:
U.Walter, Pilgerstr.23, 4055 Basel, Tel 061 261 05 88 u.walt@bluewin.ch

Zeit-Fragen, 3.12.2007: «Sesam» - oder Die Geister die ich rief

Langzeitsudie über die Erbsubstanz von Einwohnern der Schweiz
von Dr. Armin Hofmann

Die mehrere tausend Menschen umfassende Langzeitstudie «Sesam» (Swiss Etiological Study of Adjustment and Mental Health) will systematisch Daten über das Erbgut von Einwohnern der Schweiz sammeln. Gegenstand der Studie sind Familien, vom Neugeborenen und seinen Eltern bis zu den Grosseltern, an denen Zusammenhänge zwischen genetischer Veranlagung, Umwelteinflüssen und psychischen Störungen untersucht werden sollen. Unter Fachleuten bestehen erhebliche ethische und rechtliche Bedenken; sie haben Zweifel am wissenschaftlichen Wert der Studie und befürchten einen Missbrauch genetischer Daten. Einige warnen vor neuen Formen der Bevölkerungskontrolle durch Eugenik (Erbgesundheitsforschung zur Ausschaltung erbschädigender Einflüsse). – Derzeit läuft die Studie mit der Rekrutierung schwangerer Frauen für die Studie in Basel an.

Ursprünglich sollten es 15 000 Versuchsteilnehmer sein, die 20 Jahre lang untersucht und beobachtet werden. Unter dem Druck der Öffentlichkeit musste die Studie jedoch stark eingeschränkt werden. Geblieben sind 1500 Kinder ab der 20. Schwangerschaftswoche bis zum 20. Lebensjahr sowie 4000 Eltern und Grosseltern, an denen das Zusammenwirken von sozialen, psychischen und genetischen Faktoren beim Entstehen psychischer Erkrankungen untersucht wird – mittels Ultraschall, Speichel-, Blut- und Urinproben, Tests zur geistigen und körperlichen Entwicklung, Interviews und Fragebögen.
Ethisch fragwürdig ist die Studie, weil sie – für den Fall, dass sich eine psychische Störung offenbart – dem Notleidenden keine Hilfe bietet. Sie macht ihn zum Untersuchungsobjekt und instrumentalisiert ihn für Forschung und Profit.
Keiner weiss so richtig, was Sesam eigentlich soll, nicht einmal die Wissenschafter selbst, denn es handelt sich um eine nicht-Hypothesen-geleitete Studie, die per Zufall etwas herausfinden will durch den Aufbau einer riesigen Datenbank. Entsprechend dürftig wird die Öffentlichkeit informiert, die grösstenteils für die Kosten aufkommt.
Träger der Studie ist der Schweizerische Nationalfonds, der das zum nationalen Forschungsschwerpunkt erklärte Projekt massgeb lich finanziert, und zwar mit 10,2 Millionen Schweizer Franken während einer ersten Phase bis 2009. Weitere Mittel in Höhe von 12,5 Millionen Franken werden von der Universität Basel, dem Stammhaus der Studie, von privaten Stiftungen und von der Wirtschaft beigesteuert; unter anderem 6 Millionen vom Pharma-Konzern Hoffmann La Roche.

Wie man zweifelhafte Studien «an den Mann» bringt

Anlass der seit 2005 in Planung befindlichen Mammut-Studie sei «der rapide Anstieg von psychisch bedingten Krankheiten (wie Ängsten, Depressionen, Sucht oder Jugendgewalt)», so der Leiter des Projekts, Professor Jürgen Margraf von der Uni Basel. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) würden Depressionen bis zum Jahr 2020 die zweithäufigste Ursache für gesundheitliche Beeinträchtigungen sein. Um Depressionen, Angst- oder Suchterkrankungen wirksam vorbeugen und behandeln zu können, fehle es jedoch am nötigen Wissen, behauptet Margraf.
Offensichtlich soll die Öffentlichkeit mit PR-Lügen und Halbwahrheiten über den wahren Zweck der Studie hinweggetäuscht werden. Tatsache ist, Psychologie und Psychotherapie verfügen heute über ein differenziertes Verständnis von Depressionen, Ängsten und Suchtkrankheiten, und es ist durchaus möglich, diese erfolgreich zu behandeln. Das wird jedoch nicht gesagt. Denn in Wirklichkeit geht es darum, biotechnologische, medikamentöse Verfahren zu entwickeln, von denen sich die Pharma-Konzerne Milliardengewinne erhoffen.
Wie die Öffentlichkeit durch PR-Lügen in Kriege gelogen wird,1 angeblich zum Schutz der Demokratie, so werden ihr zweifelhafte Forschungen verkauft, als Schutz vor psychischen Krankheiten. Oder als wohlschmeckender Sesam-Riegel für die Gesundheit. – In Wirklichkeit steckt mehr dahinter.

Wissenschaftlicher Irrglaube

Der Sesam-Studie liegt der Irrglaube zugrunde, dass soziale und psychische Störungen durch unsere Gene bestimmt oder beeinflusst seien. Von allgemeinen Persönlichkeitsmerkmalen bis zu Depressionen, Ängsten, Sucht und Jugendgewalt wird behauptet, sie hätten eine familiär ererbte genetische Grundlage.
Dieser Irrglaube war es, auf dem die unmenschliche Eugenik des 20. Jahrhunderts aufbaute.2 Wollte man früher an den Formen der Ohren die Erbanlage zu Alkoholismus, Depression und Kriminalität ablesen, so sucht man sie heute – in den Genen.
Der Mensch wird nicht mehr als Mensch in seinen sozialen Beziehungen wahrgenommen, sondern als isolierter, entseelter Träger von Krankheitssymptomen, die mit Hilfe gentechnologischer oder medikamentöser Verfahren kostengünstig und effizient beseitigt werden sollen.
Ausdruck davon ist der 1991 überarbeitete Diagnoseschlüssel ICD-10 (International Classification of Diseases) der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der eine Vielzahl von Krankheitssymptomen klassifiziert, die – unter dem Druck verknappter Mittel – durch standardisierte, kostengünstige Verfahren behandelt werden müssen. Immer mehr, so der Zürcher Psychiater und Psychotherapeut Berthold Rothschild, rückt die Frage in den Vordergrund, wie die Diagnose nach ICD-10 lautet, anstatt zu fragen, was im Patienten vorgeht, was ihn oder sie quält.
Die heilende Beziehung zwischen Arzt und Patient, die auf einem mitfühlenden Erforschen des inneren Erlebens aufbaut, wird auf ein Minimum reduziert und durch eine angeblich zeit- und ressourcensparende Behandlung mit Medikamenten ersetzt. So sei in den vergangenen Jahren eine grundsätzliche Tendenz zur Medikalisierung psychischer Störungen entstanden, die mit der Suche nach den genetischen Grundlagen seelischer Erkrankungen Hand in Hand gehe.4

