Archiv

Mai 2024
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 1 
 2 
 3 
 4 
 5 
 6 
 7 
 8 
 9 
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
 
 
 
 
 

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Aargauer Zeitung: "Margraf...
Bis vor einigen Monaten war unklar, ob Jürgen Margraf...
sesaminput - 21. Nov, 10:21
Geht Margraf doch nicht...
Jürgen Margraf habe sich noch nicht endgültig festgelegt,...
sesaminput - 21. Nov, 10:18
interessante Info zur...
Renato L. Galeazzi hat das Staatsexamen 1968 in Bern...
so nicht - 16. Okt, 18:25
NZZ-Leserbrief 13.8.09,...
Das Papier der Arbeitsgruppe «Lesson learned» (leider...
sesaminput - 16. Okt, 13:32
"Sesam" heisst auf Englisch...
Was in der Schweiz mit 3'000 Kindern scheiterte, soll...
sesaminput - 9. Jul, 08:26

Hinweis

-+-+-+-+-+-+-+-

Sonntag, 23. März 2008

Wortlaut Interpellation Maya Graf vom 20.3.08

Die baselbieter Nationalrätin Maya Graf hat am 20. März eine Interpellation eingereicht mit folgendem Wortlaut:
Im März 2005 bewilligte der Nationalfonds das Projekt SESAM als Nationalen Forschungsschwerpunkt. 3000 Kinder, ihre Eltern und Grosseltern sollten während 20 Jahren kontinuierlich untersucht werden, um Daten und Erkenntnisse über unsere psychische Gesundheit und Krankheiten zu gewinnen. Dieser "Datenschatz" sollte wie im Projektbeschrieb zusammengefasst: "die Position des Landes in einem Feld von grösster strategischer Bedeutung für Gesellschaft und Wirtschaft nachhaltig stärken". Trotz kritischen Stimmen bezüglich genügender gesetzlicher Grundlagen und Durchführbarkeit wurde das Projekt von Bundesrat Couchpin und dem Staatssekretariat für Bildung und Forschung SBF mit Begeisterung bewilligt. Der Schweizerische Nationalfonds finanzierte den Forschungsschwerpunkt SESAM mit über 20 Millionen Franken. Davon sind bisher 10.2 Millionen Franken bereits geflossen.

Am 13. März 2008 musste die Projektleitung von SESAM bekannt geben, dass sie die Kernstudie einstellen müssen, weil sich praktisch keine werdenden Mütter für die Studie zur Verfügung stellen wollten. Die Teilstudien werden weitergeführt, doch der Schweizerische Nationalfonds verliert 10 Millionen Franken, ohne dass ein Resultat vorliegt. Das wirft einige Fragen zur Verantwortlichkeit dieses Fiaskos auf.

Ich bitte den Bundesrat, folgende Fragen zu beantworten:

Wie stellt sich der Bundesrat dazu, dass 10.2 Millionen öffentlich Forschungsgelder in ein Projekt flossen, das gescheitert ist, bevor er begann? Wie sieht die genaue Abrechung aus? Welche Forschungsresultate sind konkret von der Kernstudie zu erwarten?

Wer trägt beim Bund die Verantwortung für die Bewilligung dieses Forschungsschwerpunktes und wie stellen sich die verantwortlichen Stellen zum Abbruch des Projektes?

Wer hat die Rahmenbedingungen festgelegt, unter welchen SESAM starten konnte? Wurden die gesetzlichen und verfassungsmässigen Grundlagen abgeklärt?

Warum wurde von den Verantwortlichen keine Pilotstudie verlangt, eine Mindestanforderung für ein Forschungsprojekt dieser Grösse? Warum wurde nicht durch Pre-studies die praktische Durchführbarkeit des Projektes getestet? Diese hätten gezeigt, dass die Rekrutierung der Mütter in der Praxis schwierig werden könnte?

Welche Teilprojekte werden weitergeführt und wie werden diese weiterfinanziert? Wieviele Forschungsgelder flossen bereits in diese Teilprojekte?

Welche Lehren ziehen Bundesrat und verantwortliche Stellen aus diesem Fiasko eines hochgejubelten Nationalen Forschungsschwerpunktes?

Sonntag, 16. März 2008

Sonntag/MLZ vom 16.3.08: Nationalfonds verliert 10 Millionen Franken

Das Scheitern der gross angelegten Sesam-Studie hat finanzielle Folgen. Die Suche nach den Schuldigen läuft

Von David Sieber

Das Projekt hätte nichts weniger als die Frage beantworten sollen, welche Faktoren die menschliche Seele gesund sein oder krank werden lassen. 3000 Kinder, ihre Mütter, Väter und Grosseltern hätten in dieser Langzeitstudie während 20 Jahren beobachtet und untersucht werden sollen. Doch Sesam scheiterte schon im Mutterleib. Es fanden sich schlicht zu wenig Schwangere, die eine solche Verpflichtung eingehen wollten, wie der «Sonntag» bereits am 3. Februar schrieb. Deshalb hat die Sesam-Leitung am Donnerstag beim Schweizerischen Nationalfonds (SNF) die Einstellung der Kernstudie beantragt. Mit enormen Kostenfolgen: Insgesamt wird der SNF 10,2 Millionen Franken abschreiben müssen. Gut 7,5 Millionen sind in den Jahren 2005 bis 2007 bereits nach Basel geflossen, wo Sesam den Hauptsitz hat. Der Rest, der im Sommer hätte ausbezahlt werden sollen, wird gemäss SNF-Pressesprecher Alan Knaus «in die Auslauffinanzierung gehen». Schliesslich könne der SNF die Doktoranden, die für Sesam arbeiteten, nicht einfach im Stich lassen. «Wir stehen in der Verantwortung.» Bei Sesam ist man nun daran, die Abwicklung vorzubereiten. Konkret werden Stellen abgebaut werden müssen. Laut Sprecher Daniel Habegger wird es vor allem Festangestellte und Hilfskräfte im administrativen Bereich treffen. Auch sein 40-Prozent-Job werde gestrichen, sagt Habegger. Klar ist aber: «Die 31 Doktoranden sollen ihre Forschungsarbeiten zu Ende führen können.» Man wolle deren berufliche Zukunft nicht gefährden. Diverse Teilstudien würden weitergeführt. Wie viel Geld Sesam für die Deinvestition benötigen wird, weiss Habegger noch nicht. Sicher ist nur: «Auch das kostet.» Für die Grüne Nationalrätin Maya Graf (BL), Sesam-Kritikerin der ersten Stunde, ein Skandal. «Zehn Millionen Franken öffentliche Forschungsgelder ohne die geringste Gegenleistung? Das ist inakzeptabel.» In einer Interpellation will sie vom Bundesrat wissen, wer die Verantwortung dafür trägt, dass Sesam «ohne saubere Abklärungen und ohne klare Rahmenbedingungen überhaupt grünes Licht erhalten konnte». Graf vermutet neben dem SNF das Staatssekretariat für Bildung und Forschung (SBF) als treibende, aber blauäugige Kraft. Gregor Adolf Haefliger, Leiter nationale Forschung beim SBF, meint dazu: «Aus wissenschaftlicher Sicht war Sesam wichtig und innovativ.» Deshalb habe man Forschungsminister Pascal Couchepin einen zustimmenden Antrag gestellt. Haefliger will sich über die Gründe des Scheiterns nicht auslassen. Das überrascht nicht, wird doch auch im Umfeld von Sesam harsche Kritik geübt. Das SBF habe weder die rechtlichen Grundlagen sauber abgeklärt, noch Sesam öffentlich den Rücken gestärkt, als Kritik am Projekt laut wurde. «Man hätte uns zum Beispiel sagen können: Wartet bis das Humanforschungsgesetz vorliegt», sagt ein Insider. Stattdessen habe man die Forscher allein gelassen. In der Folge gab Sesam selbst ein Rechtsgutachten über die Verfassungsmässigkeit der Untersuchungen in Auftrag. «Das hat viele Kräfte gebunden», heisst es hinter vorgehaltener Hand. Kräfte, die dem Projektaufbau entzogen wurden. Indirekt, so diese Lesart, trägt das SBF eine Mitschuld am Sesam-Aus.

NZZ am Sonntag vom 16.3.08: «Der Boden für die Forschung ist steinig»

Die Sesam-Studie wollte die Ursachen für psychische Gesundheit und Krankheit erforschen. Nun wird das Forschungsprojekt abgebrochen. Co-Leiter Alexander Grob erklärt, wie es zum Fiasko kam

Interview: Kathrin Meier-Rust

NZZ am Sonntag: Man muss es klar feststellen: Der nationale Forschungsschwerpunkt Sesam ist gescheitert. Was empfinden Sie persönlich?

Alexander Grob: Ich bin traurig, und gleichzeitig suche ich nach Erklärungen und frage mich, was wir hätten besser machen können. Aber mein Herz blutet.

Sesam stiess von Anfang auf heftige Kritik von ganz verschiedenen Seiten. Woran könnte das gelegen haben?

Zuerst möchte ich festhalten, dass es von Seiten der wissenschaftlichen Gemeinschaft keine Kritik gab: Von der Soziologie über die Medizin bis zur Psychologie, aus Schweizer und aus ausländischen Universitäten waren die Rückmeldungen alle äusserst positiv: Man hielt es für grossartig, mit Sesam die so wichtigen Fragen nach der Entwicklung für psychische Gesundheit und Krankheit so breit angehen zu können. Aber es ist richtig, dass wir von anderer Seite stark kritisiert wurden: vor allem von den Gegnern der Gentechnologie, von anthroposophischer und von psychoanalytischer Seite. Wir haben mit all diesen Kritikern das Gespräch gesucht, aber die Meinungen lagen zum Teil so weit auseinander, dass man sich nicht finden konnte.

Eine Kritik, die man oft hörte, lautete: Sesam sei ein grössenwahnsinniges Projekt, und es werde zu viel versprochen. Ist da etwas Wahres dran?

Auf diesen Vorwurf möchte ich von verschiedenen Seiten her eingehen. Erstens gab es den strategischen Entscheid des Nationalfonds, der sich auf viele Gutachter stützte, die alle das Projekt und die Idee von Sesam für gesellschaftlich wichtig hielten. Und zwar deshalb, weil - zweitens - psychische Krankheiten heute in der Schweiz als Ursache von Arbeitsausfall und von vorzeitiger Sterblichkeit an zweiter Stelle stehen. Genau dies prognostiziert die Weltgesundheitsorganisation WHO für die ganze Welt bis zum Jahr 2020. Das ist auch von den Kosten her sehr relevant. Ganz abgesehen vom Leiden von Angehörigen und Betroffenen.

