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Freitag, 14. März 2008

Aargauer Zeitung/MLZ vom 14.3.08: Das Aus für ein ehrgeiziges Projekt

Sesam-Studie: Millionenprojekt ist gescheitert

Die Spekulationen über die Anzahl Teilnehmerinnen schossen in den letzten Wochen ins Kraut: Statt 3000 sei nur eine «Handvoll Personen» bereit, an einem der ehrgeizigsten Projekte der Schweizer Wissenschaftsgeschichte teilzunehmen. Jetzt ist klar: Die Sesam-Studie muss bereits in der Startphase abgebrochen werden.

Das Vorhaben war weltweit einzigartig. Und die finanzielle Investition war für Schweizer Verhältnisse ausserordentlich gross. Allein bis Ende 2009 sollten über 22 Millionen Franken ausgegeben werden. Doch jetzt kommt das vorzeitige Ende: Die interdisziplinäre Langzeitstudie über die menschliche Entwicklung und die seelische Gesundheit, Sesam soll abgebrochen werden. Das Ziel, mehrere tausend Studienteilnehmende innerhalb von zwei Jahren zu rekrutieren, könne nicht erreicht werden, teilte das Sesam-Leitungsgremium gestern mit. Es wird beim Schweizerischen Nationalfonds die Einstellung der Kernstudie beantragen. Die zentrale wissenschaftliche Fragestellung, nämlich die Erforschung der Faktoren, die zu einer gesunden seelischen Entwicklung beitragen, solle aber weiter untersucht werden. Auch von der Kernstudie unabhängige Teilstudien sollen nach Möglichkeit weitergeführt werden. Vor dem Hintergrund der Zunahme psychischer Erkrankungen wie etwa Depressionen hatte Sesam zum Ziel, 3000 Kinder bis ins Erwachsenenalter periodisch zu untersuchen und zu befragen. Auch Eltern und Grosseltern waren eingeladen, bei der Studie mitzumachen.

Massive Kritik habe Sesam geschadet
Die Sesam-Leitung machte unter anderem den hohen Anspruch an die Beteiligten für das Scheitern des Projekts verantwortlich. «Viele Schwangere, die von uns angesprochen wurden, fühlten sich von den Dimensionen der Studie überfordert», erläutert Sesam-Vizedirektor Alexander Grob im MZ-Interview. «Zudem waren die mit der Teilnahme verbundenen administrativen Hürden hoch.» Geschadet habe Sesam ausserdem die massive und ungerechte Kritik, welcher das Projekt von Anfang an ausgesetzt gewesen sei, sagt Grob. Kritische Kreise wie der Basler Appell gegen Gentechnologie hatten ethische Bedenken geltend gemacht und Sesam sogar eugenische Absichten unterstellt. In einer Petition mit 12 000 Unterschriften brachten sie diese Kritik zum Ausdruck. Die Sesam-Leitung habe den Protest beiseitegeschoben, jetzt aber die Quittung kassiert. Im Aus der Kernstudie sieht der Basler Appell «eine peinliche Niederlage für die Universität Basel und für den Schweizerischen Nationalfonds, die das fragwürdige Projekt bis zuletzt verteidigt hatten». (Fes/ird)

MLZ vom 14.3.08: «Der Anspruch war zu hoch»

Interview: Der Basler Entwicklungspsychologe Alexander Grob über das Aus von Sesam Unablässige Kritik habe dem Projekt geschadet, meint der Sesam-Vizedirektor.

Von Irène Dietschi

Herr Grob, was hat die Sesam-Leitung falsch gemacht?

Alexander Grob: Wenn wir das wüssten, hätten wir uns eine zweite Chance gegeben. Wir können nur feststellen, dass wir unser Ziel, 3000 Frauen zu rekrutieren, nicht erreicht haben. In Basel hätten wir von Oktober bis jetzt 120 Frauen rekrutieren sollen, tatsächlich waren es nur 20. In den anderen Sesam-Städten waren die Zahlen ähnlich schlecht.

Ihnen wird vorgeworfen, Sie hätten Kritik von Anfang an in den Wind geschlagen, zum Beispiel wider besseres Wissen nur Deutsch und Französisch sprechende Frauen zugelassen.