Rechtlich fragwürdig

Die zweifelhafte Verknüpfung von erbgenetischen mit psychologischen Daten war es auch, die zum Stein des Anstosses wurde. Verfassungsrechtlich umstritten ist, ob die sogenannte fremdnützige Forschung, die den Untersuchten nicht unmittelbar Hilfe bringt, überhaupt zulässig ist. Sesam beruft sich auf das «Europäische Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin» (Bioethik-Konvention, 1997), übergeht dabei aber, dass das Abkommen bislang von der Schweiz nicht ratifiziert wurde. Der Studie fehlt also die rechtliche Grundlage.
Auch das so genannte Humanforschungsgesetz, das die umstrittene Forschung an Nichteinwilligungsfähigen – an Ungeborenen und Kindern – auf nationaler Ebene regeln soll, ist noch nicht verabschiedet. Die Vernehmlassung war nicht einmal abgeschlossen, da hatte der Bundesrat das Sesam-Projekt bereits bewilligt. Frühestens im Jahr 2008 wird im Parlament über das Humanforschungsgesetz debattiert, so dass mit einem Inkrafttreten vor 2010 nicht zu rechnen ist.
Der Eindruck entsteht, dass mit Sesam Fakten geschaffen werden, noch bevor die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen existieren. Auf diese Weise soll die Politik unter Druck gesetzt werden, damit die entsprechenden Gesetze im Eiltempo durchgepaukt werden können. Zweifel an der Studie werden mit Worten heruntergespielt wie: «Untersuchungen an Erwachsenen und Kindern sind Alltag. In der Pädagogik, der Pädiatrie und eben in der Entwicklungspsychologie haben solche Studien eine lange Tradition.» (Margraf, «Südostschweiz» vom 25. März)
So wird die Öffentlichkeit mit PR-Lügen in die Irre geführt. Denn es stimmt nicht, dass die systematische Untersuchung von genetischem Material an nicht einwilligungsfähigen Ungeborenen und Kindern «eine lange Tradition» hat. Sie ist relativ neu und für die Schweiz absolut einzigartig.

Ethisch zweifelhaft

Auch die brisanten ethischen Fragen, die mit Sesam verbunden sind, sind bei der Konzipierung der Studie übergangen worden. Dennoch hat der Bundesrat die Untersuchungen bewilligt. Deshalb sammelte der «Basler Appell gegen Gentechnologie» 12 000 Unterschriften Sesam-kritischer Bürger. Mit Erfolg. Die Ethikkommission beider Basel (EKBB) bewilligte in der Folge das Sesam-Projekt zwar, aber nur unter strengen Auflagen.
Sie lehnt die Entnahme und Untersuchung der genomischen DNA bei Versuchspersonen vor Erreichen der Mündigkeit grundsätzlich ab. Die Offenbarung sensibler genetischer Informationen könne ein Kind ein Leben lang belasten, wenn es erfährt, dass es eine genetische Veranlagung zu einer unheilbaren Krankheit hat. Das verletze die Verpflichtung zur Wahrung des Kindeswohls, ebenso den allgemeinen Persönlichkeitsschutz.
Die EKBB verlangt daher eine unabhängige Begleitstudie, welche die negativen psychischen Folgen der Studie untersucht. Sie fordert eine unentgeltliche Anlaufstelle, um Teilnehmer zu schützen. Verlangt wird auch, dass das Untersuchungspersonal im Umgang mit psychischen Krisen geschult wird, die im Verlauf der Studie auftreten können.
Strategischer Winkelzug

Roche wollte – ob des Entscheids der EKBB – die zugesagten Millionen zurückziehen, die Sesam-Verantwortlichen sahen das Projekt gefährdet. Da griffen sie in die Trickkiste und erdachten sich einen neuen Forschungsschwerpunkt für die Studie: Nicht die DNA an sich solle genetisch bestimmt werden, vielmehr wolle man die epigenetische Wechselwirkung zwischen Umwelt und Genen untersuchen; denn durch bestimmte umweltbedingte, psychosoziale Einflüsse, so die Vermutung, können Gene ein- oder ausgeschaltet werden, wodurch Krankheiten entstehen.
Ob genetisch oder epigenetisch, der Zweck der Studie ist derselbe geblieben: Erkenntnisse zu gewinnen, um Verfahren und Medikamente zu entwickeln, die auf der genetisch-biologischen Ebene ansetzen und nicht bei den psychosozialen Ursachen von Depressionen und anderen seelischen Leiden. Menschen sollen medikamentös ruhiggestellt werden, ohne dass die Ursachen im gesellschaftlichen, psychosozialen Umfeld ins Auge gefasst werden.5
Nun ist die EKBB im Juli dieses Jahres zurückgekrebst und hat entgegen den ursprünglichen Auflagen – Verzicht auf Entnahme und Untersuchung des Erbguts von Neugeborenen – den Abstrich von Mundschleimhaut (Speichelprobe) unmittelbar nach der Geburt erlaubt, was die Bestimmung der DNA doch möglich macht, durch die Hintertür sozusagen. Die Proben müssen aber in einer unabhängigen Biobank verwahrt werden; wobei sich die EKBB vorbehält, ihr Veto einzulegen, je nachdem, was die Sesam-Forscher damit machen. Genetische und epigenetische Untersuchungen sind nämlich kaum voneinander zu trennen.
Die Probleme mit den Biobanken sind hinlänglich bekannt. Gesetzliche Regelungen gibt es keine, und der Persönlichkeitsschutz wird nur selten gewahrt. Biobanken unterliegen keiner unabhängigen Kontrolle, sie unterstehen vielmehr der Selbstkontrolle durch die Betreiber. (Die Volkswirtschaft, Magazin für Wirtschaftspolitik 7/8, 2006, S. 48) Dem Missbrauch sind also Tür und Tor geöffnet.

Diskriminierung Kranker

Gefährlich sind auch die sozialen und gesellschaftlichen Folgen der Studie. Sesam will sogenannte Risikoprofile für bestimmte Krankheiten erstellen. Ab Anfang 2009 will der Bund die elektronische Versichertenkarte für alle Menschen in der Schweiz einführen, auf der vorerst nur die administrativen Daten – aller Einwohner der Schweiz – gespeichert werden.
Laut Mitteilung des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) soll es jedoch möglich sein, Zusatzangaben über aktuelle Krankheiten, Unfallfolgen oder Allergien freiwillig auf der Karte zu speichern. Nicht auszuschliessen ist, dass früher oder später auch Daten gespeichert werden müssen, welche die von Sesam avisierten psychogenetischen Risikoprofile betreffen. Dann kann es passieren, dass Patienten von Versicherungsgesellschaften aufgefordert werden, verfügbares Wissen über genetisch bedingte Erkrankungsrisiken offenzulegen. Das kann zu einer Erhöhung der Prämien oder zum Ausschluss aus der Versicherung führen, was diskriminierend ist und die solidarische Haftung aller Versicherungsnehmer für die Kranken untergräbt.

Neue Formen von Eugenik

Zu befürchten ist auch, dass die Sesam-Studie neuen Formen der Eugenik den Weg ebnet. Sesam geht von der Annahme aus, dass psychische Störungen (Ängste, Depressionen, Suchterkrankungen) genetisch beeinflusst sind. Zwar haben alle unsere Gefühle, Gedanken und unser Verhalten eine biochemische Grundlage; dennoch sind Ängste, Depressionen und Suchterkrankungen (auch das Abhängigkeitspotential von Suchtmitteln) nicht genetisch bedingt. Der Glaube an die genetische Bedingtheit sozialer, psychologischer Probleme scheint heute jedoch weiter verbreitet zu sein als zur Blütezeit der Eugenik.2
Auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die das Entstehen der Eugenik in den 20er- und 30er-Jahren begünstigten, ähneln denen von heute: militärische Hochrüstung, instabile wirtschaftliche Entwicklung, Börsenkrise, Arbeitslosigkeit. Die Forderung nach wirtschaftlicher Effizienz war damals wie heute ein zentrales Thema, in den USA ebenso wie in Europa. Da bot die Eugenik die Möglichkeit, seelisch und körperlich Kranke, die als wirtschaftliche Belastung angesehen wurden, zu beseitigen, um einen gesunden, leistungsfähigen «Volkskörper» entstehen zu lassen.
Mit der gegenwärtigen Verfügbarkeit von genetischen Tests und Fruchtwasseruntersuchungen hat bereits eine Art «Laissez faire»-Eugenik (Philip Kitcher) Einzug gehalten. Infolge des zunehmenden Drucks von Wirtschaft und Politik auf Familien, Risiko-Nachwuchs nicht zu kriegen bzw. abzutreiben, werden reproduktive Entscheidungen in bezug auf genetische Defekte schon heute durchgesetzt. Es handelt sich um eine Art «Eugenik durch die Hintertür» (Troy Duster). Dabei stellt sich die Frage, ob wirtschaftlicher Druck oder der Druck der öffentlichen Meinung so viel anders oder weniger heimtückisch ist als der staatliche Druck diktatorischer Regime?2

