Klaus Schmeck setzt auf Versöhnung Neuer Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik will keinen Psychologenstreit Was passiert mit Freuds Erbe in Basel? Klaus Schmeck (49), Nachfolger des Psychoanalytikers Dieter Bürgin, schlägt sich im aktuellen Richtungsstreit auf keine Seite - er will aber verstärkt auch verhaltenstherapeutische Konzepte anwenden.
Klaus Schmeck blickt von seinem Arbeitszimmer in der alten Villa am Schaffhauserrheinweg auf das verschneite Rheinbord - und ist begeistert: «Das Klima gefällt mir sehr, sehr gut hier!» Er meint es im meteorologischen Sinne - sogar Palmen gebe es in Basel, anders als in Frankfurt und Ulm, wo er bis vor zwei Monaten noch tätig war - aber nicht nur: «Ich bin von allen Seiten sehr gut aufgenommen worden.» Der neue Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik (KJPK) lotet gegenwärtig in der hiesigen Szene das Terrain aus - sehr sorgfältig, systematisch und auf sympathische Art, wie ihm attestiert wird.
Der deutsche Diplompsychologe hat eine heikle Aufgabe angetreten. Schon während des Berufungsverfahrens hatte helle Aufregung unter Psychotherapeuten geherrscht. Denn mit der Pensionierung Dieter Bürgins hat einer der letzten grossen Basler Psychoanalytiker einen wichtigen Posten abgegeben. Im Rennen um die Nachfolge war auch eine Kandidatin, die stark auf Verhaltenstherapie und Medikamente setzt und bei psychoanalytisch arbeitenden Therapeuten die Angst nährte, ihre Methoden würden weiter ausgegrenzt. Mit der Fakultät für Psychologie der Uni Basel, die ihr Fach als «Life Science» versteht und die Psychoanalyse in der Tradition Freuds für überholt hält, liegen die Therapeuten im Clinch. Die Berufungskommission wollte den Streit nicht weiter anheizen - und wählte den Favoriten Schmeck.
Sein Programm lautet: «Es bringt uns nicht weiter, Gegensätze zu pflegen - wir müssen sie überwinden.» So möchte er die nur in Ansätzen vorhandene Zusammenarbeit zwischen KJPK und den Psychologen der Uni Basel verstärken, ohne den engen Kontakt zu frei praktizierenden Therapeuten zu vernachlässigen. Ob es ihm gelingen wird, allen Parteien gerecht zu werden? Schmeck: «Es kann schon sein, dass ich noch an harte Grenzen stossen werde...» Als Vermittler will er nicht bezeichnet werden: «Ich will meine Rolle nicht überschätzen.»
NEUE AKZENTE. Was aber hat Schmeck vor mit dem Erbe Bürgins? - Er könne sich glücklich schätzen, dass so viel psychoanalytisches Wissen da sei: «Bürgin geniesst über die Grenzen hinaus einen guten Ruf und hat viel bewegt.» Aber: «Ich möchte neue Akzente setzen und vermehrt auch andere therapeutische Verfahren einsetzen.»