Grob: Aufgrund der Zahlen, die wir an den Sesam-Standorten erhoben, hätten wir genügend rekrutierbare Frauen gehabt, auch wenn wir uns auf Deutsch und Französisch sprechende beschränkten. Richtig ist, dass der Anteil der Migrantinnen hoch ist. Im ursprünglichen Studiendesign wollten wir noch andere Sprachen berücksichtigen › Spanisch, Türkisch, Kroatisch und Tamilisch standen zur Disposition. Der Mehraufwand wäre allerdings enorm gewesen. Den Bewilligungsinstanzen war dies zu teuer. Zu den kritischen Stimmen: Wir waren sehr offen diesbezüglich. Es gab zum Beispiel das Sesam-Forum, ein Begleitforum der Bevölkerung, oder ein Fachgremium, das uns zum Patientenrecht, zu ethischen Fragestellungen usw. auf die Finger schauen wollte.

Trotzdem ist die Kernstudie gescheitert. Was war der Hauptgrund?

Grob: Es gab erstens weniger rekrutierbare Frauen, als wir dachten. Zweitens konnte Sesam zu wenig aktiv auf diese Frauen zugehen. Schwangere wurden bei der Kontrolle im Spital kurz auf das Projekt angesprochen und mit einer ausführlichen Broschüre bedient, dann hatten sie sechs Wochen lang Zeit, um sich zu entscheiden. In der Broschüre war viel von Risiken die Rede, und am Schluss mussten die Frauen ihre schriftliche Einwilligung mit zahlreichen Unterschriften leisten. Möglich, dass dieses aufwändige Prozedere abschreckte.

Sie waren im Vorfeld massiver Kritik ausgesetzt: Sesam sei ethisch nicht zu verantworten, das Projekt trage sogar eugenische Tendenzen.

Grob: Dieses Kesseltreiben hat uns extrem geschadet. Der Basler Appell gegen Gentechnologie sammelte Tausende von Unterschriften, in Bern reichte die grüne Nationalrätin Maya Graf eine Interpellation gegen Sesam ein. Die Voraussetzungen waren von Anfang an schlecht. Noch nie hat ein sozialwissenschaftliches Forschungsprojekt in der Schweiz so viel Publicity bekommen wie Sesam, und zwar negative. Eine fundamentalistische Gegnerschaft hat diese Kritik systematisch vorangetrieben. Dazu gehörten auch gewisse Medien.

Auch besonnenere Exponenten wie etwa Remo Largo fanden, Sesam habe unglücklich kommuniziert.

Grob: Das trifft vielleicht auf die Phase ganz am Anfang zu. Insgesamt aber kann man uns diesen Vorwurf mit Sicherheit nicht machen. Ich sehe es eher so, dass der Anspruch an die Beteiligten insgesamt zu gross war: «3000 Frauen, 20 Jahre lang, ich bin ein Teil davon, und wenn ich Ja sage, komme ich vielleicht nie wieder raus» obwohl man jederzeit hätte aussteigen können. Vielleicht wurde dies als Hürde wahrgenommen, die für die meisten zu hoch war. Hätten wir eine kleinere Studie mit kürzerer Laufzeit geplant, dann hätten wir ganz andere Teilnehmerinnenzahlen gehabt.

Wie gross ist der Schaden für den Forschungsplatz Schweiz?

Grob: Ich glaube, dass Forscher und Forscherinnen sich künftig auch gut überlegen müssen, ob man vitale und relevante Fragestellungen wie die von Sesam, nämlich die Entwicklung der psychischen Gesundheit und Krankheit, in der Schweiz in diesem Umfang angehen kann. Die Antwort: An einem Projekt, das viel Unterstützung bekam, das von internationalen Experten mit Höchstnoten bedacht und von den nationalen Gremien als wichtig erachtet wurde, an diesem Projekt wurde exemplarisch gezeigt, dass dies in der Schweiz nicht geht.

Wie enttäuscht sind Sie persönlich?

Grob: Ich bin sehr betroffen. Doch ich habe eine Sorgfaltspflicht gegenüber der Öffentlichkeit, ich darf an der Realität nicht vorbeischauen. Gleichzeitig sind für mich die Fragestellungen von Sesam vital. Als unabhängiger Forscher will ich weiterhin versuchen, Antworten zu bekommen. Für mich ist psychische Gesundheit und die Entwicklung von Kindern in Systemen, also in Familien, das Forschungsthema. Und ich will herausfinden: Wie kann ich früh erkennen, ob ein Kind Gefahr läuft, sein Potenzial nicht ausschöpfen zu können.