Akademisch-industrieller Komplex

Hinter Sesam offenbart sich ein akademisch-industrieller Komplex aus Pharma-Konzernen, Hochschulen und eine vom Nationalfonds gelenkte Wissenschaftspolitik, welche die öffentliche Hochschulforschung privatwirtschaftlichen und politischen Interessen unterstellt (BFT-Botschaft 2004–2007). Deshalb werden vor allem Forschungsvorhaben gefördert, die politisch und wirtschaftlich effizient scheinen; wirtschaftlich, insofern sie horrende Gewinne für die Konzerne abwerfen, politisch, indem sie psychosoziale Probleme – gemäss New Public Management – angeblich kostengünstig verwalten helfen.
Die Schweiz gilt als geradezu prädestiniert für Sesam, so Dieter Imboden, Präsident des Forschungsrates des Schweizerischen Nationalfonds, und zwar wegen des zuverlässigen Meldewesens, wegen der stabilen Bevölkerungssituation und wegen der guten Verfügbarkeit pränataler Diagnostik. Hinzu kommt, dass die Schweiz in Sachen Eugenik (Erbgesundheitsforschung) historisch nicht belastet ist, ganz im Gegensatz zu Deutschland, wo infolge der grauenvollen Nazi-Experimente eine solche Massenuntersuchung mit genetischen Daten kaum durchsetzbar wäre. Deshalb hat sich das von ausländischen Gutachtern aus Grossbritannien, Deutschland und den USA dominierte Gremium des Schweizerischen Nationalfonds auch für den Standort Schweiz entschieden.
Und Basel bietet die besten Voraussetzungen dafür, nicht zuletzt wegen der Nähe universitärer Forschung zur Pharmaindustrie, die solche Gen-Studien äusserst schätzt und grosszügig Geld gibt. Denn hier winkt das grosse Geschäft der Zukunft. «Die Konzepte […]», so die Erklärung des Pharma-Konzerns Roche, der hinter Sesam steht, «stimmen völlig überein mit den Langzeitstrategien von Schweizer pharmazeutischen Firmen wie Novartis und Roche […], die zum Ziel haben, neue therapeutische Ansätze zu bestimmen, um Menschen mit psychischen Krankheiten und Verhaltensstörungen zu helfen.»3 Da Beratung und Psychotherapie usw. angeblich zu langwierig und zu teuer seien, müssten sie durch effizientere ersetzt werden, und zwar durch gentechnologische Verfahren oder durch Medikamente, welche auf molekulare Abläufe im Gehirn Einfluss nehmen.
Eigens dafür wurde am Psychologischen Institut der Universität Basel ein Lehrstuhl für «Molekulare Psychologie» geschaffen, der mit Professor Andreas Papassotiropoulos besetzt wurde. Papassotiropoulos war von 2000–2004 Group Leader für Clinical Genetics in der Abteilung für Psychiatrische Forschung der Uni Zürich. Im Rahmen des Sesam-Projekts leitet er die Studien über den Zusammenhang zwischen genetischen Faktoren und der Entwicklung psychischer Erkrankungen.

Missbrauch vorprogrammiert

Mit Hilfe von Sesam soll eine gigantische Datensammlung über biologische Eigenschaften von mehreren tausend Menschen angelegt, und vielfältige psychologische und soziologische Daten sollen damit verknüpft werden. Diese Daten können in beliebige, ökonomisch und politisch opportune Zusammenhänge gebracht werden und für den Einzelnen wie für die Gesellschaft heute nicht voraussehbare Konsequenzen haben. Eine gigantische Datenbank mit Informationen von Tausenden von Menschen stelle eine grosse Versuchung dar, so der Sesam-kritische Basler Appell, der deshalb fordert: Keine Gen-Forschung an Menschen, bevor die ethischen und rechtlichen Zweifel ausgeräumt sind und die grosse Gefahr des Missbrauchs gebannt ist!3
In Basel hat man im Oktober begonnen, schwangere Frauen für die Studie zu rekrutieren. An den Hochschulen in Zürich, Bern, Lausanne und Genf wird man voraussichtlich erst nächstes Jahr mit der Suche nach Studienteilnehmer(innen) beginnen können. Ob dann allerdings die Ethik-Kommissionen die Studie in den anderen Kantonen durchwinken, ist fraglich.
Inzwischen kommt Widerstand von Bürgerinnen und Bürgern. Von Wissenschaftern, Ärzten und Intellektuellen wird gefordert, vereinfachten genetischen Erklärungen für soziales Verhalten, wie sie der Sesam-Studie zugrunde liegen, entgegenzutreten, sowohl in fachlichen wie auch in populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen.
Bürgerinnen und Bürger verlangen berechtigterweise Transparenz in Sachen Sesam, denn schliesslich wird die Studie zu einem Grossteil mit öffentlichen Mitteln finanziert.6 In der Debatte um die elektronische Gesundheitskarte setzen sie sich für ein Krankenversicherungssystem ein, das nicht diskriminiert, sondern Menschen mit Risikoprofilen schützt. Sie verlangen auch eine Abkehr von der neoliberalen Globalisierungsdoktrin, die nur zu mehr Krieg, verknappten Ressourcen, verschärfter Konkurrenz und Entsolidarisierung der Gesellschaft führt. So soll verhindert werden, dass gesellschaftspolitische und wirtschaftliche Bedingungen entstehen, unter denen Bevölkerungskontrolle und eugenische Lösungen einmal mehr als akzeptabel angesehen werden.2 •


1 Tobias Salander: Rezension von Becker/Beham «Operation Balkan: Werbung für Krieg und Tod» – Oder über die Kolonialisierung der Medien durch die PR-Industrie. In: Zeit-Fragen Nr. 8 vom 27.2.2007
2 Allen, Garland E.: Genetik, Eugenik und die Medikalisierung des sozialen Verhaltens: Lehren aus der Vergangenheit. In: Endeavour, Bd. 23(1), 1999
3 Sesam-Riegel für das seelische Wohlbefinden, www.baslerappell.ch; siehe auch www.sesam swiss.ch, sesam.twoday.net
4 Rothschild, Berthold: Viadukte über das Jammertal Psychiatrie. Analysieren wollen und können viele, mitfühlen und nachempfinden nur wenige. «Neue Zürcher Zeitung», 13.1.2007, abgedruckt in Zeit-Fragen am 3.4.2007
5 Vogel, Benno: Die Seele im Gewebe suchend, in: Die Wochenzeitung 37/13.9.2007, Seite 27
6 Siehe: www.baslerappell.ch; www.sesamswiss.ch, sesam.twoday.net
Nationalrat öffnet fremdnütziger Forschung die Tür


Anfang Oktober genehmigte der Nationalrat das «Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin» des Europarats. Der Basler Appell gegen Gentechnologie kritisiert die Vorlage schon seit Jahren. Zu hoffen ist, dass der Ständerat [in der aktuellen Wintersession 2007, Anm. der Red.] die Notbremse ziehen wird.
Im Europäischen Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin werden erstmals auf internationaler Ebene die wichtigsten Grundsätze in den Bereichen Einwilligung in medizinische Eingriffe, Schutz der Privatsphäre, Genetik, Organ entnahme für Transplantationszwecke und medizinische Forschung verbindlich geregelt. Das Übereinkommen, kurz auch «Bioethikkonvention» genannt, trat 1999 in Kraft. Doch wegen seiner zu liberalen Grundsätze wurde es bis heute von Staaten wie Deutschland, Frankreich, Italien und Österreich nicht ratifiziert.