So will er die Stärken der bisherigen tiefenpsychologischen Methoden mit verhaltenstherapeutischen Ansätzen in neuen Konzepten kombinieren. Konkret: Bei Zwangsstörungen - wenn ein Kind zum Beispiel ständig auf Gegenstände klopft oder Türen auf- und zuschlägt - sei eine Verhaltenstherapie sehr hilfreich. Bei Persönlichkeitsstörungen aber - wenn Beziehungen zu anderen Menschen schwierig und wenig tragfähig sind, Gefühle schwer regulierbar sind, Depressionen, Essstörungen oder Selbstmordgedanken auftreten - müsse man die Beziehung selbst zum Thema machen. «Dann setzen wir uns an den Tisch und besprechen, was zwischen uns passiert», so der Chefarzt. Eine Couch hat er nicht im Arbeitszimmer. Dafür wird die Ritterburg bald ausgepackt, die noch in Schachteln verstaut ist, und die Plüschbären stehen schon bereit. FÜR «SESAM». Dass die tiefenpsychologische Psychotherapie in Bedrängnis ist, liegt für Schmeck nicht an mangelnder Wirksamkeit - sondern am Mangel an Studien: «Solange die Löwen keine Geschichten erzählen, werden die Sieger immer die Jäger sein», zitiert er ein afrikanisches Sprichwort und meint damit: Wer Studien verfasst, ist im Vorteil. Die nächste Geschichte, die in Basel geschrieben wird, steht unter der Leitung des Uni-Psychologen Jürgen Margraf, der mit dem Erbe Freuds auch nichts am Hut hat: Mit «sesam» will Margraf 3000 Kinder vom Mutterleib bis zum 20. Altersjahr inklusive deren Eltern und Grosseltern untersuchen. Bei Psychotherapeuten und den Gentech-Kritikern stösst die Studie auf massive Kritik.
Er sei kaum informiert über «sesam», sagt Schmeck, und nimmt doch vorsichtig Partei für das Projekt: «Kollegen aus der ganzen Welt beneiden uns.» Doch müssten ethische Bedenken ernst genommen werden: «Die Kinder müssen zum Beispiel jederzeit aussteigen können.» Und er selbst, wird er versuchen, bei «sesam» einzusteigen? Schmeck bestätigt: «Ich würde sehr gerne meine Ideen einbringen.»
Teilstudie H von Sesam will sich, basierend auf umstrittenen Versuchen mit Affen, laut Website der Frage widmen, welchen Einfluss elterliche Vernachlässigung auf die kindliche Entwicklung hat. Als federführend wird dort Chris Pryce angegeben. Pryce wechselt von der ETHZ zu einem deutschen Pharmakonzern, seine Versuche sind eingestellt. Was das für diese Teilstudie heisst, ist der Website bisher nicht zu entnehmen. Im Artikel von Felix Maise vom 20. Juli 2005 über die Pryceschen "Deprivationsversuche", deren Auswertung Sesam mitfinanziert, sagt Margrit Bühler, Zürcher Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, sie halte den Versuch schlicht für überflüssig.
"Das Phänomen der Depression nach Deprivationen ist beim Menschen schon so gut erforscht, dass es den Tierversuch dafür gar nicht braucht", sagt sie. Geschädigte Kinder aus rumänischen Kinderheimen zum Beispiel seien in der jüngsten Vergangenheit genau darauf untersucht worden.
Depriving children of a loving family environment causes lasting damage to their intelligence, emotional wellbeing and even their physical stature, according to the most extensive study of social deprivation yet. A lack of care and attention left children with stunted growth, substantially lower IQs and more behavioural and psychological problems than children who had been better cared for, according to the report at the American Association for the Advancement of Science meeting in St Louis yesterday. The extent to which children are sensitive to the environment they grow up in emerged from an unprecedented study, the Bucharest Early Intervention Project. It is the first randomised clinical trial set up to investigate the effects of social deprivation on the emotional, psychological and physical health of children. The study has been running for five years and records the wellbeing of children in a Romanian orphanage from an early age, and the changes they experience when transferred to foster care. The orphanage represents an extreme of social deprivation because the children are typically looked after by a rota of carers who will be responsible for 12 to 15 children at any one time.
Effects of early-life deprivation on development of emotion and cognition in monkeys and rats; funded by SNF, Novartis Pharma AG, University of Surrey UK, Wellcome Trust; 2000
Ein Gang ins Archiv brachte als ersten Artikel der "kritisierenden Zürcher Medien" diesen zum Vorschein:
Tages-Anzeiger; 20.07.2005 Umstrittener Tierversuch An der ETH macht man Affen depressiv. Die Forscher wollen so ein Tiermodell entwickeln, das bei der Therapie von menschlichen Depressionen helfen soll.