Gescheitert ist die Studie nun aber daran, dass viel zu wenige der angefragten schwangeren Frauen sich zur Teilnahme entschliessen konnten. Ist die Schwangerschaft vielleicht ein heikler und damit ungünstiger Zeitpunkt?

Aus Sicht der anvisierten Teilnehmerinnen dürfte das zutreffen. Wenn man als Forscher die Frage nach den Ursachen für psychische Krankheit und Gesundheit ernst nimmt, dann muss man bei den Kindern von Anfang an - also schon im Mutterleib - ansetzen. Wir wissen heute, dass es das sogenannte fötale Programmieren gibt: Wenn die Mutter grossen Belastungen ausgesetzt ist, wirkt dies auf das ungeborene Kind ein, und es nimmt diese Belastungen mit in sein Leben. Deshalb ist es so wichtig, zu erforschen, wie sich Belastungen der Mutter während der Schwangerschaft später auswirken.

In Basel zeigten die ersten Monate der Rekrutierung: Rund jede zweite Frau sagte nein. War das nicht zu erwarten?

Nein. Wir sind davon ausgegangen, dass von jenen Frauen, die unsere Kriterien erfüllen - die also über 18 Jahre alt sind, eine intakte Schwangerschaft haben und über genügende Sprachkenntnisse verfügen -, etwa 70 bis 80 Prozent mitmachen würden. Wegen der Verzögerungen von Sesam konnten wir leider keine Pilotstudie machen. Aber frühere Studien in der Schweiz haben eine Teilnahme in diesem Rahmen gezeigt.

Wo sehen Sie die Gründe dafür, dass dies offenbar nicht mehr so ist?

Der Aufwand und die Dauer insgesamt haben die Teilnehmerinnen offenbar davon abgehalten, an Sesam teilzunehmen. Erschwerend kam hinzu, dass Sesam von Beginn stetig ein rauer Wind ins Gesicht geblasen hat, und das haben die Leute natürlich mitbekommen. Es gab Aktionsgruppen, die ganz gezielt auf Sesam geschossen haben und das Image der Studie beschädigt haben. Dazu kamen Auflagen, etwa die Risiken explizit zu benennen.

Wie gingen Sie konkret vor?

In der 12. Schwangerschaftswoche informierte der betreuende Arzt eine Frau, dass seine Klinik sich an Sesam beteilige und dass eine Sesam-Mitarbeiterin sie darüber informieren möchte. Dafür haben wir als Assistentinnen gestandene Mütter eingesetzt. Diese haben den schwangeren Frauen erste Informationen gegeben und ein Büchlein von 40 Seiten, das den Nutzen und die Risiken der Studie anspricht. Die betreffende Frau musste sich nach diesen Informationen selbst bei uns melden, wir durften nicht von uns aus nachfragen. Wenn sich die Frau meldete, bekam sie ein weiteres, nun viel dickeres Buch, in dem sie 6-mal unterschreiben musste, und für jede dieser Unterschriften waren bis zu 15 Punkte aufgelistet, zu denen sie sich einverstanden erklären musste.

Da hätte doch gleich klar sein müssen, dass da niemand mehr mitmacht.

Im Nachhinein ist man immer gescheiter. Schon weil Menschen heute allgemein skeptischer gegenüber Forschung eingestellt sind.

Woher kommt diese Skepsis in einer Gesellschaft, die von der Forschung, auch in der Medizin, gerne profitiert?

Die Menschen fragen heute sofort: Was nützt mir eine Sache selbst? Früher gab es so etwas wie ein grundsätzliches Vertrauen in wissenschaftliche Erkenntnis. Die Haltung war: Wenn ich als gewöhnliche Person hierzu beitragen kann, dann ist das gut, denn es wird zum allgemeinen Wohl beitragen. Diese Bereitschaft, zum Allgemeinwohl beizutragen, ist heute in viel geringerem Masse vorhanden. Damit ist der Boden für Forschung, deren Nutzen nicht unmittelbar absehbar ist, extrem steinig geworden.

Warum ist unsere Gesellschaft so wenig geneigt, sich für Forschung für das Allgemeinwohl zu engagieren?

Ich sehe dahinter die starke Betonung des Individualismus und den Rückzug in die Privatsphäre: Jeder muss für sich entscheiden, was für ihn oder sie richtig ist. Damit ist man auf sich selbst zurückgeworfen. Das verunsichert, da sagt man lieber zur Vorsicht Nein. Diese Verunsicherung ist sozusagen der Preis, den wir für die Individualisierung zahlen. Eine Frau begründete ihre Absage damit, dass sie nicht für ihr ungeborenes Kind entscheiden möchte, da sie ja nicht wissen könne, ob dieses Kind dereinst ihre Entscheidung billigen werde. Ich respektiere das Argument dieser Frau. Dahinter steht aber im Grunde ein Erziehungskonzept und eine gesellschaftliche Entwicklung: Ich darf als Mutter keine Entscheidung gegen den Willen meines Kindes treffen. Das hiesse nämlich, dass ich zu meinen eigenen Entscheidungen stehen müsste, auch wenn das Kind damit vielleicht einmal nicht einverstanden ist - so wie es auch mit seinem Namen vielleicht einmal unzufrieden ist. Zu seinen Entscheidungen stehen verlangt eine starke Identität.

Welche Konsequenzen hat das Scheitern von Sesam für das Gesetz über die Forschung am Menschen, das gegenwärtig diskutiert wird?

Ich kann da nur die Hoffnung ausdrücken, dass die politischen Instanzen die Brisanz und die Notwendigkeit dieses Gesetzes erkennen. Es gibt heute Gruppierungen, die jede Forschung mit Menschen, und vor allem mit Kindern, anzweifeln, die keinen ganz direkten Nutzen für die Teilnehmenden bringt. Ein Gesetz muss deshalb beidem Rechnung tragen - es muss den Beforschten Rechte einräumen, aber es darf Forschung nicht verunmöglichen.

Der nationale Forschungsschwerpunkt Sesam

Der nationale Forschungsschwerpunkt Sesam (Swiss Etiological Study of Adjustment and Mental Health) wurde 2005 bewilligt und sollte dieBedingungen für psychische Gesundheiterforschen. Am vergangenen Donnerstag hat die Leitung von Sesam nun die Einstellung der Kernstudiebeantragt, weil das angestrebte Ziel der Rekrutierung von Teilnehmern innerhalb von zwei Jahren nicht mehr erreicht werden kann: Nur 20 von den bisher 110 in Basel angefragten schwangeren Frauen hatten zugesagt. Für die Kernstudievon Sesam sollten 3000 Kinder von der 12. Schwangerschaftswoche bis zum 20. Altersjahr regelmässig untersucht und befragt werden. Vorgeburtlich waren Ultraschalluntersuchungen geplant. Gleichzeitig waren Interviews mit beiden Eltern und mit den Grosseltern vorgesehen. Die teilnehmenden Kinder sollten in den universitären Kliniken vonBasel, Bern, Lausanne, Genf und Zürichrekrutiert werden. Von Sesam erhofften sich die Forscher Einsicht darüber, welche Umstände zur psychischen Gesundheit beitragen und welche Faktoren Depressionen und Angststörungen begünstigen. Unter der Leitung von Jürgen Margraf, Professor für klinische Psychologie und Psychotherapie in Basel, waren Forscher aus fünf Schweizer Universitäten involviert. AufDruck der Kritikan den geplanten DNA-Tests musste dieser Teil der Studie fallengelassen werden, und diverse verlangte Modifikationen verzögerten den Studienbeginn auf den Herbst 2006. Von insgesamt 14 geplanten Teilstudien sollen nun diejenigen, die ihre Teilnehmer unabhängig rekrutieren, weitergeführt werden. Für die erste Phase von Sesam (2005-09) hatten der Schweizerische Nationalfonds und die Universität Basel22,4 Millionen Frankenbereitgestellt, davon sind bisher rund 8 Millionen verbraucht worden.
(kmr.)

Alexander Grob

ist Professor fürEntwick lungs- und Persönlichkeitspsychologiean der Universität Basel, Vorsitzender der Schweizerischen Gesellschaft für Psychologie und Vizedirektor des Projekts Sesam. Sein Forschungsinteresse gilt u. a. der Temperament- und Persönlichkeitsentwicklung vom Säugling- bis ins Erwachsenenalter, und dem Lebenslauf. Grob ist Vater von zwei Kleinkindern.

Samstag, 15. März 2008

Reaktionen auf das Ende der Kernstudie

Alexander Grob, stv. Direktor Sesam, Antonio Loprieno, Rektor Uni Basel, Dieter Imboden, Präsident Forschungsrat Nationalfonds, Gabriele Pichelhofer, Appell gegen Gentechnologie, im Wissenschaftsmagazin von DRS2 zum Abbruch der Kernstudie von sesam in einem Beitrag von Christian Heuss:









Sehr anekdotisch: Bereits in der ersten Ausschreibungsrunde für die NCCRs anno 1999 lag beim SNF eine so genannte "Notice of Intent" aus dem Hause Margraf auf dem Tisch. Arbeitstitel: "Etiology and Prevention of Emotional Disorders". Das entsprechende Dokument mit den Namen all jener, die so eine erste Interessenbekundung deponiert hatten, ist auf dem snf.ch-Server gelöscht. Aber dank der "Wayback Machine" des "Internet Archive" auch 2008 über diesen Link immernoch verfügbar! Bekanntlich kam dann ja sesam erst in der zweiten Ausschreibungsrunde 2003 zum Handkuss.

Freitag, 14. März 2008

Aargauer Zeitung/MLZ vom 14.3.08: Das Aus für ein ehrgeiziges Projekt

Sesam-Studie: Millionenprojekt ist gescheitert

Die Spekulationen über die Anzahl Teilnehmerinnen schossen in den letzten Wochen ins Kraut: Statt 3000 sei nur eine «Handvoll Personen» bereit, an einem der ehrgeizigsten Projekte der Schweizer Wissenschaftsgeschichte teilzunehmen. Jetzt ist klar: Die Sesam-Studie muss bereits in der Startphase abgebrochen werden.