Vorschnelle Ratifizierung

In der Schweiz soll sich dies nun ändern. Der Nationalrat folgte Anfang Oktober der Empfehlung der vorbereitenden Kommission und befürwortete eine vorschnelle Ratifizierung mit 121 zu 17 Stimmen. Damit wird der fremdnützigen Forschung an nichteinwilligungsfähigen Menschen hier in der Schweiz der Weg geebnet. Dies ist insofern nur schwer nachzuvollziehen, als die nationale Gesetzgebung zum Thema noch in den Kinderschuhen steckt. Die Vernehmlassung zum Humanforschungsgesetz ist erst gerade abgeschlossen.

Öffentliche Diskussion nötig

Geht es nach dem Nationalrat, soll das Pferd nun von hinten aufgezäumt werden. Anstelle der dringend notwendigen öffentlichen Debatte darüber, auf welche ethischen Standards man sich in der Schweiz festlegen will, sollen nun Fakten geschaffen werden, die durch die Hintertür einen Paradigmenwechsel einleiten. Denn mit der Befürwortung der Bioethik konvention wird besonders schutzwürdigen Menschen wie Behinderten oder Kindern das Grundrecht auf Unversehrtheit abgesprochen. Eine Sistierung des Geschäfts ist aus der Sicht des Basler Appells gegen Gentechnologie unabdingbar, damit eine öffentliche Diskussion lanciert werden kann. Nur so ist es möglich, dass die Debatte um die Forschung am Menschen in der Schweiz auch wirklich geführt wird.

Abstimmung im Frühjahr 2009

Erst kürzlich wurde die Botschaft, vorerst nur zum Verfassungsartikel über die Forschung am Menschen, veröffentlicht. Dies bedeutet, dass die Vorlage über kurz oder lang in den Räten beraten werden wird. Geht es nach dem Bundesrat, so soll der Verfassungsartikel bereits im Frühjahr 2009 vor das Volk kommen. Das Humanforschungsgesetz allerdings braucht etwas mehr Zeit. Der Gesetzesentwurf wird zur Zeit überarbeitet, geplant ist die Botschaft auf Ende 2008.

Schiebt Ständerat einen Riegel?

Wichtige ethische Grundwerte dürfen nicht unüberlegt und im Eilzugtempo untergraben werden. Es bleibt zu hoffen, dass die Kleine Kammer ein Einsehen hat und der Ratifizierung der Bioethikkonvention im letzten Moment den Riegel schiebt. Damit bliebe der Weg frei für eine intensive und vor allem ehrliche Diskussion des Wegs, den die Schweiz in Bezug auf die fremdnützige Forschung an Urteilsunfähigen einschlagen will.
Quelle: Aha! Rundbrief des Basler Appells gegen Gentechnologie 5/2007


Bioethikkonvention – Paradigmen wechsel durch die Hintertür
Fremdnützige Forschung an Nichteinwilligungsfähigen?

Was Deutschland, Frankreich, Italien und Österreich abgelehnt haben, dem soll nun die Schweiz den Weg ebnen? Ratifiziert die Schweiz die Bioethikkonvention des Europarates, sinkt das Schutzniveau zum Beispiel für Ungeborene, Kleinkinder oder Alzheimer-Kranke in unserem Land. Der Nationalrat befürwortete Anfang Oktober mit 121 zu 17 eine übereilte Ratifizierung des Abkommens. Nun liegt alle Hoffnung auf dem Ständerat, der in Woche zwei der Wintersession 2007 dieses Geschäft behandelt. Lehnt er ab, bleibt die Chance gewahrt auf eine «ehrliche und offene Diskussion des Wegs, den die Schweiz in bezug auf die fremdnützige Forschung an Urteilsunfähigen einschlagen will.»
(Siehe Kasten: «Nationalrat öffnet fremdnütziger Forschung die Tür»)


Wie mit PR-Kampagnen «Sesam» der Öffentlichkeit verkauft wird

Eine junge schwangere Frau mit einem Kind an der Hand, gekleidet in ein eng anliegendes rotes T-Shirt mit Schweizerkreuz wirbt für Sesam. Jung, dynamisch, national. Schliesslich liege ihr die Gesundheit ihrer Kinder am Herzen, so die Aussage des Hochglanzprospekts. Dabei geht es um fremdnützige Forschung an Einwilligungsunfähigen (siehe Kasten: «Nationalrat öffnet fremdnütziger Forschung die Tür»). So soll Müttern weisgemacht werden, dass die Teilnahme an Sesam der Gesundheit ihrer Kinder etwas bringt.
Beauftragt mit der PR-Kampagne wurde die Agentur Opcon Communications von Regensberg ZH, die laut eigener Aussage spezialisiert ist auf «Marketing communication campaigns» oder: wie man mit «value-creating mechanisms» zweifelhafte Produkte, dazu gehören auch Forschungsvorhaben, der Öffentlichkeit als etwas Gutes verkauft.

Freitag, 26. Oktober 2007

Frag nach Sesam...

Es tut sich was: Die Homepage von Sesam ist, wenn schon nicht inhaltlich, doch formal neu gestaltet. Passend zu den Eidgenössischen Wahlen springt einem auf der Sesam-Startseite eine Frau mit Bauch ins Auge: Trotz der kalten Temperaturen nur leicht bekleidet in einem knapp sitzenden roten Shirt mit unverkennbar weissem Kreuz.
Für spontan entschlossene patriotische Sesam-EnthusiastInnen (mit Schweizer-Pass?) leider enttäuschend: Sie können sich noch immer nicht übers Internet für Sesam anmelden. Aber: Neu gibt es die (kostenpflichtige) ultimative Sesam-Infoline, die einem wohl in solchen Fällen weiter hilft. Das Sesam-Infomaterial ist auch produziert: Frisch ab Presse gibts den Flyer für Einsteiger oder aber die ausführliche 150grämmige Variante für Festentschlossene. Die rotgewandete schwangere Patriotin lächelt einem auch dort entgegen.
Was zudem auffällt: Ist das eigene Kind in der Kinderkrippe der Uni Basel untergebracht, so wird man dort (auch via Flyer) um Teilnahme an (einer) der Sesam-Vorstudie(n) gebeten: Für 3 Tage ein Papier-Tagebuch, danach ein elektronisches Tagebuch führen, Fragebögen ausfüllen und das Kind bekommt einen Aktigraph an den Unterschenkel. Die Belohnung für den Einsatz: Chf 120.- sowie ein Buchgeschenk.