Von Felix Maise
Marmosets sind es, die im Labor für Verhaltensneurobiologie der ETH in Schwerzenbach für die Grundlagenforschung im Bereich der Depressionsforschung eingesetzt werden. Marmosets sind kleine Krallenaffen, die ursprünglich aus den Wäldern Südamerikas stammen. Im Schwerzenbacher Labor arbeitet man mit Äffchen aus eigener Nachzucht. Über 70 sind in zwei aktuellen Versuchen eingespannt. Seit fünf Jahren testet man zum einen die neurobiologischen Auswirkungen der gewaltsamen, zeitweisen Trennung von Affenbabys von ihren Müttern. (...)
Anscheinend war den Zürcher Bewilligungsinstanzen aber doch nicht ganz wohl bei der Sache. Inzwischen ist auf deren Wunsch eine Experten-Arbeitsgruppe des Bundes daran, am Beispiel des Mutter-Kind-Trennungsversuchs die ganze Problematik der Primatenversuche aufzurollen, wie Recherchen des TA ergeben haben. Drei Mitglieder aus der Eidgenössischen Ethikkommission für die Gentechnik im ausserhumanen Bereich (EKAH) und drei Mitglieder der Eidgenössischen Tierversuchskommission nahmen den Versuch des ETH-Neurobiologen Christopher Pryce an mehreren Sitzungen genauer unter die Lupe. Derzeit wird ein Schlussbericht verfasst, der zuerst in die beiden Fachkommissionen und dann an den Bundesrat geht. Ziel ist es, erstmals Richtlinien für den heiklen Bereich der Primatenversuche aufzustellen. (...)
Vom 2. bis zum 28. Tag ihres Lebens werden die ganz auf ihre Mütter fixierten Affenbabys jeweils zwischen 30 und 120 Minuten pro Tag gewaltsam von diesen getrennt, und zwar zu immer anderen Tageszeiten. Von den Menschen weiss man, dass es eine enge Korrelation zwischen frühkindlichen Deprivationserfahrungen und Depressionen gibt. Ziel ist es, ein Tiermodell für Therapieformen von Depression beim Menschen zu entwickeln. Der Affenversuch gehört allerdings zur Grundlagenforschung: Die unmittelbare therapeutische Anwendung der Ergebnisse stehe deshalb nicht im Vordergrund, sagt Pryce. An diesem Punkt setzt die Kritik tierversuchskritischer Fachleute an: Franz C. Gruber, Fachtierarzt für Versuchstierkunde, Geschäftsführer der Stiftung Fonds für versuchstierfreie Forschung und einer der von der Bundes-Arbeitsgruppe befragten Fachleute, zweifelt grundsätzlich am Sinn des Experiments. Seit Jahren würden vergleichbare Deprivationsversuche mit andern Tierarten durchgeführt, ohne dass aus den Resultaten bis heute ein praktischer therapeutischer Nutzen entstanden sei. (...)
Margrit Bühler, Zürcher Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, hält den Versuch schlicht für überflüssig. «Das Phänomen der Depression nach Deprivationen ist beim Menschen schon so gut erforscht, dass es den Tierversuch dafür gar nicht braucht», sagt sie. Geschädigte Kinder aus rumänischen Kinderheimen zum Beispiel seien in der jüngsten Vergangenheit genau darauf untersucht worden. Den Forschungsansatz der Zürcher Neurobiologen hält sie im Übrigen für eindimensional, viel zu undifferenziert und zu mechanistisch.
Auch Tierversuchsfachfrau Norma Schenkel, die als Vertreterin des Schweizer Tierschutzes STS in der Eidgenössischen Tierversuchskommission sitzt, hält das Experiment mit den Marmosets für nicht vertretbar. Der mögliche Erkenntnisgewinn stehe in keinem Verhältnis zum Leiden der Äffchen, findet sie. Dass das Projekt vom Schweizerischen Nationalfonds finanziert wird, stört sie dabei besonders. «Der STS fordert seit Jahren ein Verbot von Tierversuchen mit Primaten und ein solches für schwer belastende Versuche in der Grundlagenforschung», sagt sie.