Update

Sesam: Die Kernstudie des Nationalen Forschungsschwerpunkts Sesam hatte zum Ziel, die Faktoren für eine gesunde seelische Entwicklung zu erforschen. 3000 Kinder sollten von der Schwangerschaft bis ins Erwachsenenalter untersucht und befragt werden. Auch Eltern und Grosseltern waren beteiligt. Sesam war von Anfang an umstritten. Insbesondere die vorgesehenen genetischen Tests stiessen auf Kritik. Ob die von der Kernstudie unabhängigen Teilstudien weitergeführt werden, ist noch offen.

NZZ vom 14.3.08: Kein ideales Forschungs-Biotop

Der grösste und wichtigste Teil des mit vielen Millionen Franken dotierten Nationalen Forschungsprogramms Sesam ist eingestellt worden. Mehrere Teilstudien, die ebenfalls die psychische Entwicklung von Kindern erforschen, sollen weitergeführt werden. Doch dies wird für die involvierten Wissenschafter ein schwacher Trost sein. Es fanden sich schlicht zu wenige Probandinnen, um den Hauptversuch seriös durchführen zu können. In Basel blies Sesam von Beginn weg eine steife Brise ins Gesicht. Gegner der Forschung an Kindern wurden nicht müde, die Zulässigkeit der Studie zu hinterfragen. Ständige Kritik muss nicht zu Verunsicherung aufseiten der potenziellen Versuchspersonen führen, aber sie kann. Angesichts des Scherbenhaufens bleiben zum jetzigen Zeitpunkt einige Fragen zurück, die für künftige, vergleichbare Forschungsvorhaben geklärt werden müssten. In welcher Verantwortung sieht sich etwa der Bund, der die Forschungsprogramme ja bewilligt und zu einem grossen Teil finanziert? Müsste dieser den Universitäten bei der Umsetzung der Projekte sowohl in organisatorischer als auch in rechtlicher Hinsicht nicht stärker unter die Arme greifen? Und: Ist es sinnvoll, bei nationalen Studien, die an verschiedenen Forschungsstätten im Land durchgeführt werden, je die kantonalen Ethikkommissionen anrufen zu müssen? Bei der Ethikkommission beider Basel etwa war gar unklar, ob sie überhaupt für die Beurteilung psychologischer Forschung zuständig ist. Es scheint, als sei in der Schweiz - anders als etwa in Grossbritannien - das Biotop für solch breit angelegte
Studien noch nicht bereitet. Bei der in den kommenden Jahren anstehenden Beratung des Humanforschungsgesetzes hat es die Politik in der Hand, die dafür notwendigen Grundlagen zu schaffen.

Kommetar von Markus Hofmann

NZZ vom 14.3.08: Forschungsprojekt «Sesam» wird abgebrochen

Zu schleppende Rekrutierung von Probandinnen

Von S. Aiolfi

«Sesam» lässt sich offenbar nicht öffnen. Wie bereits gemeldet (NZZ 7. 3. 08), ist der Nationale Forschungsschwerpunkt zur Ergründung psychischer Erkrankungen auf grössere Schwierigkeiten gestossen, als es darum ging, für das Vorhaben die nötigen Probandinnen zu finden. Das Problem hat sich jetzt als so drastisch erwiesen, dass das Sesam-Leitungsgremium entschieden hat, beim Schweizerischen Nationalfonds, der den grössten Teil des Vorhabens finanziert, die Einstellung der Kernstudie zu beantragen.