Das Vorhaben war weltweit einzigartig. Und die finanzielle Investition war für Schweizer Verhältnisse ausserordentlich gross. Allein bis Ende 2009 sollten über 22 Millionen Franken ausgegeben werden. Doch jetzt kommt das vorzeitige Ende: Die interdisziplinäre Langzeitstudie über die menschliche Entwicklung und die seelische Gesundheit, Sesam soll abgebrochen werden. Das Ziel, mehrere tausend Studienteilnehmende innerhalb von zwei Jahren zu rekrutieren, könne nicht erreicht werden, teilte das Sesam-Leitungsgremium gestern mit. Es wird beim Schweizerischen Nationalfonds die Einstellung der Kernstudie beantragen. Die zentrale wissenschaftliche Fragestellung, nämlich die Erforschung der Faktoren, die zu einer gesunden seelischen Entwicklung beitragen, solle aber weiter untersucht werden. Auch von der Kernstudie unabhängige Teilstudien sollen nach Möglichkeit weitergeführt werden. Vor dem Hintergrund der Zunahme psychischer Erkrankungen wie etwa Depressionen hatte Sesam zum Ziel, 3000 Kinder bis ins Erwachsenenalter periodisch zu untersuchen und zu befragen. Auch Eltern und Grosseltern waren eingeladen, bei der Studie mitzumachen.

Massive Kritik habe Sesam geschadet
Die Sesam-Leitung machte unter anderem den hohen Anspruch an die Beteiligten für das Scheitern des Projekts verantwortlich. «Viele Schwangere, die von uns angesprochen wurden, fühlten sich von den Dimensionen der Studie überfordert», erläutert Sesam-Vizedirektor Alexander Grob im MZ-Interview. «Zudem waren die mit der Teilnahme verbundenen administrativen Hürden hoch.» Geschadet habe Sesam ausserdem die massive und ungerechte Kritik, welcher das Projekt von Anfang an ausgesetzt gewesen sei, sagt Grob. Kritische Kreise wie der Basler Appell gegen Gentechnologie hatten ethische Bedenken geltend gemacht und Sesam sogar eugenische Absichten unterstellt. In einer Petition mit 12 000 Unterschriften brachten sie diese Kritik zum Ausdruck. Die Sesam-Leitung habe den Protest beiseitegeschoben, jetzt aber die Quittung kassiert. Im Aus der Kernstudie sieht der Basler Appell «eine peinliche Niederlage für die Universität Basel und für den Schweizerischen Nationalfonds, die das fragwürdige Projekt bis zuletzt verteidigt hatten». (Fes/ird)

MLZ vom 14.3.08: «Der Anspruch war zu hoch»

Interview: Der Basler Entwicklungspsychologe Alexander Grob über das Aus von Sesam Unablässige Kritik habe dem Projekt geschadet, meint der Sesam-Vizedirektor.

Von Irène Dietschi

Herr Grob, was hat die Sesam-Leitung falsch gemacht?

Alexander Grob: Wenn wir das wüssten, hätten wir uns eine zweite Chance gegeben. Wir können nur feststellen, dass wir unser Ziel, 3000 Frauen zu rekrutieren, nicht erreicht haben. In Basel hätten wir von Oktober bis jetzt 120 Frauen rekrutieren sollen, tatsächlich waren es nur 20. In den anderen Sesam-Städten waren die Zahlen ähnlich schlecht.

Ihnen wird vorgeworfen, Sie hätten Kritik von Anfang an in den Wind geschlagen, zum Beispiel wider besseres Wissen nur Deutsch und Französisch sprechende Frauen zugelassen.

Grob: Aufgrund der Zahlen, die wir an den Sesam-Standorten erhoben, hätten wir genügend rekrutierbare Frauen gehabt, auch wenn wir uns auf Deutsch und Französisch sprechende beschränkten. Richtig ist, dass der Anteil der Migrantinnen hoch ist. Im ursprünglichen Studiendesign wollten wir noch andere Sprachen berücksichtigen › Spanisch, Türkisch, Kroatisch und Tamilisch standen zur Disposition. Der Mehraufwand wäre allerdings enorm gewesen. Den Bewilligungsinstanzen war dies zu teuer. Zu den kritischen Stimmen: Wir waren sehr offen diesbezüglich. Es gab zum Beispiel das Sesam-Forum, ein Begleitforum der Bevölkerung, oder ein Fachgremium, das uns zum Patientenrecht, zu ethischen Fragestellungen usw. auf die Finger schauen wollte.

Trotzdem ist die Kernstudie gescheitert. Was war der Hauptgrund?

Grob: Es gab erstens weniger rekrutierbare Frauen, als wir dachten. Zweitens konnte Sesam zu wenig aktiv auf diese Frauen zugehen. Schwangere wurden bei der Kontrolle im Spital kurz auf das Projekt angesprochen und mit einer ausführlichen Broschüre bedient, dann hatten sie sechs Wochen lang Zeit, um sich zu entscheiden. In der Broschüre war viel von Risiken die Rede, und am Schluss mussten die Frauen ihre schriftliche Einwilligung mit zahlreichen Unterschriften leisten. Möglich, dass dieses aufwändige Prozedere abschreckte.

Sie waren im Vorfeld massiver Kritik ausgesetzt: Sesam sei ethisch nicht zu verantworten, das Projekt trage sogar eugenische Tendenzen.

Grob: Dieses Kesseltreiben hat uns extrem geschadet. Der Basler Appell gegen Gentechnologie sammelte Tausende von Unterschriften, in Bern reichte die grüne Nationalrätin Maya Graf eine Interpellation gegen Sesam ein. Die Voraussetzungen waren von Anfang an schlecht. Noch nie hat ein sozialwissenschaftliches Forschungsprojekt in der Schweiz so viel Publicity bekommen wie Sesam, und zwar negative. Eine fundamentalistische Gegnerschaft hat diese Kritik systematisch vorangetrieben. Dazu gehörten auch gewisse Medien.

Auch besonnenere Exponenten wie etwa Remo Largo fanden, Sesam habe unglücklich kommuniziert.

Grob: Das trifft vielleicht auf die Phase ganz am Anfang zu. Insgesamt aber kann man uns diesen Vorwurf mit Sicherheit nicht machen. Ich sehe es eher so, dass der Anspruch an die Beteiligten insgesamt zu gross war: «3000 Frauen, 20 Jahre lang, ich bin ein Teil davon, und wenn ich Ja sage, komme ich vielleicht nie wieder raus» obwohl man jederzeit hätte aussteigen können. Vielleicht wurde dies als Hürde wahrgenommen, die für die meisten zu hoch war. Hätten wir eine kleinere Studie mit kürzerer Laufzeit geplant, dann hätten wir ganz andere Teilnehmerinnenzahlen gehabt.

Wie gross ist der Schaden für den Forschungsplatz Schweiz?

Grob: Ich glaube, dass Forscher und Forscherinnen sich künftig auch gut überlegen müssen, ob man vitale und relevante Fragestellungen wie die von Sesam, nämlich die Entwicklung der psychischen Gesundheit und Krankheit, in der Schweiz in diesem Umfang angehen kann. Die Antwort: An einem Projekt, das viel Unterstützung bekam, das von internationalen Experten mit Höchstnoten bedacht und von den nationalen Gremien als wichtig erachtet wurde, an diesem Projekt wurde exemplarisch gezeigt, dass dies in der Schweiz nicht geht.

Wie enttäuscht sind Sie persönlich?

Grob: Ich bin sehr betroffen. Doch ich habe eine Sorgfaltspflicht gegenüber der Öffentlichkeit, ich darf an der Realität nicht vorbeischauen. Gleichzeitig sind für mich die Fragestellungen von Sesam vital. Als unabhängiger Forscher will ich weiterhin versuchen, Antworten zu bekommen. Für mich ist psychische Gesundheit und die Entwicklung von Kindern in Systemen, also in Familien, das Forschungsthema. Und ich will herausfinden: Wie kann ich früh erkennen, ob ein Kind Gefahr läuft, sein Potenzial nicht ausschöpfen zu können.

Update

Sesam: Die Kernstudie des Nationalen Forschungsschwerpunkts Sesam hatte zum Ziel, die Faktoren für eine gesunde seelische Entwicklung zu erforschen. 3000 Kinder sollten von der Schwangerschaft bis ins Erwachsenenalter untersucht und befragt werden. Auch Eltern und Grosseltern waren beteiligt. Sesam war von Anfang an umstritten. Insbesondere die vorgesehenen genetischen Tests stiessen auf Kritik. Ob die von der Kernstudie unabhängigen Teilstudien weitergeführt werden, ist noch offen.

NZZ vom 14.3.08: Kein ideales Forschungs-Biotop

Der grösste und wichtigste Teil des mit vielen Millionen Franken dotierten Nationalen Forschungsprogramms Sesam ist eingestellt worden. Mehrere Teilstudien, die ebenfalls die psychische Entwicklung von Kindern erforschen, sollen weitergeführt werden. Doch dies wird für die involvierten Wissenschafter ein schwacher Trost sein. Es fanden sich schlicht zu wenige Probandinnen, um den Hauptversuch seriös durchführen zu können. In Basel blies Sesam von Beginn weg eine steife Brise ins Gesicht. Gegner der Forschung an Kindern wurden nicht müde, die Zulässigkeit der Studie zu hinterfragen. Ständige Kritik muss nicht zu Verunsicherung aufseiten der potenziellen Versuchspersonen führen, aber sie kann. Angesichts des Scherbenhaufens bleiben zum jetzigen Zeitpunkt einige Fragen zurück, die für künftige, vergleichbare Forschungsvorhaben geklärt werden müssten. In welcher Verantwortung sieht sich etwa der Bund, der die Forschungsprogramme ja bewilligt und zu einem grossen Teil finanziert? Müsste dieser den Universitäten bei der Umsetzung der Projekte sowohl in organisatorischer als auch in rechtlicher Hinsicht nicht stärker unter die Arme greifen? Und: Ist es sinnvoll, bei nationalen Studien, die an verschiedenen Forschungsstätten im Land durchgeführt werden, je die kantonalen Ethikkommissionen anrufen zu müssen? Bei der Ethikkommission beider Basel etwa war gar unklar, ob sie überhaupt für die Beurteilung psychologischer Forschung zuständig ist. Es scheint, als sei in der Schweiz - anders als etwa in Grossbritannien - das Biotop für solch breit angelegte
Studien noch nicht bereitet. Bei der in den kommenden Jahren anstehenden Beratung des Humanforschungsgesetzes hat es die Politik in der Hand, die dafür notwendigen Grundlagen zu schaffen.