Freitag, 21. September 2007

Basellandschaftliche Zeitung / MLZ 19.09.2007: Einblick in die Wissenschaft gewinnen

Es geht los: Das Forschungsprojekt Sesam startet Anfang Oktober. Gesucht werden schwangere Frauen; Andrea Masek stellt die Fragen.

Wie nun genau Teilnehmerinnen und Teilnehmer für das Nationale Forschungsprojekt Sesam gewonnen werden, erklärt der stellvertretende Direktor Alexander Grob.

Herr Grob, wann und wo geht es mit Sesam los?

Alexander Grob: In Basel im Oktober. In der Universitäts-Frauenklinik knüpfen wir den ersten Kontakt zu schwangeren Frauen. In der Regel lassen Schwangere in der zehnten bis zwölften Woche einen ersten Ultraschall machen. Der untersuchende Arzt oder die Ärztin machen sie dort darauf aufmerksam, dass das Spital Sesam unterstützt. Der Frau wird gesagt, sie könne mit einer Sesam-Kontaktperson im Spital sprechen. Diese werde sie darüber informieren, was Sesam ist. Willigt sie ein, werden in standardisierter Form erste Informationen zu Sesam gegeben.

Was meinen Sie mit standardisierter Form?

Grob: Alle Sesam-Mitarbeiterinnen werden so geschult, dass sie die Teilnehmerinnen einheitlich aufklären können. Beim Erstkontakt wird vorab geklärt, ob die Sprachkenntnisse ausreichen. Danach gibt es generelle Informationen über Studie, Ablauf und Untersuchungszeitpunkte.

Überfährt man damit die Frauen nicht etwas?

Grob: Keineswegs, es steht der Frau ja frei, mit der Kontaktperson zu sprechen. Anschliessend an das Gespräch wird die ausführliche Informationsbroschüre für Studienteilnehmende abgegeben, ebenso das Heft mit der Einverständniserklärung. So bekommen die interessierten Frauen und ihre Angehörigen Gelegenheit, sich zu Hause in Ruhe alles anzuschauen. Sie können auch jederzeit ihre Kontaktperson anrufen und Fragen klären.

Wer sind diese Kontaktpersonen?

Grob: Es sind alles Psychologinnen, die extra für diese Gespräche ausgebildet worden sind.
Wie lange geben Sie den Frauen Zeit, sich zu entscheiden?
Grob: Vier bis sechs Wochen. Nehmen die Frauen in diesem Zeitrahmen nicht selber Kontakt auf, rufen wir sie an. Sagen sie ja, laden wir sie zu einem Gespräch ein. Hier werden alle Punkte der Einverständniserklärung nochmals gemeinsam besprochen. Somit wird sichergestellt, dass sie genau wissen, welchen Risiken sie sich aussetzen.

Welchen Risiken setzt sie sich denn aus?

Grob: Unseres Wissens im psychologischen Bereich keinen. Dafür haben wir weltweit die Verantwortlichen von grossen Studien persönlich angeschrieben. Wir fragten, ob die Teilnehmenden irgendwelchen direkten oder indirekten Schaden genommen haben. Alle sagten sie nein. Wir sprechen hier dennoch von Risiken, um zu verdeutlichen, dass es sich hier um eine Studie handelt und nicht um eine individuelle psychologische Betreuung, bei der die Frau Hilfe für ihre persönlichen Probleme erhält. Das gehen wir mit den Teilnehmerinnen nochmals genau durch, bevor sie die Einwilligung unterschreiben. Wir halten uns dabei an internationale Standards.

Einmal unterschrieben, ist ein Ausstieg möglich?

Grob: Ja, der Ausstieg ist jederzeit und ohne einen Nachteil für die Frau möglich.

Für Ihre Studie brauchen Sie ja nicht nur Frau und Kind, sondern auch Partner und Grosseltern. Wie gewinnen Sie diese?

Grob: Die Frauen werden beim zweiten Gespräch gefragt, ob sie bereit sind, die Adressen ihres Partners/Mannes anzugeben wie auch jene ihrer Eltern und Schwiegereltern. Wir nehmen folglich Kontakt auf und erläutern ihnen die Studie.

Was ist, wenn sie nicht wollen?

Grob: Wir lassen sie wissen, dass wie auch immer sie sich entscheiden, es keine Konsequenzen für ihre Tochter/Schwiegertochter hat. Die Frau kann trotzdem teilnehmen.

Das würde aber bedeuten, dass wichtige Daten für Ihre Studie, die auf drei Generationen aufbaut, nicht gewonnen werden können.

Grob: Richtig, die Daten sind dann nicht vollständig. Aber wir lassen auch die Möglichkeit offen, dass jemand nur an bestimmten Fragestellungen mitmacht. Wenn jemand sagt, bei allem, was mit Biologie zu tun hat, möchte ich nicht mitmachen, akzeptieren wir das.

Im Vorfeld von Sesam ist immer wieder die nicht einholbare Zustimmung der Kinder diskutiert worden. Wer entscheidet nun über das Kind?

Grob: Eigentlich könnte die Mutter alleine darüber entscheiden. Doch wir haben beschlossen, wir wollen die Einwilligung sowohl der Mutter wie des Vaters.

Wie und wann werden die ersten Daten erhoben?

Grob: Bei Frau und Kind in der 20. Schwangerschaftswoche. Es folgen Untersuchungen in der 32. Woche. Der Vater wird ebenfalls in der 20. Woche befragt. Die Grosseltern haben in der 32. Woche einen ersten Untersuchtungstermin.

Was genau wird bei der Frau beim ersten Mal gemacht?

Grob: Bei Frau und Kind sind es Untersuchungen im Rahmen der medizinischen Routine. Bei der Frau werden Blut, Urin und Speichel genommen. Im Speichel und Urin kann man feststellen, wie stark die Person belastet ist. Die Frau wird zudem befragt und erhält auch Fragebögen.

Was wollen Sie in den Fragebögen wissen?

Grob: Wie sieht die Tagesorganisation aus? Wie ist sie jetzt, wie war das am Anfang der Schwangerschaft? Welche Vereinbarungen gibt es zwischen den Partnern? Wir fragen auch nach der Zukunft, dem möglichen Wiedereinstieg etc. Wir wollen wissen, wie sie ihren Alltag erlebt, wie das soziale Umfeld reagiert? Im Interview gehts um ihren psychischen Zustand, um psychische und medizinische Symptome und die soziale Situation.

Symptome?

Grob: Zum Beispiel, ob sie durchschläft oder ob Einschlafprobleme bestehen. Es ist ein klinisches Interview. Gefragt wird auch nach Medikamenten, Essverhalten etc.

Reden wir hier von Frau und Mann?

Grob: Ja, beim Mann werden die gleichen Untersuchungen und Befragungen gemacht.

Mit wie vielen Teilnehmenden rechnen Sie?

Grob: Das ist eine schwierige Frage. Als wir die Studie planten, taten wir dies aufgrund von Auftretenshäufigkeiten von bestimmten psychischen Erkrankungen. Wir wissen aufgrund von epidemologischen Studien, dass im frühen Erwachsenenalter ein gewisser Anteil der Bevölkerung an einer spezifischen psychischen Krankheit leidet. Rechnet man zurück, brauchen wir eine minimale Zahl von Teilnehmenden, damit die Entwicklungspfade zu dieser Krankheit erst verstanden und wissenschaftlich untersucht werden können. Aufgrund dieser Überlegungen ist die Zielgrösse von 3000 teilnehmden Familien zustande gekommen. Die Kliniken haben uns angegeben, wie viele Frauen pro Jahr zu ihnen für die Vorsorge ab dem ersten Schwangerschaftsdrittel und die Geburt kommen. Für Basel heisst das, wir sollten innert zwei Jahren um die 250 Frauen gewinnen können.