Zu viele Hürden
Vorgesehen war gewesen, innerhalb von zwei Jahren an fünf Schweizer Standorten bis zu 3000 Kinder zu bestimmen, die man von der Zeit vor der Geburt bis ins 20. Lebensjahr periodisch beobachtet und untersucht hätte. Nach den Angaben von Sesam-Vizedirektor Alexander Grob hatte man in Basel mit dem Aufnahmeverfahren im Oktober begonnen und hätte bis heute 100 bis 150 Probandinnen erfasst haben müssen, um das Plansoll zu erfüllen. Tatsächlich rekrutiert worden sind aber lediglich 20 Frauen; 30 sind noch unentschieden, und 60 haben abgesagt. Am Standort Bern verlief die Rekrutierung ähnlich schleppend. In Zürich, Genf und Lausanne hat man mit dem Verfahren zwar noch nicht begonnen, musste aber einsehen, dass die Schwierigkeiten dort ebenfalls gross gewesen wären. Ein Grund für das mangelnde Interesse waren laut Grob zunächst die Bedenken zahlreicher Frauen hinsichtlich des zeitlichen Engagements; eine Teilnahme am Projekt hätte während der ersten zwei Lebensjahre des Kindes einen Aufwand von 20 Stunden erfordert, was vielen zu viel war. Ein weiteres Handicap war, dass es den Projektbetreibern untersagt war, nach dem ersten Kontakt mit einer werdenden Mutter, bei dem sie über Sesam informiert wurde, nachzuhaken und zu fragen, ob sie mitmachen wolle. Die Initiative musste ganz der Frau überlassen werden. Und schliesslich war auch die Gruppe jener Kandidatinnen, die die sprachlichen Voraussetzungen für eine Teilnahme erfüllten (nämlich Deutsch- oder Französischkenntnisse), kleiner, als von den Spitälern ursprünglich geschätzt worden war.

Verzicht auf eine Adjustierung
Vor Wochenfrist hatten die Projektleiter noch die Möglichkeit einer Anpassung der Versuchsanordnung erwogen; der Vorschlag stand im Raum, mit der Untersuchung der Kinder statt vor erst nach der Geburt zu beginnen, da man vermutete, dass sich die Zahl der Studienteilnehmer dadurch vergrössern liesse. Nach Grob wäre eine solche Adjustierung jedoch kompliziert gewesen, und es hätte auch keine Gewähr gegeben, dass das Rekrutierungsproblem dadurch hätte gelöst werden können. Ausserdem hätte man mit dem Verzicht auf die pränatale Untersuchung einen wichtigen Baustein der Studie verloren. Und diesen Verlust an Qualität wollte man nicht in Kauf nehmen. Der Scherbenhaufen ist insofern nicht total, als der Abbruch nur die Sesam-Kernstudie betrifft. Einige Teilstudien, die sich ebenfalls mit dem Eltern-Kind-Verhältnis befassen, aber mit weniger Probanden auskommen und von kürzerer Dauer sind, sollen dagegen weitergeführt werden. Von der Beendigung des Projekts betroffen sind nach den Angaben von Grob an die 70 Personen, die sich in 50 Stellen teilten. Sichergestellt ist immerhin, dass 31 Doktoranden, die sich bisher mit Sesam beschäftigt hatten, ihre Arbeiten zu Ende führen können. Wie weiter zu erfahren war, sind von den für das Projekt insgesamt bewilligten 22,4 Millionen Franken bis dato 8,3 Millionen aufgebraucht worden.

BZ vom 14.3.08: Aus für «Sesam»-Studie über Psyche

Die Teilnehmer sind ausgeblieben

Von Brigitte Walser

Das Nationale Forschungsprojekt «Sesam» wird mangels Teilnehmender eingestellt. Um Erkenntnisse zur seelischen Entwicklung von Kindern gewinnen zu können, hätten dreitausend Familien zwanzig Jahre lang begleitet werden sollen.

Das Projekt sei wohl an den hohen Anforderungen gescheitert, sagte gestern «Sesam»-Sprecher Daniel Habegger. Die Studie («Sesam» steht für «Swiss Etiological Study of Adjustment and Mental Health») hätte Erkenntnisse zur seelischen Entwicklung liefern sollen. Geplant war, dreitausend Kinder während zwanzig Jahren periodisch zu untersuchen und zu befragen und auch die Eltern und Grosseltern einzubeziehen. Vor einem Jahr gab die zuständige Ethikkommission beider Basel grünes Licht.