Kommetar von Markus Hofmann

NZZ vom 14.3.08: Forschungsprojekt «Sesam» wird abgebrochen

Zu schleppende Rekrutierung von Probandinnen

Von S. Aiolfi

«Sesam» lässt sich offenbar nicht öffnen. Wie bereits gemeldet (NZZ 7. 3. 08), ist der Nationale Forschungsschwerpunkt zur Ergründung psychischer Erkrankungen auf grössere Schwierigkeiten gestossen, als es darum ging, für das Vorhaben die nötigen Probandinnen zu finden. Das Problem hat sich jetzt als so drastisch erwiesen, dass das Sesam-Leitungsgremium entschieden hat, beim Schweizerischen Nationalfonds, der den grössten Teil des Vorhabens finanziert, die Einstellung der Kernstudie zu beantragen.

Zu viele Hürden
Vorgesehen war gewesen, innerhalb von zwei Jahren an fünf Schweizer Standorten bis zu 3000 Kinder zu bestimmen, die man von der Zeit vor der Geburt bis ins 20. Lebensjahr periodisch beobachtet und untersucht hätte. Nach den Angaben von Sesam-Vizedirektor Alexander Grob hatte man in Basel mit dem Aufnahmeverfahren im Oktober begonnen und hätte bis heute 100 bis 150 Probandinnen erfasst haben müssen, um das Plansoll zu erfüllen. Tatsächlich rekrutiert worden sind aber lediglich 20 Frauen; 30 sind noch unentschieden, und 60 haben abgesagt. Am Standort Bern verlief die Rekrutierung ähnlich schleppend. In Zürich, Genf und Lausanne hat man mit dem Verfahren zwar noch nicht begonnen, musste aber einsehen, dass die Schwierigkeiten dort ebenfalls gross gewesen wären. Ein Grund für das mangelnde Interesse waren laut Grob zunächst die Bedenken zahlreicher Frauen hinsichtlich des zeitlichen Engagements; eine Teilnahme am Projekt hätte während der ersten zwei Lebensjahre des Kindes einen Aufwand von 20 Stunden erfordert, was vielen zu viel war. Ein weiteres Handicap war, dass es den Projektbetreibern untersagt war, nach dem ersten Kontakt mit einer werdenden Mutter, bei dem sie über Sesam informiert wurde, nachzuhaken und zu fragen, ob sie mitmachen wolle. Die Initiative musste ganz der Frau überlassen werden. Und schliesslich war auch die Gruppe jener Kandidatinnen, die die sprachlichen Voraussetzungen für eine Teilnahme erfüllten (nämlich Deutsch- oder Französischkenntnisse), kleiner, als von den Spitälern ursprünglich geschätzt worden war.

Verzicht auf eine Adjustierung
Vor Wochenfrist hatten die Projektleiter noch die Möglichkeit einer Anpassung der Versuchsanordnung erwogen; der Vorschlag stand im Raum, mit der Untersuchung der Kinder statt vor erst nach der Geburt zu beginnen, da man vermutete, dass sich die Zahl der Studienteilnehmer dadurch vergrössern liesse. Nach Grob wäre eine solche Adjustierung jedoch kompliziert gewesen, und es hätte auch keine Gewähr gegeben, dass das Rekrutierungsproblem dadurch hätte gelöst werden können. Ausserdem hätte man mit dem Verzicht auf die pränatale Untersuchung einen wichtigen Baustein der Studie verloren. Und diesen Verlust an Qualität wollte man nicht in Kauf nehmen. Der Scherbenhaufen ist insofern nicht total, als der Abbruch nur die Sesam-Kernstudie betrifft. Einige Teilstudien, die sich ebenfalls mit dem Eltern-Kind-Verhältnis befassen, aber mit weniger Probanden auskommen und von kürzerer Dauer sind, sollen dagegen weitergeführt werden. Von der Beendigung des Projekts betroffen sind nach den Angaben von Grob an die 70 Personen, die sich in 50 Stellen teilten. Sichergestellt ist immerhin, dass 31 Doktoranden, die sich bisher mit Sesam beschäftigt hatten, ihre Arbeiten zu Ende führen können. Wie weiter zu erfahren war, sind von den für das Projekt insgesamt bewilligten 22,4 Millionen Franken bis dato 8,3 Millionen aufgebraucht worden.

BZ vom 14.3.08: Aus für «Sesam»-Studie über Psyche

Die Teilnehmer sind ausgeblieben

Von Brigitte Walser

Das Nationale Forschungsprojekt «Sesam» wird mangels Teilnehmender eingestellt. Um Erkenntnisse zur seelischen Entwicklung von Kindern gewinnen zu können, hätten dreitausend Familien zwanzig Jahre lang begleitet werden sollen.

Das Projekt sei wohl an den hohen Anforderungen gescheitert, sagte gestern «Sesam»-Sprecher Daniel Habegger. Die Studie («Sesam» steht für «Swiss Etiological Study of Adjustment and Mental Health») hätte Erkenntnisse zur seelischen Entwicklung liefern sollen. Geplant war, dreitausend Kinder während zwanzig Jahren periodisch zu untersuchen und zu befragen und auch die Eltern und Grosseltern einzubeziehen. Vor einem Jahr gab die zuständige Ethikkommission beider Basel grünes Licht.

Zu aufwändig
Gestern nun stellte die «Sesam»-Leitung beim Schweizerischen Nationalfonds den Antrag, die Studie noch vor dem eigentlichen Start zu stoppen. Der Grund: Es gelinge nicht, innerhalb von zwei Jahren mehrere tausend Studienteilnehmer zu finden. Das hatte die Vorrekrutierung in Basel ergeben. Dort hatten sich gemäss Habegger «knapp zwei Dutzend Elternpaare», die ein Kind erwarteten, zur Teilnahme bewegen lassen. Die Studienleiter schlossen daraus, dass die für später geplante Suche in Bern, Zürich, Lausanne und Genf nicht erfolgreicher verlaufen würde. Zu aufwändig und komplex sei die Studie für die Teilnehmenden, die selbst keinen direkten Nutzen davon hätten, so Habegger. Eine finanzielle Entschädigung der Familien kam aus ethischen Gründen nicht in Frage, das wäre nur bei Erwachsenen und damit urteilsfähigen «Studienobjekten» möglich, nicht aber bei Kindern. Von den «Sesam»-Forschern war ein finanzieller Anreiz auch nie in Betracht gezogen worden. «Wir wollen niemanden kaufen», so Habegger. Ganz möchten die Forscher das Thema nicht aufgeben. Sie beantragen beim Nationalfonds Teilstudien zur seelischen Entwicklung bei Kindern, die auch ohne die grosse Zahl von Teilnehmenden durchführbar sind. Derzeit sind 31 Doktoranden in das «Sesam»-Projekt involviert. «Wir legen Wert darauf, dass sie alle ihre Dissertation beenden können», so Habegger. Für die 25 Festangestellten, die grösstenteils im administrativen Bereich arbeiten, seien einschneidende Massnahmen aber kaum zu vermeiden. Das Forschungsprojekt hätte vom Nationalfonds, dem Kanton Basel-Stadt und von Sponsoren aus der Privatwirtschaft, etwa dem Pharmakonzern Roche, finanziert werden sollen.

Stolpersteine
Weil bei «Sesam» die «Studienobjekte» Kinder sind, bewegen sich die Forscher in einem datenschutzrechtlich und ethisch heiklen Umfeld und blieben insbesondere vom «Basler Appell gegen Gentechnologie» zu Beginn nicht von Kritik verschont. Der «Basler Appell» reagierte mit einem Communiqué auf die gestrigen Nachricht: «Sesam» sei ein «Riesenflop» und ein «Desaster für die Leitung des Projekts». «Sesam» sei an ethischen Stolpersteinen gescheitert sowie am hohen Anteil an Migranten unter den werdenden Eltern. «Sesam» beschränkte sich auf Personen, die Deutsch oder Französisch sprechen.

BaZ vom 14.3.08: «Eine verpasste Chance für Basel»

«sesam»-Leiter Jürgen Margraf sucht nach Erklärungen für das Scheitern der Studie

Interview: Markus Kocher, Stefan Stöcklin

Der Schock war gross, als die «sesam»-Leitung gestern Nachmittag die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über den Entscheid informierte, die «sesam»-Kernstudie einzustellen. Wenig später trat der «sesam»-Leiter Jürgen Margraf vor die Presse.

baz: Herr Margraf, wann kam bei Ihnen die Erkenntnis, dass es Ihnen nicht gelingen wird, genügend Teilnehmerinnen für die «sesam»-Studie zu mobilisieren?

Jürgen Margraf: So richtig erst im Februar. Nachdem wir bereits im November letzten Jahres merkten, dass die Rekrutierung nicht wunschgemäss verläuft, leiteten wir korrigierende Massnahmen ein. Nachdem es im Februar erneut stockte, wollten wir mit einer Alternativstrategie reagieren, die dann aber nicht mehr zur Anwendung kam.

Worin bestand diese Strategie?

Wir wollten auch Frauen nach der Geburt des Kindes für die Studie gewinnen und uns nicht nur auf Schwangere beschränken. Wie viele Schwangere hätten Sie gebraucht, um das Projekt weiterverfolgen zu können? Für Basel waren 20 bis 25 Frauen pro Monat vorgesehen, um den wegen der langen Vorgeschichte bereits sehr eng gewordenen Zeitrahmen einhalten zu können. In den Standorten Bern und Basel einschliesslich Bruderholz wären also etwa 100 Frauen nötig gewesen. Leider ist uns das nicht gelungen.

Wie viele sind es also unter dem Strich?

Bis heute haben sich 17 Frauen entschlossen, bei der Kernstudie mitzumachen. Vier weitere haben ihre Teilnahme für heute angekündigt, und letzte Woche, nach der Berichterstattung in Ihrer Zeitung, haben sich weitere sieben Frauen gemeldet.

Betreffen die Zahlen die ganze Schweiz?

Ja, wobei in Bern das Projekt erst seit Mitte Januar läuft. Die Erfahrungen aus Bern waren für uns wichtig, um herauszufinden, ob das Projekt ausserhalb von Basel, wo «sesam» besonders kontrovers diskutiert wird, anders ankommt. Doch die Rekrutierung verlief ähnlich schleppend. Am Montag hat dann die «sesam»-Leitung den Beschluss gefasst, die Kernstudie zu sistieren.

