Margraf in "uni nova" über Risikowahrnehmung
Jürgen Margraf im Magazin der Uni Basel vom November '06, das unter dem Motto "Neue Krankheiten, moderne Risiken" steht:
Die Vögel und die Furcht
Risiken werden ganz unterschiedlich wahrgenommen und bewertet. Die Psychologie kann mithelfen, zu erkennen, welches die wirklichen Gefahren sind, mit denen wir es zu tun haben.
In diesem Jahr sind in der Schweiz nach Schätzungen bereits rund tausend Menschen an Suizid gestorben, einige Hunderte bei Verkehrsunfällen, viele an der Immunschwächekrankheit Aids und andere an der ganz «normalen» Grippe – aber noch niemand an der Vogelgrippe (Stand: Oktober 2006). Warum fürchten viele Menschen dann eigentlich die Vogelgrippe mehr als die normale Grippe, den Autoverkehr oder den Suizid? Wer in diesem Sommer in der Internet-Suchmaschine Google das Stichwort «Vogelgrippe» eingab, stiess auf über 5,6 Millionen Einträge; der ursprüngliche Begriff «Geflügelpest» ergab noch 1,1 Millionen Treffer. Bei der Beschäftigung mit Risiken sind drei verschiedene Ebenen auseinander zu halten: erstens die fachlich-technische Risikoanalyse, zweitens die Psychologie und die individuelle Wahrnehmung des Risikos – davon soll hier vor allem die Rede sein – und drittens die Soziologie des Risikos, auf deren Ebene die soziale Wertedebatte etwa über die Themen Freiheit und Schutz stattfindet.
Die Psychologie hat die Mechanismen der Risikowahrnehmung systematisch erforscht. Ihre Erkenntnisse können uns helfen, die wichtigen von den weniger wichtigen Gefahren zu unterscheiden und unser Verhalten danach auszurichten.
Begrenzte Rationalität
Bei der Risikowahrnehmung geht die Psychologie von einigen wenigen Grundregeln aus, die auf ein Individuum oder eine Gesellschaft prägend wirken. Eine davon ist, dass wir vor dem Hintergrund unserer jahrtausendealten Entwicklungsgeschichte nur begrenzt rational funktionieren: So wurden die Vorfahren des heutigen Menschen vor rund 120’000 Generationen zu Jägern und Sammlern, vor 500 Generationen entstand die Landwirtschaft, vor zehn Generationen brach das Industriezeitalter an und erst seit einer Generation stehen uns Fernsehen und Computer zur Verfügung. Anzunehmen ist also, dass die früheren Menschheitsepochen der Jäger und Sammler unser Denken und Verhalten viel stärker beeinflussen, als uns bewusst ist.
Eine andere psychologische Grundregel lautet, dass wir mit verschiedenen Gefahren und Risiken vollkommen unterschiedlich umgehen: Wir unterschätzen alltägliche, bekannte und freiwillige Risiken, und umgekehrt überschätzen wir aussergewöhnliche, unbekannte und unfreiwillige Risiken. So kommt es im Alltag regelmässig zu falschen Risikoeinschätzungen.
Befragt nach den drei grössten heutigen Todesrisiken, nannten zum Beispiel Laien in einer Untersuchung Asbest, Giftmüll und starke Medikamente. Aus der Sicht von Fachleuten standen dagegen ganz andere Risiken im Vordergrund, nämlich Rauchen, Bewegungsmangel und Spirituosen. Oder: Wir fürchten uns mehr vor dem Seiltanzen als vor dem Autofahren, vor übermässigem Essen oder Zigarettenkonsum. Dabei beträgt heute die mittlere Verringerung der Lebenserwartung durch starkes Rauchen mehrere Jahre (6,6 Jahre beim Mann, 3,9 Jahre bei der Frau), durch Übergewicht 2,8 Jahre, durch Auto- und Motorradfahren ein halbes Jahr und durch Seiltanzen nur rund vier Monate.