Zu aufwändig
Gestern nun stellte die «Sesam»-Leitung beim Schweizerischen Nationalfonds den Antrag, die Studie noch vor dem eigentlichen Start zu stoppen. Der Grund: Es gelinge nicht, innerhalb von zwei Jahren mehrere tausend Studienteilnehmer zu finden. Das hatte die Vorrekrutierung in Basel ergeben. Dort hatten sich gemäss Habegger «knapp zwei Dutzend Elternpaare», die ein Kind erwarteten, zur Teilnahme bewegen lassen. Die Studienleiter schlossen daraus, dass die für später geplante Suche in Bern, Zürich, Lausanne und Genf nicht erfolgreicher verlaufen würde. Zu aufwändig und komplex sei die Studie für die Teilnehmenden, die selbst keinen direkten Nutzen davon hätten, so Habegger. Eine finanzielle Entschädigung der Familien kam aus ethischen Gründen nicht in Frage, das wäre nur bei Erwachsenen und damit urteilsfähigen «Studienobjekten» möglich, nicht aber bei Kindern. Von den «Sesam»-Forschern war ein finanzieller Anreiz auch nie in Betracht gezogen worden. «Wir wollen niemanden kaufen», so Habegger. Ganz möchten die Forscher das Thema nicht aufgeben. Sie beantragen beim Nationalfonds Teilstudien zur seelischen Entwicklung bei Kindern, die auch ohne die grosse Zahl von Teilnehmenden durchführbar sind. Derzeit sind 31 Doktoranden in das «Sesam»-Projekt involviert. «Wir legen Wert darauf, dass sie alle ihre Dissertation beenden können», so Habegger. Für die 25 Festangestellten, die grösstenteils im administrativen Bereich arbeiten, seien einschneidende Massnahmen aber kaum zu vermeiden. Das Forschungsprojekt hätte vom Nationalfonds, dem Kanton Basel-Stadt und von Sponsoren aus der Privatwirtschaft, etwa dem Pharmakonzern Roche, finanziert werden sollen.

Stolpersteine
Weil bei «Sesam» die «Studienobjekte» Kinder sind, bewegen sich die Forscher in einem datenschutzrechtlich und ethisch heiklen Umfeld und blieben insbesondere vom «Basler Appell gegen Gentechnologie» zu Beginn nicht von Kritik verschont. Der «Basler Appell» reagierte mit einem Communiqué auf die gestrigen Nachricht: «Sesam» sei ein «Riesenflop» und ein «Desaster für die Leitung des Projekts». «Sesam» sei an ethischen Stolpersteinen gescheitert sowie am hohen Anteil an Migranten unter den werdenden Eltern. «Sesam» beschränkte sich auf Personen, die Deutsch oder Französisch sprechen.

BaZ vom 14.3.08: «Eine verpasste Chance für Basel»

«sesam»-Leiter Jürgen Margraf sucht nach Erklärungen für das Scheitern der Studie

Interview: Markus Kocher, Stefan Stöcklin

Der Schock war gross, als die «sesam»-Leitung gestern Nachmittag die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über den Entscheid informierte, die «sesam»-Kernstudie einzustellen. Wenig später trat der «sesam»-Leiter Jürgen Margraf vor die Presse.

baz: Herr Margraf, wann kam bei Ihnen die Erkenntnis, dass es Ihnen nicht gelingen wird, genügend Teilnehmerinnen für die «sesam»-Studie zu mobilisieren?

Jürgen Margraf: So richtig erst im Februar. Nachdem wir bereits im November letzten Jahres merkten, dass die Rekrutierung nicht wunschgemäss verläuft, leiteten wir korrigierende Massnahmen ein. Nachdem es im Februar erneut stockte, wollten wir mit einer Alternativstrategie reagieren, die dann aber nicht mehr zur Anwendung kam.

Worin bestand diese Strategie?

Wir wollten auch Frauen nach der Geburt des Kindes für die Studie gewinnen und uns nicht nur auf Schwangere beschränken. Wie viele Schwangere hätten Sie gebraucht, um das Projekt weiterverfolgen zu können? Für Basel waren 20 bis 25 Frauen pro Monat vorgesehen, um den wegen der langen Vorgeschichte bereits sehr eng gewordenen Zeitrahmen einhalten zu können. In den Standorten Bern und Basel einschliesslich Bruderholz wären also etwa 100 Frauen nötig gewesen. Leider ist uns das nicht gelungen.

Wie viele sind es also unter dem Strich?

Bis heute haben sich 17 Frauen entschlossen, bei der Kernstudie mitzumachen. Vier weitere haben ihre Teilnahme für heute angekündigt, und letzte Woche, nach der Berichterstattung in Ihrer Zeitung, haben sich weitere sieben Frauen gemeldet.

Betreffen die Zahlen die ganze Schweiz?

Ja, wobei in Bern das Projekt erst seit Mitte Januar läuft. Die Erfahrungen aus Bern waren für uns wichtig, um herauszufinden, ob das Projekt ausserhalb von Basel, wo «sesam» besonders kontrovers diskutiert wird, anders ankommt. Doch die Rekrutierung verlief ähnlich schleppend. Am Montag hat dann die «sesam»-Leitung den Beschluss gefasst, die Kernstudie zu sistieren.