Die vorher Fragen beantwortet haben wollen . . .

Grob: In der Broschüre finden sie sehr viele Fragen, bei denen wir dachten, dass sie gestellt würden. Über den wissenschaftlichen Rahmen der Studie, die beteiligten Forscher, die Belastung, den möglichen Ausstieg etc.

Und kritischere Fragen nach Datenschutz etwa?

Grob: Auch hier geben wir offen Auskunft, wie wir die Daten handhaben. Wie wir die psycho-soziologischen Daten speichern, wie › von diesen getrennt › die biologischen Daten aufbewahrt werden. Es war ja eine der Auflagen der Ethikkommission, die biologischen Daten der Kinder getrennt an einem fremden Ort in einer Biodatenbank aufzubewahren. Die Daten werden dann nicht individuell ausgewertet; es werden keine Rückschlüsse auf einzelne Personen gemacht oder ermöglicht.

Sie mussten ja auch einwilligen, die Daten der Kinder erst zu verwenden, wenn diese selbst ihr Einverständnis geben können.

Grob: Zuerst möchte ich präzisieren: Die psycho-sozialen Daten der Kinder, die in Beobachtungssituationen gewonnen werden, dürfen wir schon jetzt auswerten. Die genetischen Daten, die DNA-Sequenz, dürfen wir erst auswerten, wenn die Kinder ihre Einwilligung gegeben haben. Diese Auflage hat die Ethikkommission gemacht und diese halten wir ein, auch wenn wir dies aus der Perspektive möglichen Erkenntnisgewinns und damit möglichem Nutzens zum besseren Verständnis von Krankheit und Gesundheit bedauern.

Wann wird das Kind denn zum ersten Mal tatsächlich untersucht?

Grob: Nach der Geburt. Die ersten Tage sollen Mutter und Kind aber fast unbelastet bleiben. Wir erfassen nur Minimales: Wir nehmen Speichel vom Kind und es wird der obligate Fersenstich gemacht. In der ersten Lebenswoche heisst das rund 20 Minuten. Die meisten dieser Untersuchungen erfolgen im Rahmen der Spitaltroutine.

Und danach?

Grob: Dann gibt es Erhebungen in der 6. Woche, im 6., 12. und 24. Monat. Nachher werden die Abstände noch grösser, ungefähr bis zum 6. Lebensjahr einmal pro Jahr, danach alle zwei Jahre. Die Veränderungen am Anfang des Lebens sind enorm, deshalb die grössere Frequenz. Die Basisabklärung ist dabei jedes Mal dieselbe. Weiter gibt es aufs Alter bezogene Verhaltungsbeobachtungen, es wird etwa geschaut, wie verhält sich das Kind, wenn die Eltern mit dem Kind spielen.

Verhält sich das Kind nicht anders, wenn ein Fremder dabei ist und sind demzufolge die Beobachtungen nicht verzerrt?

Grob: Kinder erleben viele Situationen, in denen fremde Personen natürlicherweise anwesend sind. Auch die Untersuchungen von Sesam sind eine derartige Situation. Das Kind kommt mit den Eltern zu uns; es spielt beispielsweise in unserem Spielzimmer.

Was müssen respektive dürfen Sie unternehmen, wenn Sie feststellen, dass etwas nicht stimmt?

Grob: Wir haben da klare Vorgaben: Im Kontext eines Offizialdelikts, zum Beispiel eines Miss- brauchs von Mutter oder Kind, wenden wir die gleichen Regeln an wie das Universitätsspital, wir müssen informieren. Liegt eine akute Gefährdung an Leib und Seele einer Person vor, schreiten wir helfend aus berufsethischen Gründen ein. Bei allem anderen können wir nicht direkt einschreiten.

Das tönt ernst. Profitieren die Teilnehmenden auch davon?

Grob: Zum einen gewinnen Mutter und Vater Einblick in die Wissenschaft. Zum anderen drücken sie gegenüber Kind und Eltern eine gewisse Haltung aus. Sie stehen zu etwas. Sie sehen sich als Teil einer grösseren Gemeinschaft, für die sie etwas einbringen. Das Kind wird irgendwann fragen, wieso sie da mitgemacht haben. Die Eltern müssen dann Stellung beziehen. Das ist wie eine Erziehungshaltung. Ich gebe Werte an mein Kind weiter und vertrete diese auch. Ich persönlich hoffe, die Kommunikation in der Familie wird angeregt.

Hoffen müssen Sie auch, dass das Kind › dann vielleicht eine alles ablehnde Jugendliche › einst die Zustimmung zum Gebrauch der Daten gibt.

Grob: Ich bin überzeugt, wenn wir die Kinder, Eltern und Grosseltern fair behandeln, das heisst offen über die Ziele der Studie informieren sowie transparent Einblick in die Untersuchungsanordnung geben, machen sie mit. Die Kinder mögen dann aufmüpfig sein, aber sie werden erkennen, dass sie immer gut behandelt worden sind und über die Freigabe der Daten selber entscheiden. Andere Studien zeigen, dass die Kinder in der Adoleszenz nicht ausgestiegen sind.

«Wenn jemand sagt, alles was mit Biologie zu tun hat, möchte ich nicht mitmachen, akzeptieren wir das.»
«Die genetischen Daten dür- fen wir erst auswerten, wenn die Kinder ihre Einwilligung gegeben haben.»
«Andere Studien zeigen, dass die Kinder in der Adoleszenz nicht ausgestiegen sind.»