Auch die Primaten-Arbeitsgruppe des Bundes beurteilt den Versuch kritisch. Beat Sitter, Professor für praktische Philosophie an der Uni Freiburg und Mitglied der Primaten-AG, mag zum Endergebnis der Diskussionen im Fachgremium zwar noch nichts sagen. Aus seiner persönlichen Einschätzung aber macht er kein Geheimnis. «Für mich ist der Versuch ethisch nicht vertretbar, weil er empfindsame Tiere für einen fraglichen Versuchszweck nachhaltig und lebenslänglich schädigt. In Zürich sah man das vor zwei Jahren anders, als man den Versuch bewilligte.
Das "Zürcher Medium" SonntagsZeitung meldete in seiner jüngsten Ausgabe am 19.2.2006 schliesslich in diesen Worten, was die baz heute rapportiert:
An der ETH Zürich gibt es ab Ende Februar keine Affenversuche mehr. «Christopher Pryce verlässt die ETH Zürich, und seine Forschungsarbeit mit Affen wird nicht weitergeführt», bestätigt ETH-Sprecher Rolf Probala. Der Depressionsversuch mit zwanzig Weissbüscheläffchen war der einzige an der ETH und wurde von Tierschützern kritisiert. Die Affenbabys waren immer wieder von ihren Müttern getrennt worden. Sie litten noch Monate später unter hohem Blutdruck.
Der Nationalfonds verlängerte 2005 das 335 000-Franken-Projekt um weitere drei Jahre. Pryce schliesst den Versuch vorzeitig ab, weil er als Laborleiter zu einem deutschen Pharmaunternehmen wechselt. Bis jetzt hat die ETH Zürich keinen Forscher gefunden, der seine Arbeit fortsetzt.
Seit Ende Dezember führten die Adressen www.psycho.unibas.ch/sesam oder www.sesam.unibas.ch auf eine plusminus leere Seite, die lediglich verkündete, hier werde dereinst die Site von Sesam zu finden sein. Seit kurzem (heute?) führen die oben genannten Adressen indirekt auf die Site des Nationalfonds. Unter der Motorhaube läuft das - nach einem Check mit diesem Tool - offenbar so, dass der Webserver der Uni Basel nach der Anfrage einen Error 302, was "Moved temporarily" bedeutet, und die Alternativadresse www.sesamswiss.ch zurückliefert. Woraufhin der Browser die Anfrage an diese Adresse wiederholt. Von sesamswiss kommt erneut ein Error 302 und der Verweis auf die SNF-Site, die dann schliesslich angezeigt wird. Das sind technische Details, die wohl unter anderem im Zusammenhang mit den Arbeiten an der neuen Site stehen.
Stefan Stöcklin macht heute in der Basler Zeitung eine spannende Auslegeordnung, wo die Sache steht vor Medienkonferenz und Inaugurationsfeierlichkeiten:
Experten streiten sich, wer den Basler Forschungsschwerpunkt ethisch begutachten darf Der Nationale Forschungsschwerpunkt «sesam» läuft nur harzig an. Die umstrittenen Studien sind von der Ethik-Kommission noch nicht begutachet worden.
Nächsten Dienstag wird Jürgen Margraf an einer festlichen «Inauguration» im Kollegiengebäude der Universität in Anwesenheit des Rektors Ulrich Gäbler den Startschuss zum Projekt «sesam» geben. Der klingende Name bezeichnet einen Nationalen Forschungsschwerpunkt (NFS), für den der Schweizerische Nationalfonds (SNF) für die ersten dreieinhalb Jahre zehn Millionen Franken zahlt. Das ambitiöse Vorhaben wird zudem mit sechs Millionen Franken von der Pharmafirma Roche gesponsert, wie am Montag bekannt wurde.