War das ein einstimmiger Beschluss?

Ja, es waren alle Mitglieder dabei. Der Beschluss fiel einstimmig.

17 Frauen. Die Zahlen erstaunen selbst Skeptiker. Haben Sie Erklärungen für das schlechte Abschneiden?

Darüber haben wir uns natürlich auch Gedanken gemacht. Unsere Befragungen haben ergeben, dass die meisten Schwangeren vom Projekt «sesam» noch nie etwas gehört hatten. Die ganze ethische Debatte, die in den Medien gross geführt wurde, war also an ihnen vorbeigegangen und hatte kaum einen Einfluss auf ihre Entscheidung. Den meisten Frauen war der Aufwand schlicht zu gross, auch wegen der Tatsache, dass die Studie auf einen Zeitraum von 20 Jahren angelegt war. Trotzdem wäre eine positivere Berichterstattung in den Medien hilfreich gewesen.

Sie meinen, das hätte mehr Leute bewogen, an der Studie teilzunehmen?

Es hat uns indirekt geschadet, weil wir durch die Sensibilisierung viele Auflagen bekommen haben. Das hat es uns sehr schwer gemacht. Aus der Teilnehmerbroschüre zum Beispiel ist fast alles rausgenommen worden, was irgendjemanden hätte dazu motivieren können, mitzumachen.

Haben Sie die Schwangeren nicht einfach falsch eingeschätzt?

Das ist in der Tat so. Wir hätten das auch ganz anders erwartet.

Warum haben Sie denn keine Pilotstudie durchgeführt, um das auszutesten?

Das wollten wir. Die Ethikkommission wollte die Vorstudie aber erst nach der Kernstudie begutachten. So blieb zu wenig Zeit, die Erkenntnisse, die wir aus der Vorstudie gewonnen hätten, auch zu nutzen.

Ist da nicht sehr viel Geld in den Sand gesetzt worden? Unseren Berechnungen zufolge sind es 10 Millionen.

Das stimmt nicht. Bis jetzt wurden gesamthaft 8,3 Millionen ausgegeben, davon etwa 40 Prozent für die Kernstudie. Unterm Strich sind das rund 3,5 Millionen Franken, für die wir aber durchaus auch einen materiellen und wissenschaftlichen Gegenwert erhalten haben.

Wie sieht die Zukunft von «sesam» aus?

Der Antrag, die Kernstudie zu sistieren, ist gestellt. Die Teilstudien mit unabhängigen Stichproben sollen aber weitergeführt werden. Dadurch wird die ganze Anlage erheblich schlanker, was allerdings bedeutet, dass nicht alle Mitarbeiter dabeibleiben können.

Was bedeutet das Ende von «sesam» für Sie als Mensch und Wissenschaftler?

Was ich fühle, ist Enttäuschung und Trauer. Es ist wie ein Kind, von dem man sich verabschiedet. Und als Wissenschaftler denke ich, dass das eine verpasste Chance für Basel ist. Gleichzeitig ist aber auch das Gefühl da, etwas lernen zu können. Würde ich nochmals von vorne anfangen, würde ich einiges anders machen. Zum Beispiel war die Studie stark interdisziplinär angelegt – was mir persönlich eine Herzensangelegenheit ist, uns jedoch punkto Entscheidungen aber wieder unbeweglich machte. Fazit: Ich würde es deutlich schlänker halten und nicht so viele verschiedene Akteure beteiligen.



Aus für «sesam» – und wie geht es jetzt weiter?

Datenverlust
Die Kernstudie von «sesam» – eine auf 20 Jahre angelegte Untersuchung der psychischen Entwicklung von 3000 Kindern ist mangels Zuspruchs nicht durchführbar. Es bleiben aber immerhin noch einige unabhängige Teilstudien bestehen, die vom Entscheid der «sesam»-Leitung, die Kernstudie zu sistieren, nicht betroffen sind. Ob sie aber auch alle zu Ende geführt werden, ist laut «sesam»-Leiter Jürgen Margraf noch nicht entschieden. Auf gutem Kurs sind: die Teilstudien über das Befinden in der Schwangerschaft, Schwangerschaft und psychische Störungen, Neurotizismus, Blinzelreaktion, die Familienprozesse, Untersuchungen zur Präeklampsie, Studien über das autonome Nervensystem, die Entwicklung einer Datenbank sowie die Vorstudie zum autobiografischen Gedächtnis. Die bis jetzt im Rahmen der Kernstudie erhobenen Daten der 17 teilnehmenden Frauen würden nicht mehr weiter verwendet und gelöscht, sofern die Frauen dem zustimmen, so Jürgen Margraf.

BaZ vom 14.3.08: «sesam»-Studie blitzte bei Frauen ab

Die geplante Untersuchung von 3000 Kindern wird nicht stattfinden

Von Stefan Stöcklin

Das vor drei Jahren mit grossen Erwartungen gestartete «sesam»-Projekt verliert seinen Kern. Der Direktor von «sesam», der Basler Psychologe Jürgen Margraf, konnte gestern seine Enttäuschung über den Abbruch der Kernstudie nicht verbergen. Er bedaure das abrupte Ende, aber da viel weniger Schwangere als geplant an der Studie teilzunehmen bereit waren, blieb keine andere Wahl. Nur 17 Frauen konnten seit dem Start letzten Oktober zur Teilnahme gewonnen werden, gut 100 hätten es bis Ende März sein sollen. Geplant war der Einschluss von 3000 Kindern, deren Entwicklung ab der Schwangerschaft bis zum 20. Altersjahr untersucht werden sollte. Versprochen haben sich die Initianten des vom Schweizerischen Nationalfonds getragenen Forschungsschwerpunktes Erkenntnisse zur Entstehung psychischer Krankheiten, vor allem Depressionen und Angststörungen. Für den Nationalfonds als wichtigsten Geldgeber von
«sesam» ist der Abbruch der Kernstudie eine «logische Folge der Rekrutierungsprobleme», wie Dieter Imboden, der Präsident des Nationalen Forschungsrates, sagte. Der Nationalfonds hat das Vorhaben seit Oktober 2005 mit 7,5 Millionen Franken unterstützt.

Teilstudien
Mit dem Abbruch der Kernstudie, den die «sesam»-Leitung beim Nationalfonds beantragt hat, sei
zwar ein Teil dieser Gelder verloren. Unabhängig von der Hauptstudie waren aber gewisse Teilstudien wissenschaftlich durchaus erfolgreich. Diese könnten im Rahmen der allgemeinen Projektförderung auch künftig unterstützt werden, so Dieter Imboden. Vor allem werde es wichtig sein, alle Doktoranden bis zum Abschluss ihrer Dissertationen zu unterstützen. Mit dem «geordneten Rückzug», wie es Imboden formulierte, sei aber auch das Ende des Nationalen
Forschungsschwerpunktes «sesam» absehbar. Dieses Forschungsförderungsinstrument ist das umfassendste unter den Bundesmassnahmen, es gibt zurzeit 20 solche Projekte schweizweit. Laut Imboden war von Anfang an klar, dass bei «sesam» mit der Probandenzahl und ethisch schwierigen Fragen besondere Gefahren lauerten. «Wir werden die Lehren daraus ziehen», so Imboden. «Dies ist kein schöner Tag für die Universität», sagte Universitätsrektor Antonio Loprieno zu dieser
Entwicklung. Aber sie sei nicht ganz überraschend gewesen und ein «Ende mit Schrecken sei allemal
besser als ein Schrecken ohne Ende». Für die Universität ändere sich mit der «Redimensionierung von «sesam» wenig, an der strategischen Ausrichtung in den Profilierungsbereichen ebenso.

Riesenflop
Die Firma Roche, die «sesam» sechs Millionen zugesagt hatte und rund zwei Millionen bereits
bezahlt hat, will erst nach einer Analyse sagen, ob sie sich an den Teilstudien weiterhin beteilige. Als «teuren Riesenflop» hingegen bezeichnete der Basler Appell gegen Gentechnologie den Abbruch von «sesam», als Desaster für die Mitarbeitenden und die Forschungsförderungsinstitutionen.

Donnerstag, 13. März 2008

Kernstudie abgebrochen

news.ch: Die umstrittene Kernstudie des Nationalen Forschungsschwerpunkts «sesam» zur psychischen Gesundheit steht vor dem Aus: Das Leitungsgremium beantragt mangels genügender Teilnehmender beim Schweizerischen Nationalfonds die Einstellung.
sf.tv: Das angestrebte Ziel, innert zwei Jahren mehrere Tausend Studienteilnehmende zu rekrutieren, könne nicht mehr erreicht werden, teilte das «sesam»-Leitungsgremium (SEC) mit. Es sei deshalb beschlossen worden, die Einstellung der Kernstudie zu beantragen.
nzz.ch: Von der Beendigung des Projekts betroffen sind nach den Angaben von Grob an die 70 Personen, die sich in 50 Stellen teilten. Sichergestellt ist immerhin, dass 31 Doktoranden, die sich bisher mit Sesam beschäftigt hatten, ihre Arbeiten zu Ende führen können. Wie weiter zu erfahren war, sind von den für das Projekt insgesamt bewilligten 22,4 Millionen Franken bis dato 8,3 Millionen aufgebraucht worden.
Basler Appell: Die Tatsachen geben dem Basler Appell gegen Gentechnologie, Hauptkritiker der ersten Stunde, leider recht: Es war stets klar, dass schwangere Frauen nur schwerlich von der Studie zu begeistern sein würden. Zu offensichtlich sind die ethischen Stolpersteine. Der Basler Appell gegen Gentechnologie hatte diese Kritik in einer Petition mit 12"000 Unterzeichnenden zum Ausdruck gebracht ­ die SESAM-Leitung schob den Protest beiseite.
Sesam: Über die Notwendigkeit hinaus, die von der sesam Kernstudie unabhängigen Teilstudien weiterzuführen, wird die sesam Leitung gemeinsam mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und mit dem Schweizerischen Nationalfonds über das weitere Vorgehen beraten.

Montag, 10. März 2008

«Debatte» Nr. 4, März 08: Sesam öffne Dich!

Von Peter Streckeisen

Seit 2001 fördert der Bund Nationale Forschungsschwerpunkte (NFS) mit längerer Laufzeit und grösserer Finanzierung als die bisherigen Nationalfonds-Projekte. Ein umstrittenes NFS mit dem geheimnisvollen Namen „Sesam“ widmet sich der Erforschung des „Seelenheils“ von 3’000 heranwachsenden Kindern. Es wird durch den Pharmakonzern Roche unterstützt.

