Aargauer Zeitung: "Margraf verlässt enttäuscht die Schweiz"
Bis vor einigen Monaten war unklar, ob Jürgen Margraf nun nach Bochum wechselt oder nicht. Jetzt schrieb aber Felix Strauman am 13. November in der Aargauer Zeitung:
(Start Artikel)
Der profilierte Depressionsforscher Jürgen Margraf verlässt enttäuscht die Schweiz.
Ausgerechnet jetzt nach dem Tod des deutschen Nationaltorhüters Robert Enke, wo vielen Menschen die Bedeutung oft tabuisierter psychischer Krankheiten schmerzlich bewusst wird, verlässt einer der profiliertesten Depressionsforscher der Schweiz enttäuscht das Land. Jürgen Margraf, Psychologieprofessor an der Universität Basel, wurde von Deutschland mit einer Humboldt-Professur abgeworben. Margraf hat entschieden, das Angebot anzunehmen, und wird am 1. März 2010 eine attraktive Stelle an der Ruhr-Universität Bochum antreten – unbelastet von administrativen Aufgaben und ausgestattet mit einem komfortablen Forschungsbudget.
Mit dem Namen Jürgen Margraf eng verbunden ist einesder bemerkenswertesten Forschungsprojekte der Schweiz. Der 22 Millionen Franken teure nationale Forschungsschwerpunkt mit dem Namen Sesam (Swiss Etiological Study of Adjustment and Mental Health) an der Universität Basel hatte das ambitionierte Ziel, die Entstehung psychischer Krankheiten interdisziplinär mit Methoden der Soziologie, Psychologie und Biologie zu untersuchen. Dazu wollte man 3000 Kinder von der zwölften Schwangerschaftswoche an bis zum 20. Lebensjahr systematisch mit ihrem gesamten Lebensumfeld inklusive Eltern und Grosseltern zu verfolgen.
Obwohl das Projekt von internationalen Gutachtern beste Noten erhielt, scheiterte das Projekt kläglich und wurde vor anderthalb Jahren auf Antrag der Projektleitung gestoppt. Ein Bericht des Nationalfonds macht dafür unter anderem die Opposition radikaler Interessengruppen verantwortlich. Wenn auch nicht namentlich erwähnt, ist damit vor allem der «Basler Appell gegen Gentechnologie» gemeint, der von Beginn an Stimmung gegen das Projekt machte. Ebenfalls bedeutend waren laut Autoren des Berichts die falsch eingeschätzte Teilnahmebereitschaft von werdenden Müttern sowie unklare rechtliche Zuständigkeiten zwischen den Kantonen.
Herr Margraf, Sie haben sich entschieden, der Schweiz den Rücken zu kehren. Mussten Sie lange überlegen?
Jürgen Margraf: Letzten Endes schon. Ich bin seit gut zehn Jahren Professor an der Universität Basel und habe zusammen mit Kollegen sehr viel Aufbauarbeit und Herzblut hineingesteckt. Mir ist aber klar geworden, dass es unter den gegebenen Rahmenbedingungen sehr schwierig sein würde, in den nächsten zehn Jahren einen grossen Schritt nach vorne zu machen.
Ich nehme an, Sie sprechen vor allem Ihr gescheitertes «Sesam»-Projekt an.
Margraf: Das ist sicher ein Aspekt. Diese Erfahrung hat gezeigt, dass es in der Schweiz sehr schwierig ist, so ein Projekt an der Schnittstelle von Sozial- und Naturwissenschaften umzusetzen.
Was hat aus Ihrer Sicht rückblickend zum Scheitern geführt?
Margraf: Dazu gibt es einen Bericht aus einer unabhängigen Nationalfonds-Untersuchung. Aus meiner Sicht hat eine Mischung verschiedener Faktoren dazu geführt, dass die hohen Anforderungen an den nationalen Forschungsschwerpunkt nicht realisierbar waren. Unter anderem ist bis heute nicht klar, wer zuständig ist, wenn eine Studie über mehrere Kantone und Disziplinen geht. In diesem Umfeld hatten wir nicht genügend Unterstützung.
Was hätte dann konkret passieren müssen?
Margraf: Zum Beispiel können bei ungerechtfertigten öffentlichen Angriffen die kritisierten Forscher schlecht selber sagen: Es ist aber alles ganz wundervoll, was wir machen. Da müssen andere aktiv werden und da ist auch die Universitätsleitung gefordert. Ein interdisziplinäres Projekt ist immer eine schwierige Aufgabe, aber unter normalen Umständen können die Probleme gelöst werden. Doch unter erschwerten Umständen können Hindernisse plötzlich zu unüberwindbaren Hürden werden.