Donnerstag, 13. September 2007

WoZ 13.9.: Der forschungspolitische Kaninchentrick

Roland Fischer in der WoZ:
Demnächst soll es losgehen: Nachdem sich das Bewilligungsverfahren für Sesam (Swiss Etiological Study of Adjustment and Mental Health) länger hingezogen hat, als es den Projektverantwortlichen lieb war, will man im Oktober mit der Rekrutierung schwangerer Frauen für die gross angelegte Studie zur psychischen Entwicklung beginnen. Da bislang erst die Ethikkommission beider Basel (EKBB) grünes Licht gegeben hat, rekrutiert man vorderhand am Sesam-Hauptstandort. In Zürich, Bern, Lausanne und Genf wird man voraussichtlich erst nächstes Jahr mit der Suche nach Studienteilnehmerinnnen beginnen können. Die Zürcher Ethikkommission wird die Studie im Oktober unter die Lupe nehmen, in Bern wollte man zum Termin keine Auskunft geben. In der Romandie wurden die Gesuche noch nicht eingereicht. Ob sich die Hoffnung der Sesam-Verantwortlichen erfüllt, dass die Studie nach dem EKBB-Entscheid in den anderen Kantonen einfach durchgewinkt wird, ist fraglich. In Zürich wird es laut Niklaus Herzog, dem Sekretär der Kommission, vermutlich kein abgekürztes Bewilligungsverfahren geben.
Die Sesam-WissenschaftlerInnen sind in Eile, denn sie befürchten, nicht so viele TeilnehmerInnen wie erhofft zu finden. 3000 Familien will man bis 2009 für die Kernstudie gewinnen, und nochmals an die 1000 Familien für diverse Teilstudien. Alexander Grob, stellvertretender Direktor von Sesam, gibt zu, dass das Ziel ambitiös sei. Man strebt eine Quote von 75 Prozent der angefragten Familien an. Für die Kernstudie rekrutiert man an Unispitälern, die werdenden Mütter sollen direkt von den behandelnden ÄrztInnen zur Teilnahme bewogen werden. Für den erheblichen Aufwand werden die TeilnehmerInnen (neben der Mutter
und ihrem Kind auch der Vater und wenn möglich die Grosseltern) finanziell nicht entschädigt. Aber immerhin: Sesam kommt zustande, auch wenn sich deutlich weniger als 3000 Familien verpflichten sollten. Noch vor einem halben Jahr stand ein grosses Fragezeichen hinter der Studie. Die Finanzierung der ersten Projektphase war zwar gesichert, der Nationalfonds hat Sesam den Status eines nationalen Forschungsschwerpunkts verliehen, und Roche hat einen grossen Anteil der verlangten Drittmittelfinanzierung übernommen.
Doch dann erwies sich die EKBB als Spielverderberin. Man beurteilte die Studie zwar prinzipiell positiv, doch eine Auflage hatte es in sich: Die Kommission verlangte, auf genetische Tests an Kindern bis zu deren Volljährigkeit zu verzichten. Damit geriet das ganze Studiendesign in Schieflage: Die biologisch-genetische Perspektive ist ein zentraler Aspekt von Sesam. Und einfach zu warten, bis die Einwilligung der Kinder vorliegt, war keine realistische Alternative: «Zwanzig Jahre sind ein enormer Zeitraum im wissenschaftlichen Kontext», sagt Alexander Grob.
Doch plötzlich zauberten die Sesam-Verantwortlichen einen neuen Schwerpunkt aus dem Hut: die Epigenetik. Das Forschungsgebiet ist der letzte Schrei auf dem molekularbiologischen Laufsteg, es untersucht nicht die genetische Veranlagung, sondern deren Regulation. Der genetische Einfluss ist dem Menschen ein für alle Mal eingeschrieben, die Epigenetik hingegen ist in ständigem Fluss, weshalb man beim Sammeln diesbezüglicher Informationen nicht zuwarten kann. Die EKBB hat der Entnahme von Speichelproben bei Säuglingen für epigenetische Tests zugestimmt. Und sie hat den Sesam-ForscherInnen das Versprechen abgenommen, damit keine genetischen Tests zu machen - denn genetisches und epigenetisches biologisches Material lassen sich nicht trennen.
Dem von Sesam-GegnerInnen geäusserten Vorwurf, die Epigenetik sei erst nach dem negativen EKBB-Entscheid aufgetaucht, um die biologischen Aspekte von Sesam zu retten, widerspricht Urs Christ vom Nationalfonds: «Die Epigenetik war schon Teil der ersten Forschungseingabe.» Man habe das ganze Projekt nach dem Entscheid allerdings von einem internationalen Expertengremium nochmals begutachten lassen. Es stand also durchaus die Frage im Raum, ob Sesam ohne Genetik überhaupt noch Sinn ergab. Was genau mit den Speichelproben geschieht, ist indes noch nicht klar. Man sammelt erst mal auf Vorrat, bis die entsprechende Methodik ausgearbeitet ist, die Proben werden in einer externen Biobank aufbewahrt.
Die EKBB hat allerdings ein Vetorecht: Die Sesam-ForscherInnen müssen genaue Protokolle der geplanten Tests einreichen, und die Ethikkommission behält sich vor, bei Bedenken auf ihren prinzipiell positiven Entscheid zurückzukommen. Das Zittern im Sesam-Lager ist also noch nicht vorbei.

WoZ 13.9.: "Die Seele im Gewebe suchend"

Benno Vogel in der WoZ:
Es ist nicht einfach, einen Zusammenhang zwischen genetischer Veranlagung und psychischem Leid nachzuweisen. Trotzdem taugt das Konzept bestens dazu, Forschungsmillionen einzuwerben.

Begonnen hat die Suche nach den Genen, die einen Einfluss auf den seelischen Zustand des Menschen haben sollen, Anfang der neunziger Jahre. Technische Fortschritte in der molekularen Genetik ermöglichten es damals erstmals, die Wirkungen von einzelnen Genvariationen im grossen Stil zu unter­suchen. Begeistert von den neuen Möglichkeiten machten sich auch Forschende aus dem psychologischen Bereich daran, das menschliche Erbgut zu durchleuchten. Rasch waren die ersten Erfolge zu vermelden - die Gene für Depression, Angstneurosen oder Schizophrenie schienen gefunden.

Doch so rasch die Erfolge erzielt wurden, so schnell verflog die Euphorie zumeist wieder, wenn die Forschenden genauer hinschauten. Methodische Mängel, schlecht konzipierte Studien und zu kleine Datensätze sorgten ­dafür, dass sich viele der vermeldeten Erfolge als falsch erwiesen.

Rauchen, Asbest, Trauma

Auch bei jenen Resultaten, die einer vertieften Analyse standhielten, mussten die Forschenden feststellen, dass Gene nur einen sehr schwachen Einfluss haben. Wie schwach, das zeigt ein Blick auf das Odds Ratio. Dieser statistische Wert beziffert Krankheitsrisiken. Das Odds Ratio zwischen Rauchen und Lungenkrebs zum Beispiel liegt bei etwa 20, dasjenige zwischen Asbestexposition und Krebs bei rund 15 und das­jenige zwischen einem traumatischen Erlebnis und dem Ausbruch einer Depression bei ungefähr 12.

Das Odds Ratio zwischen einzelnen Genen und psychischen Krankheiten hingegen beträgt im Schnitt gerade mal 1,3. Mittlerweile ist auch ExpertInnen klar geworden, dass das Konzept «Gen X verursacht psychische Krankheit Y» nicht der Realität entspricht.

Haben weitere Untersuchungen - wie die Sesam-Studie (vgl. nebenstehenden Artikel) - einen Sinn, wenn sich bisher bloss schwache genetische ­Einflüsse auf die Psyche zeigten? Die meisten Forschenden sagen Ja. Sie vertrauen darauf, dass mit gründlicheren Methoden schliesslich doch noch Gene gefunden werden können, die einen starken Einfluss auf die Psyche haben.

Zudem haben die Forscher­Innen ihre Konzepte angepasst. Sie suchen nicht mehr nach genetischen Ursachen, sondern nach genetischen Anfälligkeiten, und im ­Visier sind nicht mehr einzelne Gene, sondern Genprofile, also ­ganze «Genfamilien», die im Zusammenspiel ­eine menschliche Eigenart beeinflussen. Deshalb lautet auch die Frage nicht mehr: «Welches Gen macht depressiv?», sondern: «Welches genetische Profil bedingt, dass gewisse Menschen nach einem traumatischen Erlebnis depressiv werden, andere aber nicht?»

Ein weiterer Grund, weshalb die Mehrheit der Forschenden an genetischen Untersuchungen festhält, ist pragmatischer Natur. Selbst wenn nur Gene mit schwachen Einflüssen gefunden werden, eröffnen diese allemal neue Möglichkeiten für die Entwicklung von Medikamenten. Solche Versprechungen helfen bei der Beschaffung von Forschungsmitteln, egal, wie vage der pharmakologische Nutzen vorderhand ist.

Durchs Labyrinth zur Depression

Andere ForscherInnen stehen genetischen Analysen skeptisch gegen­über. Sie halten die Idee, dass psychische Krankheiten durch Untersuchungen des Erbguts erklärt werden können, für falsch. Als Grund fügen sie die Komplexität psychischer Krankheiten an. Ein Einblick: Etliche unterschiedliche Stoffwechselwege sind an seelischen Zuständen beteiligt, die dann als Depression diagnostiziert werden. Hinter jedem dieser Stoffwechselwege stehen Dutzende verschiedene Gene. Diese wieder­um interagieren nicht nur miteinander, sondern auch mit der Umwelt. Und dann spielen auch Selbstwertgefühl, Lebensgeschichte und Charakter der PatientInnen eine Rolle auf dem langen Weg vom Erbgut bis zur ausgeprägten Depression. Diese Komplexität lässt sich kaum entwirren, und deshalb bezweifeln diese ForscherInnen, dass sich aus genetischen Untersuchungen medizinisch nutzbares Wissen ableiten lässt.

In der Kritik steht auch der Ansatz, über Gene neue Angriffspunkte für Medikamente zu entdecken. Nur drei Prozent der Projekte, die diesen Ansatz verfolgen, schaffen es, eine neue Substanz in präklinische Tests zu bringen. Und von dort ist es nochmals ein langer Weg zum marktreifen Medikament.

Wo steckt die Psyche?

Während das Für und Wider genetischer Untersuchungen innerhalb der Forschergemeinde heftig diskutiert wird, beginnt sich eine neue Disziplin zur Untersuchung biologischer Krankheitsursachen zu etablieren: die Epigenetik. Hier geht es nicht um die Gene, sondern um deren­ Zustand - also die Frage, ob die Gene an- oder abgeschaltet sind. Der Zustand der Gene - Epigenom genannt - kann vererbt sein, ist aber auch durch die Umwelt beeinflussbar und wird mittlerweile als möglicher Faktor bei der Entstehung von Krankheiten angesehen. So sind auch bei den 3000 Kindern der Sesam-Studie epigenetische Untersuchungen geplant.

Noch steckt die Epigenetik in den Kinderschuhen. Im Hinblick auf ihre Anwendbarkeit bei psychischen Erkrankungen stellt sich jetzt schon eine interessante Frage: Wo steckt die Psyche? Da sich das Epigenom von Gewebe zu Gewebe und von Organ zu Organ unterscheidet, ist es womöglich nicht unerheblich, welches Epigenom man mit psychischen Zuständen in Verbindung zu bringen versucht. Bei Sesam schaut man den ProbandInnen dazu vorerst mal ins Maul: Die Forschenden werden den Kindern Zellen der Mundschleimhaut entnehmen.

Ob Genetik oder Epigenetik - hinter beiden Ansätzen steckt die Idee, Ursachen psychischer Krankheiten in der Biologie des Menschen zu finden. Dass die Biologie Ängste oder Depressionen zulässt, ist klar. Wenn aber weltweit zunehmend mehr Menschen wegen Ängs­ten und Depressionen behandelt werden, kann die Ursache dafür nicht im Erbgut liegen. Denn dieses ändert sich nicht wesentlich in kurzer Zeit. Die ­eigentlichen Gründe für die zunehmende Diagnose psychischer Krankheiten sind ausserhalb der Biologie und womöglich in den gesellschaftlichen Bedingungen zu suchen. Das Ziel der biologischen Untersuchungen bleibt vor diesem Hintergrund wirtschaftlich-pragmatisch: neue Psychotherapeutika entwickeln und damit den Menschen, die ein ungünstiges genetisches Profil haben, helfen, sich den herrschenden Bedingungen anzupassen. Die ­Sesam-Kinder werden in achtzehn Jahren, wenn sie mündig sind, entscheiden können, ob sie dieses Ziel unterstützen wollen oder nicht.

Donnerstag, 6. September 2007

Basellandschaftliche Zeitung/MLZ 6.9.07: Uni-Studie sorgt für Verwirrung

Psychologen Stress wegen Stress-Projekt

von Andrea Masek

«Mütter (und Väter) für Studie gesucht!» Dieser Aufruf hängt in diversen Instituten und Seminaren der
Universität Basel. «Wie wichtig ist die Zeit vor der Geburt für die Entwicklung eines Menschen?» wird auf dem Flugblatt gefragt. Um genau diese Frage zu beantworten, führt die Abteilung Klinische Psychologie und Psychotherapie der Fakultät für Psychologie der Uni Basel ein Projekt durch. Und dafür wird um Unterstützung gebeten.
Dieser Aufruf macht stutzig. Die Leser und Leserinnen werden sich zu recht fragen, ob das Ganze mit dem Nationalen Forschungsprojekt Sesam zu tun hat - eine Langzeit-Studie zur seelischen Gesundheit
der Schweizer Bevölkerung. Sesam hat für seine Hauptstudie kürzlich grünes Licht von der Ethikkommission beider Basel bekommen (die bz berichtete). Auch dort sucht man werdende Mütter, deren Partner und die Grosseltern.
Aber erst ab Anfang Oktober und in Basel ausschliesslich in der Frauenklinik des Universitätsspitals, wie der stellvertretende Direktor von Sesam, Alexander Grob, der bz versichert. Er betont, dass die auf den Flugblättern erwähnte Studie «Erfahrungen in Mamas Bauch» mit Sesam nichts zu tun habe, sondern ein davon ganz unabhängiges Projekt sei.

Umstrittene Speichelprobe
Ein Projekt, das der Studienleitung zufolge von der zuständigen Ethikkommission bewilligt worden ist (für eine Stellungnahme war gestern niemand erreichbar). Dies erstaunt, weil die Mütter auf dem Flugblatt unter anderem darum gebeten werden, Haare, Nägel und auch Speichel von sich und dem Baby zu sammeln. Gerade die Speichelprobe war und ist bei Sesam ein höchst umstrittener Punkt. Erst nach strengsten Auflagen durch die Ethikkommission beider Basel, wurde sie bewilligt. Verwendet werden dürfen die (speziell gesicherten) Proben jedoch erst, wenn das Kind erwachsen ist und seine Zustimmung zum Gebrauch gibt. Verwunderlich ist es deshalb nicht, dass sich der «Basler Appell gegen Gentechnologie» zum Projekt «Erfahrungen in Mamas Bauch» äussert- und gleichzeitig gegen Sesam schiesst. Er hat von Anfang an die Sesam-Studie angegriffen und die Speichelprobe ist ihm nach wie vor ein Dorn im Auge. Beim Projekt mit dem, in seinen Worten «naiven Titel» wittert er missbräuchliche Forschungspraktiken der Sesam-Verantwortlichen. In einer Medienmitteilung fragt er: «Ist dies ein verkapptes Sesam-Teilprojekt? Werden auf diese Weise durch die Hintertür zusätzlich Daten gesammelt, die Sesam später zugeführt werden sollen?»
Dem ist nicht so, wie die bz geklärt hat. Der Inhalt der Mitteilung des Basler Appells sei spekulativ und irreführend, heisst es seitens der Sesam-Verantwortlichen. Sie kritisieren auch, dass der Appell einmal mehr die Unbescholtenheit der Forschenden in Zweifel zieht.
Der Basler Appell wird aber auch dieses Projekt der faultät für Psychologie ganz genau unter die Lupe nehmen. Selbst wenn auf dem Flugblatt steht, dass keine genetischen Analysen durchgeführt, sondern
nur verschiedene Stresshormone untersucht würden.
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Sesam Watch

Beobachtungen und Notizen zum Schweizer NCCR "Sesam", der 3'000 Kinder und ihr Umfeld vom ersten Ultraschallbild an 20 Jahre lang beobachten wollte (vorzeitiger Abbruch: 13.3.08). Autonom, skeptisch, ehrenamtlich. Kontakt: sesamwatch@gmail.com

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