Medieneinfluss
Unsere Risikowahrnehmung wird stark von den Massenmedien beeinflusst. Nicht nur Fernsehen und Radio wirken auf unsere Bewertungen und damit unser Verhalten in Bezug auf Risiken ein, sondern auch Zeitungen und Zeitschriften: Auf der Frontseite der «New York Times» fanden sich zum Beispiel 138 Artikel über Flugzeugabstürze pro tausend (US-amerikanische) Tote; dagegen erschienen nur 0,2 Artikel über Krebs pro tausend Krebstote in den USA und 1,6 Artikel über Gewaltkriminalität pro tausend Mordopfer. So erstaunt es nicht, dass nach dem Absturz einer DC-10 im Jahr 1989 die Buchungen für diesen Flugzeugtyp in den ersten zwei Wochen um 35% zurückgingen – während der Zigarettenverkauf in der Schweiz in den ersten zwei Wochen nach dem Gesundheitswarnungs- Aufdruck fast gar nicht zurückging und auch über das gesamte erste Jahr nur um gerade 3% abnahm. Oft entwickeln sich Schlagzeilen aus eher unscheinbaren Kurzmeldungen, die zunächst nur auf den hinteren Seiten Platz finden. Für den Medienkonsum charakteristisch ist auch die relativ kurze Aufmerksamkeitsspanne, also der beschränkte Zeitraum, in dem sich die durchschnittlichen Zeitungsleserinnen, Radiohörer und TV-Zuschauer für ein bestimmtes Phänomen interessieren. So zeigte sich in einer Studie für die Jahre 2000 und 2001 ein klarer Zusammenhang zwischen deutschen Fernsehnachrichten und dem Rindfleischkonsum der Bevölkerung: Als im Herbst 2000 die Zahl der monatlichen TV-Beiträge von null auf über 300 stieg, brach der Rindfleischkonsum auf weniger als einen Drittel des früheren Werts ein. Dieser wurde dann in etwa wieder im Herbst 2001 erreicht, nachdem die Fernsehbeiträge wieder auf nahezu null zurückgegangen waren.
Unsichtbare Killer
Kurz: So genannte «slow killers», die alltäglichen und langsam voranschreitenden Gefahren und Risiken, sind in den Medien klar unterrepräsentiert. Dabei haben die Medien für den individuellen Umgang mit Risiken eine Verstärkerfunktion, das heisst, sie beeinflussen sowohl die Wahrnehmung wie auch das Bewerten und Handeln in Bezug auf Risiken. Das lässt sich bereits auf der Ebene der einfachen Wortwahl zeigen: Der in kurzer Zeit in den Medien verbreitete Begriff «Vogelgrippe» für das eigentlich alte Phänomen der Geflügelpest etwa suggeriert die Neuheit und zugleich die Nähe der Gefahr – da Vögel und Grippe überall vorkommen, kann man sich wohl kaum dagegen schützen, denkt der besorgte Zeitgenosse. Die Risikowahrnehmung beeinflusst auch unsere Verteilungsentscheidungen. Da die Ressourcen immer begrenzt sind, sind Entscheidungen über Verteilungen unausweichlich. Solche Entscheidungen werden besser explizit und wissensbasiert als implizit und ohne Wissensbasis vorgenommen. So sind lebensrettende Massnahmen unterschiedlich teuer: In einer US-Studie betrugen die durchschnittlichen Kosten (Median) pro gerettetes Lebensjahr für den Bereich Umwelt 4200 Dollar, Arbeitsplatz 350 Dollar, Verkehr 56 Dollar, Wohnung 36 Dollar und Gesundheitswesen 19 Dollar. Falsche Reaktionen auf Risiken können ernsthafte Folgen haben: So erhöhte sich in den USA die Zahl schwerer Verkehrsunfälle nach dem 11. September 2001 deutlich, da viele Menschen vom vermeintlich gefährlichen Flugzeug auf das Auto umstiegen. Im ersten Halbjahr nach 9/11 waren auf den Strassen fast tausend zusätzliche schwere Unfälle zu verzeichnen. Die Lehre daraus: Der beste Schutz vor falschen Risiken besteht darin, Risiken allgemein richtig zu verstehen.