War das ein einstimmiger Beschluss?

Ja, es waren alle Mitglieder dabei. Der Beschluss fiel einstimmig.

17 Frauen. Die Zahlen erstaunen selbst Skeptiker. Haben Sie Erklärungen für das schlechte Abschneiden?

Darüber haben wir uns natürlich auch Gedanken gemacht. Unsere Befragungen haben ergeben, dass die meisten Schwangeren vom Projekt «sesam» noch nie etwas gehört hatten. Die ganze ethische Debatte, die in den Medien gross geführt wurde, war also an ihnen vorbeigegangen und hatte kaum einen Einfluss auf ihre Entscheidung. Den meisten Frauen war der Aufwand schlicht zu gross, auch wegen der Tatsache, dass die Studie auf einen Zeitraum von 20 Jahren angelegt war. Trotzdem wäre eine positivere Berichterstattung in den Medien hilfreich gewesen.

Sie meinen, das hätte mehr Leute bewogen, an der Studie teilzunehmen?

Es hat uns indirekt geschadet, weil wir durch die Sensibilisierung viele Auflagen bekommen haben. Das hat es uns sehr schwer gemacht. Aus der Teilnehmerbroschüre zum Beispiel ist fast alles rausgenommen worden, was irgendjemanden hätte dazu motivieren können, mitzumachen.

Haben Sie die Schwangeren nicht einfach falsch eingeschätzt?

Das ist in der Tat so. Wir hätten das auch ganz anders erwartet.

Warum haben Sie denn keine Pilotstudie durchgeführt, um das auszutesten?

Das wollten wir. Die Ethikkommission wollte die Vorstudie aber erst nach der Kernstudie begutachten. So blieb zu wenig Zeit, die Erkenntnisse, die wir aus der Vorstudie gewonnen hätten, auch zu nutzen.

Ist da nicht sehr viel Geld in den Sand gesetzt worden? Unseren Berechnungen zufolge sind es 10 Millionen.

Das stimmt nicht. Bis jetzt wurden gesamthaft 8,3 Millionen ausgegeben, davon etwa 40 Prozent für die Kernstudie. Unterm Strich sind das rund 3,5 Millionen Franken, für die wir aber durchaus auch einen materiellen und wissenschaftlichen Gegenwert erhalten haben.

Wie sieht die Zukunft von «sesam» aus?

Der Antrag, die Kernstudie zu sistieren, ist gestellt. Die Teilstudien mit unabhängigen Stichproben sollen aber weitergeführt werden. Dadurch wird die ganze Anlage erheblich schlanker, was allerdings bedeutet, dass nicht alle Mitarbeiter dabeibleiben können.

Was bedeutet das Ende von «sesam» für Sie als Mensch und Wissenschaftler?

Was ich fühle, ist Enttäuschung und Trauer. Es ist wie ein Kind, von dem man sich verabschiedet. Und als Wissenschaftler denke ich, dass das eine verpasste Chance für Basel ist. Gleichzeitig ist aber auch das Gefühl da, etwas lernen zu können. Würde ich nochmals von vorne anfangen, würde ich einiges anders machen. Zum Beispiel war die Studie stark interdisziplinär angelegt – was mir persönlich eine Herzensangelegenheit ist, uns jedoch punkto Entscheidungen aber wieder unbeweglich machte. Fazit: Ich würde es deutlich schlänker halten und nicht so viele verschiedene Akteure beteiligen.



Aus für «sesam» – und wie geht es jetzt weiter?

Datenverlust
Die Kernstudie von «sesam» – eine auf 20 Jahre angelegte Untersuchung der psychischen Entwicklung von 3000 Kindern ist mangels Zuspruchs nicht durchführbar. Es bleiben aber immerhin noch einige unabhängige Teilstudien bestehen, die vom Entscheid der «sesam»-Leitung, die Kernstudie zu sistieren, nicht betroffen sind. Ob sie aber auch alle zu Ende geführt werden, ist laut «sesam»-Leiter Jürgen Margraf noch nicht entschieden. Auf gutem Kurs sind: die Teilstudien über das Befinden in der Schwangerschaft, Schwangerschaft und psychische Störungen, Neurotizismus, Blinzelreaktion, die Familienprozesse, Untersuchungen zur Präeklampsie, Studien über das autonome Nervensystem, die Entwicklung einer Datenbank sowie die Vorstudie zum autobiografischen Gedächtnis. Die bis jetzt im Rahmen der Kernstudie erhobenen Daten der 17 teilnehmenden Frauen würden nicht mehr weiter verwendet und gelöscht, sofern die Frauen dem zustimmen, so Jürgen Margraf.

BaZ vom 14.3.08: «sesam»-Studie blitzte bei Frauen ab

Die geplante Untersuchung von 3000 Kindern wird nicht stattfinden

Von Stefan Stöcklin

Das vor drei Jahren mit grossen Erwartungen gestartete «sesam»-Projekt verliert seinen Kern. Der Direktor von «sesam», der Basler Psychologe Jürgen Margraf, konnte gestern seine Enttäuschung über den Abbruch der Kernstudie nicht verbergen. Er bedaure das abrupte Ende, aber da viel weniger Schwangere als geplant an der Studie teilzunehmen bereit waren, blieb keine andere Wahl. Nur 17 Frauen konnten seit dem Start letzten Oktober zur Teilnahme gewonnen werden, gut 100 hätten es bis Ende März sein sollen. Geplant war der Einschluss von 3000 Kindern, deren Entwicklung ab der Schwangerschaft bis zum 20. Altersjahr untersucht werden sollte. Versprochen haben sich die Initianten des vom Schweizerischen Nationalfonds getragenen Forschungsschwerpunktes Erkenntnisse zur Entstehung psychischer Krankheiten, vor allem Depressionen und Angststörungen. Für den Nationalfonds als wichtigsten Geldgeber von
«sesam» ist der Abbruch der Kernstudie eine «logische Folge der Rekrutierungsprobleme», wie Dieter Imboden, der Präsident des Nationalen Forschungsrates, sagte. Der Nationalfonds hat das Vorhaben seit Oktober 2005 mit 7,5 Millionen Franken unterstützt.

Teilstudien
Mit dem Abbruch der Kernstudie, den die «sesam»-Leitung beim Nationalfonds beantragt hat, sei
zwar ein Teil dieser Gelder verloren. Unabhängig von der Hauptstudie waren aber gewisse Teilstudien wissenschaftlich durchaus erfolgreich. Diese könnten im Rahmen der allgemeinen Projektförderung auch künftig unterstützt werden, so Dieter Imboden. Vor allem werde es wichtig sein, alle Doktoranden bis zum Abschluss ihrer Dissertationen zu unterstützen. Mit dem «geordneten Rückzug», wie es Imboden formulierte, sei aber auch das Ende des Nationalen
Forschungsschwerpunktes «sesam» absehbar. Dieses Forschungsförderungsinstrument ist das umfassendste unter den Bundesmassnahmen, es gibt zurzeit 20 solche Projekte schweizweit. Laut Imboden war von Anfang an klar, dass bei «sesam» mit der Probandenzahl und ethisch schwierigen Fragen besondere Gefahren lauerten. «Wir werden die Lehren daraus ziehen», so Imboden. «Dies ist kein schöner Tag für die Universität», sagte Universitätsrektor Antonio Loprieno zu dieser
Entwicklung. Aber sie sei nicht ganz überraschend gewesen und ein «Ende mit Schrecken sei allemal
besser als ein Schrecken ohne Ende». Für die Universität ändere sich mit der «Redimensionierung von «sesam» wenig, an der strategischen Ausrichtung in den Profilierungsbereichen ebenso.

Riesenflop
Die Firma Roche, die «sesam» sechs Millionen zugesagt hatte und rund zwei Millionen bereits
bezahlt hat, will erst nach einer Analyse sagen, ob sie sich an den Teilstudien weiterhin beteilige. Als «teuren Riesenflop» hingegen bezeichnete der Basler Appell gegen Gentechnologie den Abbruch von «sesam», als Desaster für die Mitarbeitenden und die Forschungsförderungsinstitutionen.
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Sesam Watch

Beobachtungen und Notizen zum Schweizer NCCR "Sesam", der 3'000 Kinder und ihr Umfeld vom ersten Ultraschallbild an 20 Jahre lang beobachten wollte (vorzeitiger Abbruch: 13.3.08). Autonom, skeptisch, ehrenamtlich. Kontakt: sesamwatch@gmail.com

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