Die Finanzierung des seit letztem Oktober laufenden Projektes läuft also wie geschmiert. Doch in einem zentralen Punkt hat das Projekt Anlaufschwierigkeiten. Eine Zustimmung der Ethiker liegt bisher nicht vor. Recherchen ergeben, dass Margraf und seine Mitarbeiter die einzelnen Projekte der kantonalen Ethik-Kommission beider Basel (EKBB) bis Donnerstag nicht vorgelegt hat. «Wir haben bisher keine Anträge erhalten», sagt Jürgen Drewe, Vizepräsident der EKBB. Bis zur Inauguration wird sich die Basler Kommission denn auch nicht zum Projekt äussern können.
Weil es sich bei «sesam» im Kern um eine medizingenetische und psychosoziale Studie handelt, für die rund 3000 Kinder bereits vorgeburtlich erfasst werden sollen, kommt das Forschungsteam um eine Begutachtung der Projektstudien durch ethische Experten nicht herum.
Diese Zustimmung wäre umso wichtiger, als sich seit dem Bekanntwerden des Projektes auf verschiedenen Ebenen Widerstand formiert hat. Zum einen beim Appell gegen Gentechnologie, der gegen «Genomanalysen» protestiert und die Aufgabe von «sesam» fordert. Zum anderen kritisieren aber auch Fachkollegen von Margraf die Reduktion der psychischen Befindlichkeit auf biologisch messbare Grössen. So kürzlich in der Ärztezeitschrift «Synapse».
Um die ethische Begutachtung ist hinter den Kulissen ein Gerangel in Gange. Das Tauziehen betrifft die Zuständigkeit: Die verschiedenen Akteure sind sich nicht einig darüber, welches Gremium die einzelnen Projekte begutachten, gutheissen und allenfalls ablehnen oder nur mit Änderungen absegnen kann. Für die lokale EKBB ist der Fall zwar klar: «Gemäss Vereinbarung mit den beiden Kantonen BS und BL sind wir für alle medizinischen Versuche am Menschen zuständig», sagt Drewe. «Und bei ‹sesam› handelt es sich um medizinische Forschung», so Drewe.
Von den Projektnehmern wird diese Zuständigkeit allerdings in Zweifel gezogen, was von Dieter Imboden, Professor für Umweltphysik an der ETH Zürich und Präsident des Nationalen Forschungsrates des SNF, bestätigt wird: «Weil es sich bei ‹sesam› um ein schweizweites Projekt handelt, ist im Moment unklar, welche Ethik-Kommission zuständig ist.» Zudem sei in Basel die Zuständigkeit nicht klar, was psychologische Versuche betreffe. «Dies ist jetzt in Prüfung», sagt Imboden.
Aufgrund der aktuellen Gesetzeslage seien zwar die kantonalen Ethik-Kommissionen für die Prüfung medizinischer Versuche zuständig, wie Imboden ausführt; weil die jeweiligen Gremien aber unterschiedlich zusammengesetzt seien und unterschiedliche Aufträge hätten, ergebe sich ein uneinheitliches Bild. So sei die Kommission in St. Gallen nur für klinisch-medizinische Forschung zuständig, während jene von Bern weiter gefasst sei.
Der Forschungsverantwortliche des Nationalfonds wehrt sich gegen den Vorwurf, man habe einen Nationalen Forschungsschwerpunkt gutgeheissen, obwohl dafür noch keine Rechtsgrundlage vorgelegen habe. Projektleiter Margraf hat das Mantelgesuch von «sesam» schon bei der Ausschreibung der EKBB und der NEK (Nationale Ethik-Kommission) vorgelegt. In diesen Gesprächen ergaben sich keine grundsätzlichen Einwände. Aber weil sich die konkreten Detailprojekte erst nach der Gutheissung des Forschungsschwerpunktes durch den Nationalfonds ausarbeiten liessen, können sie erst danach zur detailllierten Begutachtung vorgelegt werden. «Ich sehe keinen prinzipiellen Grund, wieso dieses Projekt nicht ausführbar sein sollte. In Detailfragen sind sicher Auflagen zu erwarten», sagt Imboden.
Kompliziert wird die Lage, weil die ganze Gesetzgebung momentan in Fluss ist. Das Humanforschungsgesetz, das unter anderem genau solche Projekte wie jene von «sesam» betrifft, ist soeben in Vernehmlassung gegeben worden. Bis diese Gesetze vorliegen, die auch die Zuständigkeiten der Ethik-Kommissionen national einheitlich regeln werden, wird es noch Jahre dauern. Darauf will man nicht warten.
Jürgen Drewe von der EKBB will inhaltlich zu den «sesam»-Projekten nicht Stellung nehmen, sie lägen der Kommission ja gar nicht vor. Aber klar sei, dass bei Forschungsvorhaben mit Kindern, noch dazu im vorgeburtlichen Stadium, sehr hohe Messlatten angelegt würden, was die ethischen Grundsätze betreffe. Am wichtigsten dabei seien die Datensicherheit und Anonymisierung der Ergebnisse. «Wir werden die Gesuche unvoreingenommen beurteilen. Und wir werden konstruktiv zusammenarbeiten», so Drewe.
Auffällig ist im Moment, dass die «sesam»-Verantwortlichen mit der Offenlegung ihrer Projekte zuwarten. Immerhin fliesst das Geld aus Bern bereits seit letztem Oktober. Auch die Homepage war während Wochen stillgelegt; zunächst hiess es, sie würde Ende Januar aufgeschaltet, gestern lief sie allerdings noch nicht. Der Eindruck entsteht, dass die «sesam»-Verantwortlichen versuchen, den Druck von aussen auf die Ethik-Kommissionen zu erhöhen. Möglich auch, dass in der EKBB die Zuständigkeit abgesprochen werden soll. Auch die EKBB hat aufgerüstet. Seit zwei Wochen hat sie einen ständigen «ausgewiesenen psychologischen Experten» in ihrer Begutachterrunde.
Wenn am 21. verkündet wird, was die Hintergründe und Ziele von sesam sind - was die Website seit Ende Dezember bekanntlich nicht mehr tut -, dann werden wir ja hoffentlich auch erfahren, welche Teilprojekte bereits ihren Segen von der kantonalen Ethikkommission erhalten haben. Und welche noch nicht. Diese Transparenz wäre doch wünschbar. Denn solange die Ethikkommission nicht Ja gesagt hat, sind die Sesam-Teil-Projekte, die Versuche an Menschen darstellen, nicht durchführbar. Und die an der Medienkonferenz verbreiteten Informationen über diese (noch?) unbewilligten, wären nicht viel mehr als heisse Luft.
Gedankenexperiment: Heisse Luft zu verbreiten, bevor das Prüfverfahren auch nur angelaufen ist, also: noch bevor die notwendigen Bewilligungen vorliegen, verkünden was geplant sei, das könnte natürlich dazu dienen, Druck auf die Ethikkommission auszuüben.
(Synapse Februar 2006, S. 16, .pdf-File) Als Ärzte und Wissenschaftler, die an dem Nationalen Forschungsschwerpunkt sesam als Antragsteller beteiligt sind, möchten wir gerne zu dem Editorial und dem Beitrag unserer Kollegen Dr. Benjamin Pia und Dr. Peter Dreyfus (Synapse Nr.8/2005) Stellung nehmen. Das Wohl unserer Patientinnen und Patienten ist unser oberstes Ziel. Als verantwortungsvolle Ärzte/-innen wollen wir uns aber nicht bloss auf die Behandlung von Krankheiten beschränken. Vielmehr wollen wir besser verstehen, was uns krank macht und was uns gesund erhält. Darum beteiligen wir uns als Forscher und Forscherinnen an der sesam-Studie. Sämtliche epidemiologischen Hochrechnungen in der Schweiz und in anderen Teilen Europas weisen auf eine sehr hohe psychische Morbiditäthin, bei manchen psychischen Erkrankungen ist sogar darüber hinaus miteiner Zunahme zu rechnen. Gleichzeitig werden die Psychiatrie und die Psychologie wie keine anderen Fachdisziplinen in der breiten Öffentlichkeit immer wieder hinsichtlich ihrer Therapiekonzeptionen hinterfragt. Daraus resultiert ein hoher Forschungsbedarf, insbesondere im Bereich der Primärprävention und der Evaluation von Therapieverfahren. «Die medizinische Wissenschaft ist verpflichtet, nach stets neuen ökonomisch vertretbaren Möglichkeiten der Diagnostik, Prophylaxe und Therapie zu suchen» (Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften 1996), d.h., es besteht auch eine ethische Verpflichtung zur Forschung. Die sesam-Studie soll mit dazu beitragen, den Einfluss protektiver und pathogener Determinanten auf die Persönlichkeitsentwicklung herauszuarbeiten. Die sesam-Studie wurde unter anderem darum zu einem Nationalen Forschungsschwerpunkt erwählt, weil sie verschiedene wissenschaftliche Disziplinen zu einem Netzwerk verbindet. So sind an der Studie nebst Naturwissenschaftlern und Naturwissenschaftlerinnen auch Ärzte und Ärztinnen beteiligt,die täglich im Kontakt mit Patienten/-innen stehen. Auch Geisteswissenschaften sind vertreten, zum Beispiel, mit einem eigenen Teilantrag, die Medizinsoziologie. Bei der ganzheitlichen Forschungsanlage von sesam bilden Beziehungen, die persönliche und subjektive Wahrnehmung der Beteiligten, die Mutter-Vater-Kind-Interaktion, das Gedächtnis und die Verarbeitung einen Schwerpunkt. Mehrere weitere Teilstudien befassen sich mit der Beziehung zwischen Mutter und Kind sowie zwischen den Generationen. Wer nun unterstellt, dass sesam bloss den Interessen von Politikern/-innen dient, die bei Gesundheitskosten sparen wollen, missachtet den konkreten Nutzen für den klinischen Bereich: So soll zum Beispiel die Entwicklung von Kindern, deren Mütter an einer Substanzabhängigkeit leiden, untersucht werden. Solche und andere komplexe, grundlegende Fragestellungen können nur in Langzeituntersuchungen schlüssig erfasst werden. Deshalb ist auch für die ärztliche Praxis mit wertvollem Erkenntnisgewinn aus der sesam-Studie zu rechnen. sesam befasst sich mit der psychischen Gesundheit der Schweizer Bevölkerung von heute und morgen. Alle interessierten Kolleginnen und Kollegen laden wir ein, ihre Fragestellungen einzubringen. Wenden Sie sich dafür an die Studienleitung oder an uns.
Prof. Dr. med. Johannes Bitzer, Basel
Dr. med. Gerhard Dammann, Basel
Prof. Dr. med. Dr. h.c. mult. Wolfgang Holzgreve, Basel
PD Dr. med. Irène Hösli, Basel
Prof. Dr. med. Franz Müller-Spahn, Basel
Prof. Dr. med. Andreas Papassotiropoulos, Zürich
Prof. Dr. med. Urs A. Meyer, Basel
Prof. Dr. med. Hartmut Schächinger, Trier / Basel
Prof. Dr. med. Erich Seifritz, Bern
Dr. med. Werner Stadlmayr, Bern
Prof. Dr. Dr. med. Hans-Christoph Steinhausen, Zürich
(Synapse, Februar 2006, Seite 15, .pdf-File) Ich habe mit Interesse den Artikel von Herrn Dr. med. Peter Dreyfus zum Forschungsprojekt SESAM gelesen.Viele der Anmerkungen und kritischen Gedanken sind wichtig und sollten von jedem Team ,das eine prospektive Langzeitstudie mit Eltern und Kindern plant, genauestens durchdacht und kooperativ gelöst werden .Ich möchte nur darauf hinweisen, dass die SESAM-Studie Vorbilder im Ausland hat wie die Avon Longitudinal Study of Parents and Children (ALSPAC), die fast 14000 Frauen und deren Kinder (seit der 18.Schwangerschaftswoche) nachuntersucht (www.alspac.bris.ac.uk). Diese Studie kenne ich gut als ehemaliger stellvertretender Leiter. Die Kinder sind mittlerweile 14 Jahre alt. Ein Grossteil der Eltern und der Kinder, die selbst entscheiden, ob sie an den Untersuchungen weiter teilnehmen, tun dies weiterhin mitBegeisterung unter Betreung eines enthusiastischen und sehr einfühlsamen Teams von Untersuchern und Begleitern. EthischeÜberlegungen und deren Bewältigung im Einverständnis aller Beteiligten stehen seit eh und je ganz im Vordergrund dieser Studie. Der Respekt für alle Teilnehmer ist ein Grundsatz dieser Studie. Daher sind die Anmerkungen von Herrn Dreyfus konstruktiv, wenn auch eit Jahren in dieser Studie umgesetzt. Von der ALSPAC-Studie und deren Erfahrungen in England kann man lernen, wie diese ethischen Fragen sensibel angegangen werden können. Die Ergebnisse der ALSPAC-Studie haben bereits zu vielen neuen Entdeckungen beigetragen mit wichtigen klinischen Implikationen, die direkt zu den therapeutischen Gesprächen des einzelnen behandelnden Arztes oder Psychologen beitragen können und Patienten nützen. Hierzu gehören Befunde zur Verhinderung des plötzlichen Kindstodes (1), die Erkenntnis, dass postnatale Depression fast immer pränatal beginnt und sogar weniger häufig postnatal als pränatal ist, Erklärungen zur Depressionsentwicklung oder die Bedeutung väterlicher Depression für die kindliche Entwicklung (2, 3, 4), Erklärungen zur Übergewichtigkeitsentwicklung (5), psychischer Folgen von Übergewichtigkeit zu Augenproblemen (6,7), um nur ganz wenige der über 200 Publikationen anzusprechen. Bisher hat sich die SESAM-Studie als sehr offen gegenüber allen Anregungen verhalten, so meine Erfahrung als Mitglied des von SESAM konstituierten Lenkungsausschusses. Man sollte SESAM doch die Chance geben zu beweisen, dass sie das Geld wert istund hält,was sie verspricht, bevor man sie verbannt. Dies war in England möglich bei der ALSPAC-Studie, die jetztnoch einmal für fünf Jahre durch das Medical Research Council und den Wellcome Trust in zweistelliger Millionenhöhe gefördert wird. Eine Langzeitstudie kann nur überleben,wenn sie den höchsten internationalen ethischen und wissenschaftlichen Standards gerechtwird. Die wichtigsten Menschen in einer solchen Studie sind nichtdie Wissenschaftler oder Berufsgruppen, sondern die Familien, die mitmachen, und die sollen die Möglichkeithaben, selbst entscheiden zu können. In der ALSPAC-Studie waren über 85% aller Schwangeren in der Region Avon dazu bereit.
Prof. D. Wolke, Visiting Professor of Life-span Psychology, University of Bristol, Dpt of Community-based Medicine, and Scientific Director Jacobs Foundation, Zurich
... und Mitglied des Lenkungsausschusses von Sesam, wie Wolke zwar im Lauftext erwähnt, nicht aber in seiner "Unterschrift" unter den Leserbrief, die in diesem Fall über dem Brief platziert ist, womit seine Einbindung in sesam leicht zu übersehen / -lesen ist. Ein Détail zwar, aber da drin steckt ja bekanntlich der Teufel...
Beobachtungen und Notizen zum Schweizer NCCR "Sesam", der 3'000 Kinder und ihr Umfeld vom ersten Ultraschallbild an 20 Jahre lang beobachten wollte (vorzeitiger Abbruch: 13.3.08). Autonom, skeptisch, ehrenamtlich. Kontakt: sesamwatch@gmail.com