Die Nationalen Forschungsschwerpunkte behandeln „Themen von strategischer Bedeutung für die Zukunft der schweizerischen Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft“, wie es auf der Internetseite des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftliche Forschung (SNF) heisst.

Wer hat, dem wird gegeben
Die Auswahl der NFS folgt einem ungeschriebenen Gesetz: Berücksichtigt werden nur die Projekte, hinter denen mächtige gesellschaftliche, politische oder wirtschaftliche Interessen stehen. Die Einhaltung dieser Regel wird durch die Vorgabe gewährleistet, dass der Bund nur Projekte bewilligt, für die sich ansehnliche „Drittmittel“ – d.h. weitere Finanzierungsquellen – auftreiben lassen. Ein Blick auf die Liste der 20 laufenden NFS (Kasten) lässt erahnen, wessen Interessen bedient werden. Es handelt sich um verschiedene Industriezweige, am Rande aber auch um Gruppen wie die NGOs (NFS Nord- Süd) oder das Hochkulturmilieu (NFS Bildkritik). Auf dieser Liste befindet sich auch ein Forschungsvorhaben, das mit viel Gespür für Marketing unter der Abkürzung Sesam präsentiert wird.

Erforschung des Seelenheils
Die Swiss Etiological Study of Adjustment and Mental Health (Sesam) verfolgt kein bescheidenes Ziel: Sie will die „menschliche Entwicklung und die seelische Gesundheit“ verstehen. Die Projektleitung beruft sich auf zunehmende Depressionen, Angststörungen, Jugendgewalt und beeinträchtigte Leistungsfähigkeit, deren Ursachen erforscht werden sollen. Es geht darum herauszufinden, warum Menschen nicht „normal“ angepasst und leistungsfähig sind, und was dagegen unternommen werden kann. Ein solches Forschungsvorhaben lässt sich politisch rechtfertigen: für die „Wettbewerbsfähigkeit“ oder für eine Senkung der Sozial- und Gesundheitsausgaben, wie die Diskussion über die Zunahme der psychischen Krankheiten bei der IV zeigt. Natürlich gibt es auch Wirtschaftsinteressen: So ist die Versicherungsbranche an „Risikoprofilen“ interessiert, um ihre KundInnen in verschiedene Kategorien einzuteilen und zu unterschiedlichen Bedingungen zu versichern. Die Pharmaindustrie sucht Erkenntnisse für die Entwicklung von Medikamenten gegen Depressionen und weitere psychische Störungen. Der Roche- Konzern hat im Februar 2006 bekannt gegeben, Sesam mit 6 Millionen Franken zu unterstützen; das ist mehr als ein Viertel der für 2005-08 budgetierten knapp 23 Millionen Franken.

Von der Schwangerschaft bis zum Erwachsenenalter
Sesam ist eine Langzeitstudie: 3'000 heranwachsende Kinder sollen ab der 20. Woche der Schwangerschaft bis zum Eintritt ins Erwachsenenalter untersucht werden. Mit einbezogen werden die Eltern und Grosseltern; insgesamt soll die Studie 15'000 Personen umfassen. Sie umfasst medizinische Abklärungen, genetische Analysen, Beobachtungen des Verhaltens von Kindern und Eltern und Umfragen mit Fragebogen. Mit der Suche nach TeilnehmerInnen wurde im Oktober 2007 am Basler Universitätsspital begonnen. Interessentinnen werden in der Schwangerschaftsberatung mit einer bunten Broschüre angelockt, auf deren Frontseite eine schwangere Frau im Jahr der Euro 08 im roten TShirt mit Schweizerkreuz posiert. „Was macht uns gesund, was macht uns krank?“ – so lautet die Überschrift. Es fehlt bei Sesam nicht an der Marketingkompetenz. Auch billige Arbeitskräfte sind vorhanden: Studierende werden als PraktikantInnen angeworben und verrichten – für ein Arbeitszeugnis – einige Monate Gratisarbeit (Fragebogen tippen, Datenfiles vorbereiten, Papiere ordnen). Andere Studierende dürfen nach Hunderten Arbeitsstunden für Sesam eine kürzere Abschlussarbeit abliefern.

Ein Wissenschaftsmanager
Das NFS Sesam ist an der Psychologischen Fakultät der Universität Basel angesiedelt. Die Leitung liegt bei Professor Jürgen Margraf – einem jungen und dynamisch auftretenden Psychologen, der sich am Verhandlungstisch oder im Scheinwerferlicht der Medien genau sowohl fühlt wie im wissenschaftlichen Labor. Er war an vorderster Front dabei, als die Psychologie kürzlich aus der Philosophisch- Historischen Fakultät austrat und eine eigene Fakultät bildete. Zu Beginn der 90er Jahre verselbständigte sich in Basel das Wirtschaftswissenschaftliche Zentrum (WWZ) und wurde rasch zu einer Bastion der „Experten“ im Dienste von Privatisierung und Sozialabbau - Silvio Borner lässt grüssen. Jürgen Margraf und seine Entourage – darunter seine Frau, die Professorin Silvia Schneider, selbst Mitglied der strategischen Leitung von Sesam – wollen die Psychologie von der Psychoanalyse und der Sozialpsychologie trennen und „naturwissenschaftlich“ ausrichten. Zudem profilierte sich Margraf als Berater des Bundesamts für Sozialversicherungen bei der 5. IV-Revision und als feuriger Anhänger der Bologna - Studienreform, bei deren Einführung seine Fakultät einer Pionierrolle beanspruchte.

Ein soziologisches Feigenblatt?
Der Schweizerische Nationalfonds führt Sesam unter Sozial- und Geisteswissenschaften und beteiligt sich dadurch an einem Etikettenschwindel, der die Legitimierung des umstrittenen Vorhabens begünstigen soll. In Wirklichkeit ist Sesam von Fachleuten aus der Medizin, den Naturwissenschaften und einer naturwissenschaftlich orientierten Psychologie dominiert. Unter den 33 Mitgliedern der Projektleitung figuriert nur eine Person, die nicht einem solchen Profil entspricht: Es handelt sich um Professor Johannes Siegrist, den Leiter des Instituts für Medizinsoziologie an der Heinrich- Heine-Universität Düsseldorf. Siegrist ist mit der Theorie der „Gratifikationskrisen“ bekannt geworden: Die Wahrscheinlichkeit, krank zu werden, steigt demnach, wenn Menschen sich stark verausgaben und nicht angemessen entschädigt werden. In den 80er Jahren führte er Studien über die gesundheitsschädigenden Auswirkungen des Rauchens durch, die von der Tabakindustrie mit finanziert wurden, wie der Spiegel am 6.6.2005 berichtete. In einer Stellungnahme räumte Siegrist ein, im Nachhinein hätten sich die Kontakte zur Tabakindustrie als Fehler erwiesen und die Public Health Forschung sollte „vollkommen unabhängig von Industrieinteressen“ erfolgen. Weiss er nicht, dass Sesam durch den Roche-Konzern gesponsert wird? Ist Big Pharma harmloser als die Tabakindustrie?

„Ganzheitlich“ oder „sozialistisch“?
In einem Interview mit der NZZ am Sonntag (11.6.2006) trug Jürgen Margraf ein Loblied auf die Interdisziplinarität vor und versteifte sich zur Behauptung, Sesam könne als „ganzheitlich“ bezeichnet werden, da zahlreiche wissenschaftliche Disziplinen beteiligt seien. Angesprochen auf den von KritikerInnen formulierten Vorwurf eines „reduktionistischen Menschenbildes“ reagierte er ungehalten und meinte, das Projekt sei nicht „biologistisch“, nur weil BiologInnen dabei seien. Daraufhin fragte er rhetorisch zurück: „Wir haben Soziologie dabei – sind wir deswegen sozialistisch?“ Dass der „Sozialismus“ in Margrafs Konzept von Interdisziplinarität keinen Platz hat, überrascht nicht. Man fragt sich aber, was er unter Soziologie versteht.

Ethik und Genetik
In einer breiten politischen und wissenschaftlichen Öffentlichkeit ist Sesam auf Kritik gestossen. Neben dem Vorwurf wissenschaftlicher Einseitigkeit werden ethische Bedenken vorgetragen. Der Basler Appell gegen Gentechnologie lancierte eine Petition, die im März 2006 mit 12‘000 Unterschriften eingereicht wurde. Sie fordert den Abbruch des Forschungsvorhabens, da es sich um „fremdnützige Forschung an Kindern“ handle, wofür in der Schweiz keine rechtliche Grundlage existiere; als problematisch werden insbesondere die Erbgutanalysen betrachtet. In der Tat sind das eidgenössische Humanforschungsgesetz und ein Verfassungsartikel dazu zurzeit in der Vernehmlassung und werden nicht vor 2010 in Kraft treten. Ausserdem fordert der Basler Appell eine Akteneinsicht – insbesondere sollen der Inhalt der Projektskizze, das Sesam- Hauptgesuch sowie die Verträge von Sesam mit dem Schweizerischen Nationalfonds und mit Roche öffentlich zugänglich gemacht werden, damit eine ernsthafte Diskussion über das Projekt ermöglicht wird. Sogar die SP Basel- Stadt fühlte sich veranlasst, ein „kritisches“ Positionspapier zu verfassen: Darin wird zwar grundsätzlich begrüsst, dass Sesam als NFS bei der Universität Basel angesiedelt worden sei, doch bemängelt die SP die Informationspolitik der Projektleitung, mahnt die Rücksichtnahme auf ethische Bedenken an und wünscht sich eine engmaschige Kontrolle durch die zuständige Ethikkommission.

Ein helvetischer Kompromiss
Im März 2007 erteilte die Ethikkommission Beider Basel (EKBB) grünes Licht für den Start von Sesam, allerdings unter Auflagen; insbesondere sollte auf die genetischen Analysen bei Kindern verzichtet werden. Damit war ein zentraler Bestandteil des Forschungsvorhabens in Frage gestellt und es wurde gemunkelt, Roche könnte die Unterstützung zurückziehen. Der Projektleitung gelang es, den Entscheid abzuschwächen: Die Ethikkommission erlaubt nun die Entnahme von Speichelproben nach der Geburt, um die DNA zu bestimmen. Diese Proben dürfen aber erst untersucht werden, wenn die volljährig gewordenen Kinder zustimmen. Bis dann werden sie eingefroren und in einer Biodatenbank aufbewahrt, deren Inhalt Sesam nicht ohne Rücksprache mit der EKBB verwenden soll. In einem Interview mit der Aargauer Zeitung (28. März 2007) betonte Jürgen Margraf, er könne mit diesem Kompromiss gut leben, weil sich Korrelationen zwischen Erbgut und Krankheiten erst im Erwachsenenalter zeigten. Und „bei den 12‘000 Erwachsenen können wir die DNA-Analysen sofort durchführen“.

