Carola Meier-Seethaler in der WoZ zu Sesam
In der Ausgabe von gestern Donnerstag. Titel "Was bitte ist Ethik?"
(...) Was in der Wirtschaft schon lange üblich ist, scheint sich in den letzten Jahren auch in der Forschung einzustellen: nämlich unbedenklich in eine Gesetzeslücke zu springen, wie dies bei der Einführung embryonaler Stammzellen aus dem Ausland für die Genfer Forschung geschah. Bereits in diesem Fall ging es um die Vollendung von Tatsachen, bevor das Parlament sich mit einem zu schaffenden Embryonengesetz befasste und kurz bevor die eigens dazu berufene Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin ihre Empfehlungen abgeben konnte.
Heute zeichnet sich ein ähnlicher Vorgang im Zusammenhang mit dem ehrgeizigen Forschungsprojekt Sesam ab (siehe WOZ Nr. 10/05), das mit einer genetischen, medizinischen und psychologischen Untersuchung von 3000 Kindern und ihren Familien schon diesen Oktober beginnen soll. Auch dies knapp vor dem Zeitpunkt, an dem sich das Parlament mit den grundlegenden Rahmenbedingungen für die Forschung am Menschen beschäftigen wird. Vorgesehen ist eine Untersuchung an Kindern bereits im Mutterleib vom dritten Schwangerschaftsmonat an bis zum zwanzigsten Lebensjahr.
Dass ein solches Forschungsprojekt eine Reihe von ethischen Problemen mit sich bringt, liegt auf der Hand. Dennoch sollen erst im Laufe des nächsten Jahres der Kantonalen Ethikkommission in Basel Einzelheiten über die erste Phase der Untersuchung vorgelegt werden. Da es sich aber um eine ganz neuartige Verbindung verschiedener Forschungsansätze sowie um die Datenerhebung bei nicht einwilligungsfähigen Personen handelt, wäre es ethisch und politisch angezeigt, mit dem Start des Projekts abzuwarten, bis sich sowohl die Nationale Kommission im Bereich Humanmedizin als auch die Kantonale Ethikkommission und das Parlament ein Urteil gebildet haben. Meines Erachtens verlangt dies der demokratische Anstand. Vor dem jetzt sich abzeichnenden Hintergrund sehen sich die Mitglieder von Ethikkommissionen in die Lage gedrängt, den Beweis für ihre ethischen Bedenken zu führen, während die Forschung das Recht beansprucht, ihre Chancen ungehindert wahrzunehmen, solange vermutete Gefahren nicht eindeutig nachweisbar sind.
Auch darf es bei ethisch-moralischen Entscheidungen nicht nur um individuelle Bedürfnisse gehen. Moralische Verantwortung bezieht sich immer auch auf gesamtgesellschaftliche Konsequenzen. So ist wesentlich, in welchem Umfeld und angesichts welcher kulturellen Tendenzen wir unsere Fragen stellen. Wohin führt die Vorstellung von der möglichen Ausmerzung von genetisch bedingten Krankheiten? Kommen wir damit zur Unterscheidung zwischen wertem und unwertem Leben oder gar zu dem Gedanken, dass imperfekte Menschen der Gesellschaft der Fitten nicht zumutbar sind? Und wenn es das erklärte Ziel des Sesam-Projektes ist, die Ursachen für psychische Beeinträchtigungen und Störungen zu verstehen, um sie möglichst umfassend zu vermeiden, verstärkt dies nicht den Druck auf Eltern und Jugendliche, möglichst angepasste und reibungslos funktionierende Mitglieder der Gesellschaft hervorzubringen beziehungsweise zu werden?
(...)
Carola Meier-Seethaler ist seit 2001 Mitglied der Nationalen Ethikkommission im Bereich Humanmedizin. Sie studierte Philosophie und Psychologie in München und promovierte mit einem Thema aus der Ethik. Unterrichtstätigkeit an höheren Fachschulen und private psychotherapeutische Praxis. Autorin unter anderem von «Gefühl und Urteilskraft» (München 1997) und «Das Gute und das Böse. Die mythologischen Hintergründe des Fundamentalismus in Ost und West» (Stuttgart 2004).