Planen Sie eine Neuauflage des Sesam-Projekts in Deutschland?
Margraf: Diese Art Forschung läuft inzwischen an verschiedenen Orten der Welt. Es ist nicht sinnvoll, das Gleiche mit fünf Jahren Verspätung nun noch einmal zu machen. Ich werde andere Projekte beginnen. Für mich bleibt weiter die grosse Herausforderung, zu klären, was die Ursachen von gesunder und kranker Entwicklung in einem so tabuisierten Gebiet wie der Psyche sind. Das muss bewältigt werden, sonst werden wir weiterhin jede Menge menschliches Leid und sehr hohe unnötige Kosten haben. Andere Themen, mit denen ich mich beschäftigen werde, sind die psychotherapeutische Behandlung bei Angsterkrankungen und Depressionen und die Frage, wie das alles im Guten wie im Schlechten in Familien weitergegeben wird und ob wir darauf Einfluss nehmen können.
Hätte man den Tod des deutschen Nationaltorhüters Robert Enke verhindern können?
Margraf: Ich kenne den Fall nur aus der Ferne, es scheint aber, dass man versucht hat, alles richtig zu machen. Er hatte auch eine stabile, liebevolle Beziehung und trieb Sport – beides schützende Faktoren bei Depression. Bei Enke hat es trotzdem nicht gereicht. Im Einzelfall kann man das einfach nicht mit Sicherheit voraussagen.
Was neben den Erfahrungen mit dem Sesam-Projekt hat Sie sonst noch dazu bewogen, die Schweiz zu verlassen?
Margraf: Die Situation an den Universitäten. In Basel ist die Zahl der Studierenden in den letzten Jahren dramatisch nach oben gegangen. Wir haben in der Psychologie seit Jahren ein Betreuungsverhältnis von über 100 Studierenden auf eine Professur. Das ist auf Dauer absolut untragbar. Das geht nur mit riesigem Aufwand und auf Kosten des wissenschaftlichen Nachwuchses und der Forschung. Ab 1 zu 80 müssten eigentlich sofort Notmassnahmen eingeleitet werden. Dazu gäbe es eidgenössische Vereinbarungen, an die sich die Universität aber nicht hält.
Wenn Sie die Forschungslandschaft in den letzten Jahren beobachten: Sind die Schweizer wissenschaftsskeptischer geworden?
Margraf: Ich glaube, dass es zwei gegenläufige Entwicklungen gibt. Viele Leute finden Forschung wichtiger und sinnvoller denn je. Daneben gibt es eine kleinere Anzahl von Leuten, die ganz dagegen sind. Ob dieser Teil grösser geworden ist, weiss ich nicht. Aber er ist da. Und die Rahmenbedingungen in der Schweiz mit dem starken Föderalismus, der Basisdemokratie und der Angst der Politiker, für heikle Themen einzustehen, machen es möglich, dass kleinere Gruppierungen überproportionalen Einfluss haben. Hinzu kommt, dass man beim Thema psychische Gesundheit immer noch auf Vorbehalte stösst. Ich werde das Gefühl bis heute nicht los, dass viele nicht realisieren, wie häufig und schwerwiegend psychische Probleme in unserer Gesellschaft sind. Immer wieder sind die Menschen erstaunt, wenn ich Zahlen zur Häufigkeit solcher Erkrankungen vortrage. Dabei sind diese überhaupt nichts Neues und betreffen auch viele andere Länder.
Wie reagieren denn die Leute auf Ihre Zahlen?
Margraf: Statt zur Kenntnis zu nehmen, dass psychische Krankheiten wirklich häufig sind und man etwas dagegen tun müsste, gibt es bei manchen Leuten alle möglichen Mutmassungen, warum ich jetzt solche Zahlen sage: «Will der jetzt riesige Beschäftigungsprogramme für Psychologen starten oder seine eigene Wichtigkeit erhöhen?» Ich glaube, dass die Probleme der psychischen Gesundheit grundsätzlich unterschätzt werden.
(Ende Artikel aus der Aargauer Zeitung)
P.S. Zu einigen Primärquellen für die Zahlen, "wie häufig und schwerwiegend psychische Probleme in unserer Gesellschaft sind", siehe die Links in diesem Blogposting. Zu Margrafs Kritik an den Kritikern siehe dieses Posting bei Sesam Watch.
(Start Artikel)
Der profilierte Depressionsforscher Jürgen Margraf verlässt enttäuscht die Schweiz.
Ausgerechnet jetzt nach dem Tod des deutschen Nationaltorhüters Robert Enke, wo vielen Menschen die Bedeutung oft tabuisierter psychischer Krankheiten schmerzlich bewusst wird, verlässt einer der profiliertesten Depressionsforscher der Schweiz enttäuscht das Land. Jürgen Margraf, Psychologieprofessor an der Universität Basel, wurde von Deutschland mit einer Humboldt-Professur abgeworben. Margraf hat entschieden, das Angebot anzunehmen, und wird am 1. März 2010 eine attraktive Stelle an der Ruhr-Universität Bochum antreten – unbelastet von administrativen Aufgaben und ausgestattet mit einem komfortablen Forschungsbudget.
Mit dem Namen Jürgen Margraf eng verbunden ist einesder bemerkenswertesten Forschungsprojekte der Schweiz. Der 22 Millionen Franken teure nationale Forschungsschwerpunkt mit dem Namen Sesam (Swiss Etiological Study of Adjustment and Mental Health) an der Universität Basel hatte das ambitionierte Ziel, die Entstehung psychischer Krankheiten interdisziplinär mit Methoden der Soziologie, Psychologie und Biologie zu untersuchen. Dazu wollte man 3000 Kinder von der zwölften Schwangerschaftswoche an bis zum 20. Lebensjahr systematisch mit ihrem gesamten Lebensumfeld inklusive Eltern und Grosseltern zu verfolgen.
Obwohl das Projekt von internationalen Gutachtern beste Noten erhielt, scheiterte das Projekt kläglich und wurde vor anderthalb Jahren auf Antrag der Projektleitung gestoppt. Ein Bericht des Nationalfonds macht dafür unter anderem die Opposition radikaler Interessengruppen verantwortlich. Wenn auch nicht namentlich erwähnt, ist damit vor allem der «Basler Appell gegen Gentechnologie» gemeint, der von Beginn an Stimmung gegen das Projekt machte. Ebenfalls bedeutend waren laut Autoren des Berichts die falsch eingeschätzte Teilnahmebereitschaft von werdenden Müttern sowie unklare rechtliche Zuständigkeiten zwischen den Kantonen.
Herr Margraf, Sie haben sich entschieden, der Schweiz den Rücken zu kehren. Mussten Sie lange überlegen?
Jürgen Margraf: Letzten Endes schon. Ich bin seit gut zehn Jahren Professor an der Universität Basel und habe zusammen mit Kollegen sehr viel Aufbauarbeit und Herzblut hineingesteckt. Mir ist aber klar geworden, dass es unter den gegebenen Rahmenbedingungen sehr schwierig sein würde, in den nächsten zehn Jahren einen grossen Schritt nach vorne zu machen.
Ich nehme an, Sie sprechen vor allem Ihr gescheitertes «Sesam»-Projekt an.
Margraf: Das ist sicher ein Aspekt. Diese Erfahrung hat gezeigt, dass es in der Schweiz sehr schwierig ist, so ein Projekt an der Schnittstelle von Sozial- und Naturwissenschaften umzusetzen.
Was hat aus Ihrer Sicht rückblickend zum Scheitern geführt?
Margraf: Dazu gibt es einen Bericht aus einer unabhängigen Nationalfonds-Untersuchung. Aus meiner Sicht hat eine Mischung verschiedener Faktoren dazu geführt, dass die hohen Anforderungen an den nationalen Forschungsschwerpunkt nicht realisierbar waren. Unter anderem ist bis heute nicht klar, wer zuständig ist, wenn eine Studie über mehrere Kantone und Disziplinen geht. In diesem Umfeld hatten wir nicht genügend Unterstützung.
Was hätte dann konkret passieren müssen?
Margraf: Zum Beispiel können bei ungerechtfertigten öffentlichen Angriffen die kritisierten Forscher schlecht selber sagen: Es ist aber alles ganz wundervoll, was wir machen. Da müssen andere aktiv werden und da ist auch die Universitätsleitung gefordert. Ein interdisziplinäres Projekt ist immer eine schwierige Aufgabe, aber unter normalen Umständen können die Probleme gelöst werden. Doch unter erschwerten Umständen können Hindernisse plötzlich zu unüberwindbaren Hürden werden.
Planen Sie eine Neuauflage des Sesam-Projekts in Deutschland?
Margraf: Diese Art Forschung läuft inzwischen an verschiedenen Orten der Welt. Es ist nicht sinnvoll, das Gleiche mit fünf Jahren Verspätung nun noch einmal zu machen. Ich werde andere Projekte beginnen. Für mich bleibt weiter die grosse Herausforderung, zu klären, was die Ursachen von gesunder und kranker Entwicklung in einem so tabuisierten Gebiet wie der Psyche sind. Das muss bewältigt werden, sonst werden wir weiterhin jede Menge menschliches Leid und sehr hohe unnötige Kosten haben. Andere Themen, mit denen ich mich beschäftigen werde, sind die psychotherapeutische Behandlung bei Angsterkrankungen und Depressionen und die Frage, wie das alles im Guten wie im Schlechten in Familien weitergegeben wird und ob wir darauf Einfluss nehmen können.
Hätte man den Tod des deutschen Nationaltorhüters Robert Enke verhindern können?
Margraf: Ich kenne den Fall nur aus der Ferne, es scheint aber, dass man versucht hat, alles richtig zu machen. Er hatte auch eine stabile, liebevolle Beziehung und trieb Sport – beides schützende Faktoren bei Depression. Bei Enke hat es trotzdem nicht gereicht. Im Einzelfall kann man das einfach nicht mit Sicherheit voraussagen.
Was neben den Erfahrungen mit dem Sesam-Projekt hat Sie sonst noch dazu bewogen, die Schweiz zu verlassen?
Margraf: Die Situation an den Universitäten. In Basel ist die Zahl der Studierenden in den letzten Jahren dramatisch nach oben gegangen. Wir haben in der Psychologie seit Jahren ein Betreuungsverhältnis von über 100 Studierenden auf eine Professur. Das ist auf Dauer absolut untragbar. Das geht nur mit riesigem Aufwand und auf Kosten des wissenschaftlichen Nachwuchses und der Forschung. Ab 1 zu 80 müssten eigentlich sofort Notmassnahmen eingeleitet werden. Dazu gäbe es eidgenössische Vereinbarungen, an die sich die Universität aber nicht hält.
Wenn Sie die Forschungslandschaft in den letzten Jahren beobachten: Sind die Schweizer wissenschaftsskeptischer geworden?
Margraf: Ich glaube, dass es zwei gegenläufige Entwicklungen gibt. Viele Leute finden Forschung wichtiger und sinnvoller denn je. Daneben gibt es eine kleinere Anzahl von Leuten, die ganz dagegen sind. Ob dieser Teil grösser geworden ist, weiss ich nicht. Aber er ist da. Und die Rahmenbedingungen in der Schweiz mit dem starken Föderalismus, der Basisdemokratie und der Angst der Politiker, für heikle Themen einzustehen, machen es möglich, dass kleinere Gruppierungen überproportionalen Einfluss haben. Hinzu kommt, dass man beim Thema psychische Gesundheit immer noch auf Vorbehalte stösst. Ich werde das Gefühl bis heute nicht los, dass viele nicht realisieren, wie häufig und schwerwiegend psychische Probleme in unserer Gesellschaft sind. Immer wieder sind die Menschen erstaunt, wenn ich Zahlen zur Häufigkeit solcher Erkrankungen vortrage. Dabei sind diese überhaupt nichts Neues und betreffen auch viele andere Länder.
Wie reagieren denn die Leute auf Ihre Zahlen?
Margraf: Statt zur Kenntnis zu nehmen, dass psychische Krankheiten wirklich häufig sind und man etwas dagegen tun müsste, gibt es bei manchen Leuten alle möglichen Mutmassungen, warum ich jetzt solche Zahlen sage: «Will der jetzt riesige Beschäftigungsprogramme für Psychologen starten oder seine eigene Wichtigkeit erhöhen?» Ich glaube, dass die Probleme der psychischen Gesundheit grundsätzlich unterschätzt werden.
(Ende Artikel aus der Aargauer Zeitung)
P.S. Zu einigen Primärquellen für die Zahlen, "wie häufig und schwerwiegend psychische Probleme in unserer Gesellschaft sind", siehe die Links in diesem Blogposting. Zu Margrafs Kritik an den Kritikern siehe dieses Posting bei Sesam Watch.
sesaminput - 21. Nov, 10:20