Das Gen und die Umwelt
Die Projektverantwortlichen betonen, das Ziel bestehe nicht darin, ein Gen zu finden, das Depressionen oder Gewaltneigung verursacht; vielmehr gehe es darum, wie die psychischen Störungen sich im Zusammenspiel von Erbgut und Umwelteinflüssen entwickelten. Soziale Umstände, Familienstrukturen, Lebensstile und Verhaltensweisen der El tern – zum Beispiel die (mangelnde) „Feinfühligkeit der Mutter“ – könnten sich als ebenso wichtig erweisen wie genetische Faktoren. Doch wenn es Menschen in einer Gesellschaft schlecht geht, kann auf zwei Weisen darauf reagiert werden: durch Anpassung und Therapierung der einzelnen Menschen (eventuell der Familie, des unmittelbaren Umfeldes) oder durch Veränderungen der Gesellschaftsstrukturen. Es ist jetzt schon klar, in welche Richtung die Empfehlungen des Sesam- Projekts weisen werden, wenn die Ergebnisse vorliegen. Sie werden sich pseudowissenschaftlich auf eine Datenbank mit vielfältigen Angaben über 15‘000 Menschen beziehen, die im Verlauf von 20 Jahren gesammelt wurden. Die ideologische Wirkungsmacht des „akademischindustriellen Komplexes“, von dem Sesam nur einen Ausschnitt darstellt, sollte nicht länger unterschätzt werden.

Die 20 Nationalen Forschungsschwerpunkte

1. Emotionen im individuellen Verhalten und in sozialen Prozessen
2. Bildkritik – Macht und Bedeutung der Bilder
3. Computerunterstützte und bildgeführte medizinische Eingriffe
4. Herausforderungen an die Demokratie im 21. Jahrhundert
5. Bewertung und Risikomanagement im Finanzbereich
6. Grenzen in der Genetik
7. Interaktives Multimodales Informationsmanagement
8. Variabilität, Vorhersehbarkeit und Risiken des Klimas
9. Materialien mit neuartigen elektronischen Eigenschaften
10. Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen: Historische
Perspektiven
11. Mobile Informations- und Kommunikationssysteme
12. Molekulare Onkologie
13. Nanowissenschaften
14. Plastizität und Reparatur des Nervensystems
15. Nord-Süd – Forschungspartnerschaften zur Linderung von Syndromen des globalen Wandels
16. Überlebenserfolg von Pflanzen in naturnahen und landwirtschaftlichen Ökosystemen
17. Quantenphotonik
18. Schweizerische ätiologische Studie zur psychischen Gesundheit
(Sesam)
19. Strukturbiologie
20. Rahmenbedingungen des internationalen Handels

Freitag, 7. März 2008

Sesam in der Krise - in NZZ und Tagi

Neue Zürcher Zeitung, 07.03.2008, Seite 16

Sesam fehlen die Frauen

Forschungsschwerpunkt sucht nach Studienteilnehmerinnen

hof. «Sesam» bekundet Mühe, genügend Frauen für die angepeilten Studien zu rekrutieren. Die Wissenschafter des Nationalen Forschungsschwerpunkts Sesam, dessen Hauptsitz an der Universität Basel ist, wollen die psychische Entwicklung über die Lebensspanne untersuchen (Sesam steht für Swiss Etiological Study of Adjustment and Mental Health). Dazu werden seit vergangenem Oktober in verschiedenen Kliniken schwangere Frauen gesucht, die bereit sind, an den Versuchen mitzumachen. In der ersten Phase werden die Teilnehmer interviewt, es finden Verhaltensbeobachtungen und Ultraschalluntersuchungen sowie biologische Messungen statt. «Bisher haben sich dafür deutlich weniger Frauen gemeldet, als wir geplant haben», sagt Jürgen Margraf, Direktor von Sesam und Professor für
klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Basel. Genaue Zahlen möchte er noch nicht nennen. Am Montag werde man die neusten Zahlen zusammentragen und am Donnerstag die Öffentlichkeit informieren, sagt er. Man müsse sich jetzt überlegen, wie die Versuchsanlage angepasst werden könne, um die Ziele trotzdem zu erreichen. Insgesamt will die Studie über 20 Jahre hinweg 3000 Kinder und deren Familien forschend begleiten. Es bestünde zum Beispiel die Möglichkeit, die Frauen statt während der Schwangerschaft erst ab Geburt zu rekrutieren, sagt Margraf. Dabei erziele man in der Regel bessere Resultate, was die Anzahl Studienteilnehmer betrifft. Allerdings wäre man dann gezwungen, die Phase der Schwangerschaft retrospektiv zu erforschen. Ein anderer Weg wäre, die Fristen zu verlängern, was aber Geld kostet. Im April werde man mit den Institutionen, die Sesam tragen, das weitere Vorgehen besprechen, sagt Margraf. Unterstützt wird das Projekt, für das bis 2009 über 22 Millionen Franken budgetiert sind, neben dem Nationalfonds auch von Pharmaunternehmen. Sesam ist in Basel immer wieder von Seiten der Nichtregierungsorganisation «Basler Appell gegen Gentechnologie» unter Beschuss geraten. Die Kritiker stellen die Zulässigkeit von Forschung an Kindern grundsätzlich in Frage. Von den zuständigen Ethikkommissionen ist Sesam bewilligt worden.



Tages-Anzeiger, 07.03.2008, Seite 36

Viel zu wenig Schwangere wollen an Basler Forschungsprojekt teilnehmen

Das umstrittene Basler Projekt Sesam findet nicht genügend Freiwillige. Wenn sich auch noch die Geldgeber zurückziehen, könnte das Forschungsvorhaben scheitern.

Von Anke Fossgreen

Seit gut fünf Monaten fragen Ärzte der Frauenklink Basel schwangere Frauen, ob sie beim Nationalen Forschungsschwerpunkt Sesam teilnehmen wollen. Seit Januar versuchen Gynäkologen am Inselspital Bern werdende Mütter zu rekrutieren, und dieser Tage startet auch das Universitätsspital in Zürich. Bisher haben allerdings nicht einmal 30 Frauen zugesagt - 3000 sollen es jedoch bis zum Jahr 2010 sein. «Die Zahlen sind weit unter unseren Erwartungen», sagt Jürgen Margraf besorgt. Der Leiter des Nationalen Forschungsschwerpunktes sieht das gross angelegte Forschungsvorhaben in Gefahr, «wenn wir es nicht schaffen, bis zum Sommer genügend Teilnehmerinnen zu rekrutieren».
Bei Sesam (Swiss Etiological Study of Adjustment and Mental Health) wollen mehr als 20 Schweizer Forschergruppen die psychische Entwicklung von 3000 Kindern von Beginn an, also bereits im Mutterleib, bis zu ihrem 20. Lebensjahr verfolgen. Mit eingeschlossen werden sollen auch Eltern und Grosseltern werden. So wollen die Wissenschaftler unter anderem erkunden, warum Schweizer Jugendliche im internationalen Vergleich besonders häufig an psychischen Störungen leiden. Die Anzahl der Jugendlichen mit einer Depression ist hier zu Lande überdurchschnittlich hoch, ebenso sind es die verübten Selbstmorde in dieser Altersgruppe. Indem sie die Teilnehmer zur Erziehung befragen, zum Familienleben oder zur Stressbewältigung, wollen die Wissenschaftler Risiko oder Schutzfaktoren für psychische Erkrankungen finden.
Nächste Woche werden sich die Leiter von Sesam neue Strategien überlegen, wie mehr Frauen für das Projekt zu begeistern sind. «Ein Problem war, dass generell weniger Schwangere als gedacht in die Spitäler kamen», so Margraf, «und von denen wollten kaum welche am Projekt teilnehmen.» Allerdings sprachen viele der Frauen nicht genügend Deutsch oder Französisch. Ohne gute Kenntnisse einer der beiden Sprachen schieden sie aber von vornherein aus, da das die Sprachen der Fragebögen und Interviews sind.
Nicht nur die Forscher sind besorgt über die schlecht angelaufene Anfangsphase, auch die Sponsoren beobachten die Entwicklung von Sesam skeptisch. Laut Martina Rupp, Pressesprecherin beim Pharmakonzern Roche, werden sich noch im März die Geldgeber des Forschungsvorhabens zusammensetzen, um die Fortschritte zu beraten. Für die erste Projektphase von 2005 bis 2009 stehen insgesamt mehr als 22,7 Millionen Franken zur Verfügung, knapp die Hälfte davon finanziert der Schweizer Nationalfonds, einen Teil die Universität Basel und mehr als ein Viertel stammt von Roche. «Wenn die vereinbarten Ziele nicht erreicht werden, diskutieren die Partner, wie es mit Sesam weitergeht», sagt Rupp. Schliesslich würden die Kosten steigen, wenn die Rekrutierungsphase sehr viel länger ginge.

Keine genetischen Daten der Kinder

In die Schlagzeilen geraten ist Sesam vor allem wegen eines Teilprojektes. Wissenschaftler der Universität Basel wollten im Erbgut der Kinder nach genetischen Veränderungen suchen, die eine psychische Krankheit auslösen könnten. Die Ethikkommission beider Basel entschied jedoch vor einem Jahr, dass derartige genetischen Analysen bei Minderjährigen nicht zulässig seien. Erst wenn die Teilnehmer die Volljährigkeit erreicht haben, können sie - nach eigenem Ermessen - ihre Daten den Forschern zur Verfügung stellen, beschied die Ethikkommission. Jürgen Margraf bezweifelt, dass die Schwangeren aus ethischen Bedenken die Teilnahme verweigerten. Denn: «Etwa 90 Prozent der Angefragten hatten noch nie etwas von dem Forschungsschwerpunkt Sesam gehört.»

Donnerstag, 6. März 2008

Ist SESAM vor dem Aus?