(...) Was in der Wirtschaft schon lange üblich ist, scheint sich in den letzten Jahren auch in der Forschung einzustellen: nämlich unbedenklich in eine Gesetzeslücke zu springen, wie dies bei der Einführung embryonaler Stammzellen aus dem Ausland für die Genfer Forschung geschah. Bereits in diesem Fall ging es um die Vollendung von Tatsachen, bevor das Parlament sich mit einem zu schaffenden Embryonengesetz befasste und kurz bevor die eigens dazu berufene Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin ihre Empfehlungen abgeben konnte.
Heute zeichnet sich ein ähnlicher Vorgang im Zusammenhang mit dem ehrgeizigen Forschungsprojekt Sesam ab (siehe WOZ Nr. 10/05), das mit einer genetischen, medizinischen und psychologischen Untersuchung von 3000 Kindern und ihren Familien schon diesen Oktober beginnen soll. Auch dies knapp vor dem Zeitpunkt, an dem sich das Parlament mit den grundlegenden Rahmenbedingungen für die Forschung am Menschen beschäftigen wird. Vorgesehen ist eine Untersuchung an Kindern bereits im Mutterleib vom dritten Schwangerschaftsmonat an bis zum zwanzigsten Lebensjahr.
Dass ein solches Forschungsprojekt eine Reihe von ethischen Problemen mit sich bringt, liegt auf der Hand. Dennoch sollen erst im Laufe des nächsten Jahres der Kantonalen Ethikkommission in Basel Einzelheiten über die erste Phase der Untersuchung vorgelegt werden. Da es sich aber um eine ganz neuartige Verbindung verschiedener Forschungsansätze sowie um die Datenerhebung bei nicht einwilligungsfähigen Personen handelt, wäre es ethisch und politisch angezeigt, mit dem Start des Projekts abzuwarten, bis sich sowohl die Nationale Kommission im Bereich Humanmedizin als auch die Kantonale Ethikkommission und das Parlament ein Urteil gebildet haben. Meines Erachtens verlangt dies der demokratische Anstand. Vor dem jetzt sich abzeichnenden Hintergrund sehen sich die Mitglieder von Ethikkommissionen in die Lage gedrängt, den Beweis für ihre ethischen Bedenken zu führen, während die Forschung das Recht beansprucht, ihre Chancen ungehindert wahrzunehmen, solange vermutete Gefahren nicht eindeutig nachweisbar sind.
Auch darf es bei ethisch-moralischen Entscheidungen nicht nur um individuelle Bedürfnisse gehen. Moralische Verantwortung bezieht sich immer auch auf gesamtgesellschaftliche Konsequenzen. So ist wesentlich, in welchem Umfeld und angesichts welcher kulturellen Tendenzen wir unsere Fragen stellen. Wohin führt die Vorstellung von der möglichen Ausmerzung von genetisch bedingten Krankheiten? Kommen wir damit zur Unterscheidung zwischen wertem und unwertem Leben oder gar zu dem Gedanken, dass imperfekte Menschen der Gesellschaft der Fitten nicht zumutbar sind? Und wenn es das erklärte Ziel des Sesam-Projektes ist, die Ursachen für psychische Beeinträchtigungen und Störungen zu verstehen, um sie möglichst umfassend zu vermeiden, verstärkt dies nicht den Druck auf Eltern und Jugendliche, möglichst angepasste und reibungslos funktionierende Mitglieder der Gesellschaft hervorzubringen beziehungsweise zu werden?
(...)
Carola Meier-Seethaler ist seit 2001 Mitglied der Nationalen Ethikkommission im Bereich Humanmedizin. Sie studierte Philosophie und Psychologie in München und promovierte mit einem Thema aus der Ethik. Unterrichtstätigkeit an höheren Fachschulen und private psychotherapeutische Praxis. Autorin unter anderem von «Gefühl und Urteilskraft» (München 1997) und «Das Gute und das Böse. Die mythologischen Hintergründe des Fundamentalismus in Ost und West» (Stuttgart 2004).
patpatpat - 23. Sep, 10:33