Prof. Jürgen Margraf ist Direktor des Nationalen Forschungsschwerpunkts sesam und Ordinarius für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Basel.
Die Vögel und die Furcht
Risiken werden ganz unterschiedlich wahrgenommen und bewertet. Die Psychologie kann mithelfen, zu erkennen, welches die wirklichen Gefahren sind, mit denen wir es zu tun haben.
In diesem Jahr sind in der Schweiz nach Schätzungen bereits rund tausend Menschen an Suizid gestorben, einige Hunderte bei Verkehrsunfällen, viele an der Immunschwächekrankheit Aids und andere an der ganz «normalen» Grippe – aber noch niemand an der Vogelgrippe (Stand: Oktober 2006). Warum fürchten viele Menschen dann eigentlich die Vogelgrippe mehr als die normale Grippe, den Autoverkehr oder den Suizid? Wer in diesem Sommer in der Internet-Suchmaschine Google das Stichwort «Vogelgrippe» eingab, stiess auf über 5,6 Millionen Einträge; der ursprüngliche Begriff «Geflügelpest» ergab noch 1,1 Millionen Treffer. Bei der Beschäftigung mit Risiken sind drei verschiedene Ebenen auseinander zu halten: erstens die fachlich-technische Risikoanalyse, zweitens die Psychologie und die individuelle Wahrnehmung des Risikos – davon soll hier vor allem die Rede sein – und drittens die Soziologie des Risikos, auf deren Ebene die soziale Wertedebatte etwa über die Themen Freiheit und Schutz stattfindet.
Die Psychologie hat die Mechanismen der Risikowahrnehmung systematisch erforscht. Ihre Erkenntnisse können uns helfen, die wichtigen von den weniger wichtigen Gefahren zu unterscheiden und unser Verhalten danach auszurichten.
Begrenzte Rationalität
Bei der Risikowahrnehmung geht die Psychologie von einigen wenigen Grundregeln aus, die auf ein Individuum oder eine Gesellschaft prägend wirken. Eine davon ist, dass wir vor dem Hintergrund unserer jahrtausendealten Entwicklungsgeschichte nur begrenzt rational funktionieren: So wurden die Vorfahren des heutigen Menschen vor rund 120’000 Generationen zu Jägern und Sammlern, vor 500 Generationen entstand die Landwirtschaft, vor zehn Generationen brach das Industriezeitalter an und erst seit einer Generation stehen uns Fernsehen und Computer zur Verfügung. Anzunehmen ist also, dass die früheren Menschheitsepochen der Jäger und Sammler unser Denken und Verhalten viel stärker beeinflussen, als uns bewusst ist.
Eine andere psychologische Grundregel lautet, dass wir mit verschiedenen Gefahren und Risiken vollkommen unterschiedlich umgehen: Wir unterschätzen alltägliche, bekannte und freiwillige Risiken, und umgekehrt überschätzen wir aussergewöhnliche, unbekannte und unfreiwillige Risiken. So kommt es im Alltag regelmässig zu falschen Risikoeinschätzungen.
Befragt nach den drei grössten heutigen Todesrisiken, nannten zum Beispiel Laien in einer Untersuchung Asbest, Giftmüll und starke Medikamente. Aus der Sicht von Fachleuten standen dagegen ganz andere Risiken im Vordergrund, nämlich Rauchen, Bewegungsmangel und Spirituosen. Oder: Wir fürchten uns mehr vor dem Seiltanzen als vor dem Autofahren, vor übermässigem Essen oder Zigarettenkonsum. Dabei beträgt heute die mittlere Verringerung der Lebenserwartung durch starkes Rauchen mehrere Jahre (6,6 Jahre beim Mann, 3,9 Jahre bei der Frau), durch Übergewicht 2,8 Jahre, durch Auto- und Motorradfahren ein halbes Jahr und durch Seiltanzen nur rund vier Monate.
Medieneinfluss
Unsere Risikowahrnehmung wird stark von den Massenmedien beeinflusst. Nicht nur Fernsehen und Radio wirken auf unsere Bewertungen und damit unser Verhalten in Bezug auf Risiken ein, sondern auch Zeitungen und Zeitschriften: Auf der Frontseite der «New York Times» fanden sich zum Beispiel 138 Artikel über Flugzeugabstürze pro tausend (US-amerikanische) Tote; dagegen erschienen nur 0,2 Artikel über Krebs pro tausend Krebstote in den USA und 1,6 Artikel über Gewaltkriminalität pro tausend Mordopfer. So erstaunt es nicht, dass nach dem Absturz einer DC-10 im Jahr 1989 die Buchungen für diesen Flugzeugtyp in den ersten zwei Wochen um 35% zurückgingen – während der Zigarettenverkauf in der Schweiz in den ersten zwei Wochen nach dem Gesundheitswarnungs- Aufdruck fast gar nicht zurückging und auch über das gesamte erste Jahr nur um gerade 3% abnahm. Oft entwickeln sich Schlagzeilen aus eher unscheinbaren Kurzmeldungen, die zunächst nur auf den hinteren Seiten Platz finden. Für den Medienkonsum charakteristisch ist auch die relativ kurze Aufmerksamkeitsspanne, also der beschränkte Zeitraum, in dem sich die durchschnittlichen Zeitungsleserinnen, Radiohörer und TV-Zuschauer für ein bestimmtes Phänomen interessieren. So zeigte sich in einer Studie für die Jahre 2000 und 2001 ein klarer Zusammenhang zwischen deutschen Fernsehnachrichten und dem Rindfleischkonsum der Bevölkerung: Als im Herbst 2000 die Zahl der monatlichen TV-Beiträge von null auf über 300 stieg, brach der Rindfleischkonsum auf weniger als einen Drittel des früheren Werts ein. Dieser wurde dann in etwa wieder im Herbst 2001 erreicht, nachdem die Fernsehbeiträge wieder auf nahezu null zurückgegangen waren.
Unsichtbare Killer
Kurz: So genannte «slow killers», die alltäglichen und langsam voranschreitenden Gefahren und Risiken, sind in den Medien klar unterrepräsentiert. Dabei haben die Medien für den individuellen Umgang mit Risiken eine Verstärkerfunktion, das heisst, sie beeinflussen sowohl die Wahrnehmung wie auch das Bewerten und Handeln in Bezug auf Risiken. Das lässt sich bereits auf der Ebene der einfachen Wortwahl zeigen: Der in kurzer Zeit in den Medien verbreitete Begriff «Vogelgrippe» für das eigentlich alte Phänomen der Geflügelpest etwa suggeriert die Neuheit und zugleich die Nähe der Gefahr – da Vögel und Grippe überall vorkommen, kann man sich wohl kaum dagegen schützen, denkt der besorgte Zeitgenosse. Die Risikowahrnehmung beeinflusst auch unsere Verteilungsentscheidungen. Da die Ressourcen immer begrenzt sind, sind Entscheidungen über Verteilungen unausweichlich. Solche Entscheidungen werden besser explizit und wissensbasiert als implizit und ohne Wissensbasis vorgenommen. So sind lebensrettende Massnahmen unterschiedlich teuer: In einer US-Studie betrugen die durchschnittlichen Kosten (Median) pro gerettetes Lebensjahr für den Bereich Umwelt 4200 Dollar, Arbeitsplatz 350 Dollar, Verkehr 56 Dollar, Wohnung 36 Dollar und Gesundheitswesen 19 Dollar. Falsche Reaktionen auf Risiken können ernsthafte Folgen haben: So erhöhte sich in den USA die Zahl schwerer Verkehrsunfälle nach dem 11. September 2001 deutlich, da viele Menschen vom vermeintlich gefährlichen Flugzeug auf das Auto umstiegen. Im ersten Halbjahr nach 9/11 waren auf den Strassen fast tausend zusätzliche schwere Unfälle zu verzeichnen. Die Lehre daraus: Der beste Schutz vor falschen Risiken besteht darin, Risiken allgemein richtig zu verstehen.
Prof. Jürgen Margraf ist Direktor des Nationalen Forschungsschwerpunkts sesam und Ordinarius für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Basel.
patpatpat - 5. Feb, 10:06