Im Morgeninfomagazin "Heute Morgen" auf Radio DRS berichtete Christian Heuss am 6. März 2008 (Dauer 2 Min.):









Das ausführlichere Gespräch (rund 7 Minuten) mit Christian Heuss am 6.3. auf DRS4news, in dem ein Aspekt zur Sprache kommt, der im baz-Artikel ganz fehlt: der mögliche Rückzug der Finanzierung durch Roche (6 Millionen), wenn bis Ende März nicht rund 300 Frauen "rekrutiert" sind. Diese Zahl ist kaum zu erreichen.










gleichentags schreibt die baz auf der Frontseite:

Schwangere lassen "sesam" zappeln - Das Forschungsprojekt sucht in Basel dringend Teilnehmerinnen

Das nationale Forschungsprojekt "sesam" kommt nicht in die Gänge. Seit einem halben Jahr wird in mehreren Spitälern der Schweiz nach Freiwilligen für die Langzeitstudie gesucht, darunter auch in der Basler Frauenklinik. 3000 Kinder sind nötig, die schon im Mutterleib und bis ins 20. Lebensjahr periodisch auf ihre psychische Entwicklung hin untersucht werden sollen. Doch die Verantwortlichen haben ein Problem: Die Rekrutierung von Schwangeren ist weitaus schwieriger als erwartet. «Es läuft nicht wie gewünscht», bestätigt « sesam »-Sprecher Daniel Habegger.

Von den 5,5 Kindern, die pro Tag durchschnittlich im Basler Frauenspital geboren werden, erfüllt nur etwa eines die Anforderungen für das Prozedere – dazu gehören sehr gute Deutsch- oder Französischkenntnisse der Eltern. Eine kleine baz-Umfrage unter Frauen zeigt zudem, dass die Kontaktaufnahme teilweise als «ungeschickt und etwas plump» empfunden wird. Wie gross die Zahl der bisher verpflichteten Teilnehmerinnen ist, soll nächste Woche an einer Medienorientierung bekannt gegeben werden. Es wird erwartet, dass die Projektleitung organisatorische Anpassungen vornimmt, mit denen auf die Entwicklung reagiert werden kann. Eine Massnahme wäre, Frauen auch in anderen Spitälern oder bereits in der Arztpraxis anzusprechen.

Basler Zeitung, 06.03.2008, Seite 11

Das "sesam"-Tor klemmt - Das nationale Forschungsprojekt bekundet grosse Mühe, Teilnehmerinnen zu finden

von Markus Kocher

Für die « sesam »-Studie suchen die Forscher 3000 Schwangere, um deren Kinder bis ins 20. Lebensjahr regelmässig zu untersuchen. Damit soll die Entstehung psychischer Krankheiten besser verstanden werden. Doch die Studie hat Startschwierigkeiten, da zuwenig Probandinnen mitmachen.

Um das Grossprojekt « sesam » steht es nicht gut. Ein halbes Jahr nach dem offiziellen Start der Kernstudie in Basel hat sich unter den Verantwortlichen Ernüchterung breitgemacht. Das Problem: Die Rekrutierung der Teilnehmerinnen gestaltet sich sehr schwierig, nicht nur in Basel. «Es läuft nicht wie gewünscht», sagt « sesam »-Pressesprecher Daniel Habegger. Bewilligt wurde die Studie auch in Zürich und Bern. In Genf und Lausanne stehen die Entscheide zur Durchführung hingegen noch aus.

Insgesamt werden für die Kernstudie rund 3000 Schwangere gesucht, deren Kinder ab der 20. Schwangerschaftswoche und bis ins 20. Lebensjahr periodisch untersucht werden sollen. Erforscht werden soll auch das nähere familiäre Umfeld der Probanden. Beteiligen sich ausser dem Kind und der Mutter wie erwünscht auch der Vater sowie die Grosseltern der Kinder, wächst die Zahl der Beteiligten auf rund 15 000 Personen an. Mit den erhobenen Daten soll ein tieferes Verständnis für die Entwicklung der psychischen Gesundheit sowie für die Entstehung psychischer Krankheiten wie Depressionen und Angststörungen gewonnen werden.

KEINE HANDVOLL. Unbestätigten Informationen zufolge gibt es in Basel bislang «keine Handvoll Leute», die an der Studie mitmachen wollen. Zu diesen Angaben will Habegger keine Stellung nehmen. Am 13. März plant die « sesam »-Leitung jedoch, öffentlich über den Stand des Projekts zu orientieren. Erwartet werden organisatorische Anpassungen: Um mehr Frauen anzusprechen, dürfte der Einbezug weiterer Spitäler im Vordergrund stehen. In Basel werden derzeit nur Besucherinnen der Frauenklinik zur Studie eingeladen.

An der Teilnehmerzahl von 3000 Kindern soll nichts geändert werden. Die gewünschten Änderungen seien als «unbedenklich» abgesegnet worden, sagt André Perruchoud, der Präsident der für die ethische und juristische Begleitung des Projekts zuständigen Ethikkommission beider Basel (EKBB).

Nicht überrascht. Perruchoud ist vom harzigen Verlauf nicht überrascht. Die zahllosen kontroversen Diskussionen rund um Datenschutz, Gentests und Haftungsfragen hätten viele Leute vorab in Basel als dem Ausgangsort der Studie gegen das Projekt eingenommen, sagt er. Doch spielt laut Habegger dieser «politisch-ethische Hickhack überraschenderweise keine Rolle». Die meisten Angefragten würde der absehbare Aufwand abschrecken. Probleme bereitet auch die Sprachbarriere. Da die Studie nur in Deutsch und Französisch durchgeführt wird, müssen in einer dieser Sprachen gute Kenntnisse vorhanden sein. Dadurch werde die Anzahl möglicher Teilnehmerinnen eingeschränkt, bedauert Habegger.

Fragen wirft die schlechte Bilanz von « sesam » auch in finanzieller Hinsicht auf. «Die Verzögerung ist natürlich nicht ideal», sagt Alan Knaus vom Schweizerischen Nationalfonds, der die Studie zum Grossteil finanziert. Über das weitere Vorgehen und die Finanzierung der zweiten Phase (2009–2012) wird der Geldgeber aber erst nach einer Beurteilung durch ein internationales Expertenteam im Herbst entscheiden. Für die Phase 2005–2008 steuert der Nationalfonds 10,2 Millionen Franken bei. Weitere 12,5 Millionen kommen von der Uni Basel als Heiminstitution, von beteiligten Kliniken sowie der Roche.

in der Kritik. Die nationale Gesundheitsstudie mit dem so geheimnis- wie verheissungsvoll klingenden Namen kämpfte von Beginn weg mit erheblichen Schwierigkeiten. So musste der Start zum 20 Jahre dauernden Projekt mehrmals hinausgeschoben werden. Es hagelte Kritik, unter anderem vom Basler Appell gegen Gentechnologie. Die EKBB verfügte im März letzten Jahres einen Verzicht auf DNA-Tests an Kindern – eine empfindliche Einschränkung. Ende Juli 2007 gab die Ethikkommission die Studie schliesslich frei. Seit dem 1. Oktober ist « sesam » offiziell auf der Suche nach Schwangeren.

Kasten auf Seite 11:

Die meisten Frauen haben ethische Bedenken

Unbehagen. Die grosse Mehrheit der Frauen will offenbar von « sesam » nichts wissen. Seit Oktober 2007 versuchen Fachleute, Schwangere oder Mütter für ein Mitmachen an der Langzeitstudie zu gewinnen. In den allermeisten Fällen bleiben die Gespräche fruchtlos. Die baz hat einige Frauen nach den Gründen für die Zurückhaltung gefragt (sie äussern sich anonym, ihre Namen sind der Redaktion aber bekannt). Ein wichtiger Einwand ist ethischer Natur: «Wie soll man wissen, was das Kind einmal davon denkt, dass es beobachtet wird» und «Ich will einen solchen Entscheid nicht für jemand anderen fällen» – solche Aussagen machen das Dilemma deutlich. Auch wird zum Teil Mühe mit der Vorstellung bekundet, in «einer Statistik zu landen, welche die eigene Realität im Endeffekt gar nicht abbilden kann». Auch das Unbehagen, zu viel von sich preisgeben zu müssen, wurde als Grund genannt. Mühe bereitete auch die Art der Kontaktaufnahme. Teilweise wurde das Vorgehen als «ungeschickt und etwas plump» empfunden. «Je nach Verfassung der Frau kann das eine ziemliche Zumutung sein», sagte eine Frau, die am Tag nach der Geburt für die Teilnahme an einer Sesam -Vorstudie angefragt wurde.
Doch es gibt auch positive Rückmeldungen: «Ich bin dabei, weil die Resultate aus der Studie später einmal anderen helfen können», sagt die Mutter eines Sohnes. Ob sie mitgemacht hätte, wenn die Studie wie ursprünglich geplant an DNA-Untersuchungen gekoppelt gewesen wäre, kann sie nicht sagen: «Es hätte mich aber sicher mehr aufgewühlt.» Soeben hat sie eine Art Tagebuch abgeschlossen, in das während zwei Wochen regelmässig Angaben zum Schlaf- und Wachrhythmus, Körperkontakt und weitere Beobachtungen eingetragen werden mussten. Der Aufwand halte sich in Grenzen: Die nächste Untersuchung kommt erst wieder, wenn das Kind sechs Monate alt ist.


Und übrigens: Bei Radio DRS existiert ein Dossier zu "Sesam" auf der Webseite.
logo

Sesam Watch

Beobachtungen und Notizen zum Schweizer NCCR "Sesam", der 3'000 Kinder und ihr Umfeld vom ersten Ultraschallbild an 20 Jahre lang beobachten wollte (vorzeitiger Abbruch: 13.3.08). Autonom, skeptisch, ehrenamtlich. Kontakt: sesamwatch@gmail.com

Grundsätze



FAIR USE bei Zitaten.

Suche

 



Powered by FeedBlitz

Status

Online seit 6826 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 10. Sep, 15:53

Credits

powered by Antville powered by Helma

sorua enabled
Creative Commons License

xml version of this page

twoday.net AGB

Watchlinks


Aussenreaktionen
Diskussion
Ethik
Finanzen
Geistesverwandte
Grundlagen
Leserbriefe
Margraf
Medienbeobachtung
Medienreaktionen
Politikreaktionen
Sesamkontakt
Sesamprojekte
Sesamreaktionen
Sesamzitat
Veranstaltung
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren