Bis vor einigen Monaten war
unklar, ob Jürgen Margraf nun nach Bochum wechselt oder nicht. Jetzt schrieb aber Felix Strauman am 13. November in der Aargauer Zeitung:
(Start Artikel)
Der profilierte Depressionsforscher Jürgen Margraf verlässt enttäuscht die Schweiz.
Ausgerechnet jetzt nach dem Tod des deutschen Nationaltorhüters Robert Enke, wo vielen Menschen die Bedeutung oft tabuisierter psychischer Krankheiten schmerzlich bewusst wird, verlässt einer der profiliertesten Depressionsforscher der Schweiz enttäuscht das Land. Jürgen Margraf, Psychologieprofessor an der Universität Basel, wurde von Deutschland mit einer Humboldt-Professur abgeworben. Margraf hat entschieden, das Angebot anzunehmen, und wird am 1. März 2010 eine attraktive Stelle an der Ruhr-Universität Bochum antreten – unbelastet von administrativen Aufgaben und ausgestattet mit einem komfortablen Forschungsbudget.
Mit dem Namen Jürgen Margraf eng verbunden ist einesder bemerkenswertesten Forschungsprojekte der Schweiz. Der 22 Millionen Franken teure nationale Forschungsschwerpunkt mit dem Namen Sesam (Swiss Etiological Study of Adjustment and Mental Health) an der Universität Basel hatte das ambitionierte Ziel, die Entstehung psychischer Krankheiten interdisziplinär mit Methoden der Soziologie, Psychologie und Biologie zu untersuchen. Dazu wollte man 3000 Kinder von der zwölften Schwangerschaftswoche an bis zum 20. Lebensjahr systematisch mit ihrem gesamten Lebensumfeld inklusive Eltern und Grosseltern zu verfolgen.
Obwohl das Projekt von internationalen Gutachtern beste Noten erhielt, scheiterte das Projekt kläglich und wurde vor anderthalb Jahren auf Antrag der Projektleitung gestoppt. Ein Bericht des Nationalfonds macht dafür unter anderem die Opposition radikaler Interessengruppen verantwortlich. Wenn auch nicht namentlich erwähnt, ist damit vor allem der «Basler Appell gegen Gentechnologie» gemeint, der von Beginn an Stimmung gegen das Projekt machte. Ebenfalls bedeutend waren laut Autoren des Berichts die falsch eingeschätzte Teilnahmebereitschaft von werdenden Müttern sowie unklare rechtliche Zuständigkeiten zwischen den Kantonen.
Herr Margraf, Sie haben sich entschieden, der Schweiz den Rücken zu kehren. Mussten Sie lange überlegen?
Jürgen Margraf: Letzten Endes schon. Ich bin seit gut zehn Jahren Professor an der Universität Basel und habe zusammen mit Kollegen sehr viel Aufbauarbeit und Herzblut hineingesteckt. Mir ist aber klar geworden, dass es unter den gegebenen Rahmenbedingungen sehr schwierig sein würde, in den nächsten zehn Jahren einen grossen Schritt nach vorne zu machen.
Ich nehme an, Sie sprechen vor allem Ihr gescheitertes «Sesam»-Projekt an.
Margraf: Das ist sicher ein Aspekt. Diese Erfahrung hat gezeigt, dass es in der Schweiz sehr schwierig ist, so ein Projekt an der Schnittstelle von Sozial- und Naturwissenschaften umzusetzen.
Was hat aus Ihrer Sicht rückblickend zum Scheitern geführt?
Margraf: Dazu gibt es einen Bericht aus einer unabhängigen Nationalfonds-Untersuchung. Aus meiner Sicht hat eine Mischung verschiedener Faktoren dazu geführt, dass die hohen Anforderungen an den nationalen Forschungsschwerpunkt nicht realisierbar waren. Unter anderem ist bis heute nicht klar, wer zuständig ist, wenn eine Studie über mehrere Kantone und Disziplinen geht. In diesem Umfeld hatten wir nicht genügend Unterstützung.
Was hätte dann konkret passieren müssen?
Margraf: Zum Beispiel können bei ungerechtfertigten öffentlichen Angriffen die kritisierten Forscher schlecht selber sagen: Es ist aber alles ganz wundervoll, was wir machen. Da müssen andere aktiv werden und da ist auch die Universitätsleitung gefordert. Ein interdisziplinäres Projekt ist immer eine schwierige Aufgabe, aber unter normalen Umständen können die Probleme gelöst werden. Doch unter erschwerten Umständen können Hindernisse plötzlich zu unüberwindbaren Hürden werden.
Planen Sie eine Neuauflage des Sesam-Projekts in Deutschland?
Margraf: Diese Art Forschung läuft inzwischen an verschiedenen Orten der Welt. Es ist nicht sinnvoll, das Gleiche mit fünf Jahren Verspätung nun noch einmal zu machen. Ich werde andere Projekte beginnen. Für mich bleibt weiter die grosse Herausforderung, zu klären, was die Ursachen von gesunder und kranker Entwicklung in einem so tabuisierten Gebiet wie der Psyche sind. Das muss bewältigt werden, sonst werden wir weiterhin jede Menge menschliches Leid und sehr hohe unnötige Kosten haben. Andere Themen, mit denen ich mich beschäftigen werde, sind die psychotherapeutische Behandlung bei Angsterkrankungen und Depressionen und die Frage, wie das alles im Guten wie im Schlechten in Familien weitergegeben wird und ob wir darauf Einfluss nehmen können.
Hätte man den Tod des deutschen Nationaltorhüters Robert Enke verhindern können?
Margraf: Ich kenne den Fall nur aus der Ferne, es scheint aber, dass man versucht hat, alles richtig zu machen. Er hatte auch eine stabile, liebevolle Beziehung und trieb Sport – beides schützende Faktoren bei Depression. Bei Enke hat es trotzdem nicht gereicht. Im Einzelfall kann man das einfach nicht mit Sicherheit voraussagen.
Was neben den Erfahrungen mit dem Sesam-Projekt hat Sie sonst noch dazu bewogen, die Schweiz zu verlassen?
Margraf: Die Situation an den Universitäten. In Basel ist die Zahl der Studierenden in den letzten Jahren dramatisch nach oben gegangen. Wir haben in der Psychologie seit Jahren ein Betreuungsverhältnis von über 100 Studierenden auf eine Professur. Das ist auf Dauer absolut untragbar. Das geht nur mit riesigem Aufwand und auf Kosten des wissenschaftlichen Nachwuchses und der Forschung. Ab 1 zu 80 müssten eigentlich sofort Notmassnahmen eingeleitet werden. Dazu gäbe es eidgenössische Vereinbarungen, an die sich die Universität aber nicht hält.
Wenn Sie die Forschungslandschaft in den letzten Jahren beobachten: Sind die Schweizer wissenschaftsskeptischer geworden?
Margraf: Ich glaube, dass es zwei gegenläufige Entwicklungen gibt. Viele Leute finden Forschung wichtiger und sinnvoller denn je. Daneben gibt es eine kleinere Anzahl von Leuten, die ganz dagegen sind. Ob dieser Teil grösser geworden ist, weiss ich nicht. Aber er ist da. Und die Rahmenbedingungen in der Schweiz mit dem starken Föderalismus, der Basisdemokratie und der Angst der Politiker, für heikle Themen einzustehen, machen es möglich, dass kleinere Gruppierungen überproportionalen Einfluss haben. Hinzu kommt, dass man beim Thema psychische Gesundheit immer noch auf Vorbehalte stösst. Ich werde das Gefühl bis heute nicht los, dass viele nicht realisieren, wie häufig und schwerwiegend psychische Probleme in unserer Gesellschaft sind. Immer wieder sind die Menschen erstaunt, wenn ich Zahlen zur Häufigkeit solcher Erkrankungen vortrage. Dabei sind diese überhaupt nichts Neues und betreffen auch viele andere Länder.
Wie reagieren denn die Leute auf Ihre Zahlen?
Margraf: Statt zur Kenntnis zu nehmen, dass psychische Krankheiten wirklich häufig sind und man etwas dagegen tun müsste, gibt es bei manchen Leuten alle möglichen Mutmassungen, warum ich jetzt solche Zahlen sage: «Will der jetzt riesige Beschäftigungsprogramme für Psychologen starten oder seine eigene Wichtigkeit erhöhen?» Ich glaube, dass die Probleme der psychischen Gesundheit grundsätzlich unterschätzt werden.
(Ende Artikel aus der Aargauer Zeitung)
P.S. Zu einigen Primärquellen für die Zahlen, "wie häufig und schwerwiegend psychische Probleme in unserer Gesellschaft sind", siehe
die Links in diesem Blogposting. Zu Margrafs Kritik an den Kritikern siehe
dieses Posting bei Sesam Watch.
sesaminput - 21. Nov, 10:20
Die Aargauer Zeitung und die ihr angeschlossenen Regionablätter publizierten in den letzten Tagen dieses Interview in dieser oder einer leicht redigierten Fassung:
«Wir wollen doch etwas Gutes tun»
Jürgen Margraf, Leiter der Studie Sesam, die mit 15 000 Teilnehmern herausfinden will, welche Ursachen zu einer gesunden psychischen Entwicklung führen, ist zuversichtlich, das Projekt in den nächsten Wochen starten zu können.
Mit Jürgen Margraf sprach David Sieber
Herr Margraf, haben Sie Kinder?
Jürgen Margraf: Ja, zwei. Die Tochter ist zehn, und der Sohn geht schnell auf die 16 zu.
Würden Sie Ihre Kinder an einem Projekt wie Sesam teilnehmen lassen?
Margraf: Selbstverständlich. Ich würde bei meiner Arbeit nichts tun, was ich nicht in meinem Umfeld machen würde. Untersuchungen an Erwachsenen und Kindern sind Alltag. In der Pädagogik, der Pädiatrie und eben in der Entwicklungspsychologie haben solche Studien eine lange Tradition.
Hätten Sie auch keine Bedenken, an Ihren unmündigen Kindern DNA-Analysen durchführen zu lassen?
Margraf: Da hätte ich überhaupt keine Bedenken. Denn es besteht kein Risiko. Sesam beschäftigt sich mit dem ganzen Menschen, seinem Körper und seinem Geist. Gene sind nur ein Baustein des Lebens. Die DNA-Analysen, die wir planen, sollen helfen, genauer zu verstehen, welche Prozesse bei psychischer Gesundheit und Krankheit eigentlich ablaufen. Es geht nicht darum, das Gen gegen Depression zu finden. Das gibt es ohnehin nicht. Uns interessiert: Wie wirken Umwelt und Erbgut zusammen?
Nun will die Ethikkommission beider Basel aber nicht, dass Kinder zu einer DNA-Analyse herhalten müssen ...
Margraf: ... selbst, wenn die Eltern einverstanden sind, ja. Diese Auflage hat die Kommission uns gemacht. Und daran halten wir uns. Wir machen die Analysen nun erst, wenn die Kinder im Alter von 18 ihr Einverständnis dazu geben.
Bricht damit der Kern der Studie weg, wie Sesam-Kritiker meinen?
Margraf: Nein. Der Entscheid tangiert die Studie nur zeitlich. Die Bandbreite unserer Forschung reicht von der Biologie und Genetik über die Psychologie bis zur Soziologie. Die Genetik macht nur etwa fünf Prozent unseres Budgets von rund 21 Millionen Franken für die ersten vier Jahre aus. Und nur ein Prozent war für DNA-Analysen an den Kindern vorgesehen. Wir werden etwa 5000 Eltern, 7000 Grosseltern und 3000 Kinder bei Sesam mit dabeihaben. Bei den 12 000 Erwachsenen können wir die DNA-Analysen sofort durchführen. Weil die Korrelationen mit Krankheiten sich ohnehin erst im Erwachsenenalter zeigen, können wir mit der Empfehlung der Ethikkommission gut leben.
Die Kritik an Sesam war laut und fundamental. Hat Sie das überrascht?
Margraf: Dass das Interesse gross ist, habe ich erwartet. Ich konnte die Kritik teilweise verstehen, doch die Lautstärke und die teils fundamentalistischen Argumente haben mich erstaunt. Dabei geht es uns doch darum, etwas Gutes zu tun. Wir wollen verstehen, wie sich Menschen gesund entwickeln. Gesundheit ist für die Menschen eines der höchsten, für einige gar das höchste Gut. Die Psychologie hat gezeigt, dass die Menschen trotzdem dazu neigen, zu lange zu warten und ihr Verhalten erst ändern, wenn die Erkrankung da ist. Es ist deshalb wichtig, dass sich die Menschen frühzeitig um ihre Gesundheit kümmern. Und deshalb müssen wir verstehen, welche Pfade zu einem gesunden Leben führen und welche Pfade vor der Krankheit gegangen worden sind.
Weshalb haben Sie so lange mit Informationen gegeizt und nicht einfach den ganzen Projektbeschrieb veröffentlicht?
Margraf: Das ist international nicht üblich. Zum einen muss man die im Antrag enthaltenen Ideen schützen, vor allem aber werden bei derartigen Studien die Details erst in einer intensiven Vorbereitungsphase ausgearbeitet. Da hätte es schnell Verwirrung gegeben, wenn verschiedene Zwischenstände nebeneinander gestanden hätten. Nachdem diese Vorbereitungen nun abgeschlossen sind, können wir nun mit Foren starten, wo wir der Öffentlichkeit Red und Antwort stehen.
Sesam wurde zu Anfang sinngemäss als Beitrag zur psychischen Gesundung der Schweiz angepriesen, wovon auch die Wirtschaft profitiere. Der Pharmamulti Roche unterstützt das Projekt mit sechs Millionen Franken. Wundert Sie da der Einwand, bei Sesam gehe es vorab darum, die Grundlagen für neue Therapieformen und Medikamente zu schaffen, um damit Geld zu verdienen?
Margraf: Ich persönlich finde, neue Therapieformen wären sehr sinnvoll. Denn die Vorhandenen sind bei weitem nicht perfekt. Ich kenne auf meinem Gebiet, der Psychotherapie, keine Methode, die hundertprozentig wirkt. Es ist aber nicht gesagt, ob und in welchen Bereichen Sesam solche neuen Möglichkeiten eruieren wird. Zum Beispiel: Ein Grund für den Anstieg der Angst, den wir in den westlichen Industriestaaten - und da besonders stark bei Kindern - beobachten, ist in der Veränderung der zwischenmenschlichen Beziehungen zu sehen. Die Scheidungsrate steigt, die Menschen heiraten immer später, die Erstgebärenden werden immer älter, und die Geburtenrate ist niedrig. Allgemein nimmt die soziale Verbundenheit ab - der wichtigste Schutzfaktor für das Individuum überhaupt.
Warum ist das so?
Margraf: Das hat mit gesellschaftlichen Werten und Normen, mit ökonomischen, aber auch mit psychologischen Faktoren zu tun. Ich glaube nun wirklich nicht, dass daran eine Veränderung der Genetik schuld ist. Wenn ich etwas gegen diese Entwicklung tun will, dann muss ich auf der gesellschaftlichen Ebene ansetzen und wohl kaum mit Therapien und Medikamenten. Wenn es aber aufgrund unserer Forschung neue Medikamente gibt, ist das auch eine gute Sache. Denn auch die Medikamente können noch deutlich verbessert werden, weil sie in Bezug auf Nebenwirkungen und Abhängigkeiten Probleme machen. Es hat in diesem Bereich seit Jahrzehnten keine grossen Fortschritte gegeben. In erster Linie geht es uns aber darum zu verhindern, dass das Kind überhaupt in den Brunnen fällt.
Und das schaffen Sie mit der Beobachtung von 15 000 Menschen über drei Generationen hinweg?
Magraf: Wir hoffen, die Exzesse, wie krankhafte Depressionen, in den Griff zu bekommen. Um normale Durchhänger, die wie die Grippe zu unserm Leben gehören, geht es nicht. Es ist aber wichtig zu verstehen, wie solche Durchhänger entgleiten. Vermutlich spielen sich in diesen Fällen Aufschaukelungsprozesse ab. Es ist sicher nicht so, dass die betroffenen Personen grundsätzlich anders als andere Menschen sind.
Und bei diesen Aufschauklungsprozessen spielen dann die biologischen, genetischen, psychologischen und sozialen Faktoren eine Rolle?
Margraf: Genau. Das macht es so schwer, hier voranzukommen. Deshalb Sesam, wo zum Beispiel die Kollegen von der Soziologie mit jenen von der Molekulargenetik zusammenarbeiten. Da hatten wir mit unserem Projekt zunächst das Problem, dass es gesellschaftliche und wissenschaftliche Moden gibt. Gegenwärtig ist es gerade in, nicht auf die Gesellschaft, sondern auf das Individuum zu gucken. Und beim Individuum guckt man auf die Biologie und nicht auf psychosoziale Anteile. Konkret hält man derzeit grosse Stücke auf Gehirnbilder. Man sucht nach dem Gottesgen und behauptet, weil in einem spezifischen Teil etwas leuchtet, nun zu wissen, weshalb der Mensch religiös ist. Das ist Unfug. Natürlich «leuchtet» etwas im Gehirn beim Denken. Aber das ist doch keine Ursache, sondern eine Korrelation. Und weil dies gerade Mode ist, ist es auch einfacher, dafür Geld zu erhalten als für die Soziologie. Das Besondere an Sesam ist nun, dass wir all die Disziplinen zusammenbringen.
Dem Nationalfonds, Ihrem Hauptgeldgeber, wird vorgeworfen, Naturwissenschaften gegenüber Geisteswissenschaften zu bevorzugen. Sesam erhielt nicht zuletzt wegen dieser Kritik den Zuschlag, worauf es wiederum hiess, Ihr Projekt sei eigentlich auch hauptsächlich naturwissenschaftlich.
Margraf: Das ist das Problem, wenn man interdisziplinär arbeitet. In Sonntagsreden wird dieser Begriff immer wieder beschworen. In der Realität sind weder die Unis noch die Forschungsförderungen dieser Welt entsprechend organisiert.
Wie haben Sie die unterschiedlichen Forscher eigentlich zusammengebracht?
Margraf: Einfach wars nicht, wie überhaupt die ganze Vorarbeit weit aufwendiger war, als man sich vielleicht vorstellt. Aber die Einsicht, dass wir dieses wichtige Projekt nur gemeinsam in Angriff nehmen können, hat sich rasch durchgesetzt. Natürlich war und ist es für den einen oder anderen Forscher, der auf seinem Gebiet eine Kapazität ist, nicht ganz einfach, sich von einem Kollegen einer anderen Disziplin dreinreden zu lassen. Doch ist es unumgänglich, dass man sich bei einer Haupt- und zwölf Teilstudien immer wieder rückvergewissert. Dafür haben wir ein internes Begutachtungssystem. Bisher hats sehr gut geklappt. Die nächste Nagelprobe steht bevor, wenn dann die ersten Daten erhoben und ausgewertet werden.
Das heisst, wenn die 3000 Schwangeren rekrutiert sind. Ab wann werden diese gesucht?
Margraf: Wir werden in den nächsten Wochen, sobald wir die Vorgaben der EKBB umgesetzt haben, mit den Vorstudien beginnen können. Vorerst nur in Basel, weil in Bern, Zürich, Lausanne und Genf die dortigen Ethikkommissionen erst noch entscheiden müssen. Sobald wir überprüft haben, ob unsere Übungsanlage perfekt ist, sprechen wir Schwangere an, die in Frauenspitälern zu Routineuntersuchungen kommen, und fragen sie auch, ob wir den Vater und ihre Eltern einbeziehen dürfen. Danach fragen wir den Vater, ob wir seine Eltern kontaktieren dürfen. Ist alles geklärt, beginnen wir mit den Untersuchungen.
Wie muss man sich diese Untersuchungen genau vorstellen?
Margraf: Im Zentrum stehen die Mutter und ihr Kind. Während der Schwangerschaft haben wir zwei Untersuchungszeitpunkte. Dann schauen wir, wie die Geburt verlaufen ist. Denn daraus lassen sich wichtige Schlüsse ziehen. Eine Kollege, der bei Sesam dabei ist, hat zum Beispiel nachgewiesen, dass schwierige Geburten, die sowohl Mutter und Kind belasten - und ein wenig auch den Vater, wie ich aus eigener Erfahrung weiss -, zu bestimmten Interaktionsmustern führen, die noch Jahre später festgestellt werden können. Danach sehen wir die Familien, wenn die Kinder sechs, zwölf und 24 Monate alt sind, bevor wir auf einen Zwei-Jahres-Rhythmus wechseln. Dabei geht es um Meilensteine der Entwicklung, also wann die Kinder zum ersten Mal sprechen, sitzen und gehen.
Was machen Sie mit den Kindern?
Margraf: In den ersten Lebensjahren studieren wir ihr Verhalten und ihr Umfeld, stellen etwa fest, wo und wie sie wohnen, ob es dort zum Beispiel wegen des Verkehrs laut und ob die Luft schlecht oder gut ist. Uns interessiert aber auch die Feinfühligkeit der Mütter. Nehmen sie wahr, was das schreiende Kind will? Sehr wichtig sind auch der Umgang mit alltäglichen Anforderungen und die gegenseitige Unterstützung zwischen Generationen.
Dazu sprechen Sie mit Müttern, Vätern und Grosseltern?
Margraf: Wir fragen nach besonderen Ereignissen, nach dem Umgang mit Stresssituationen und vielem mehr. Die Grosseltern interviewen wir weniger oft, was aber vorab pragmatische, sprich finanzielle Gründe hat. Wichtig sind ihr Wohlbefinden, ihre Werte, ihre Gesundheit - und welchen Einfluss das nun auf die Eltern und die Kinder hat. Umgekehrt aber auch, welchen Einfluss die Eltern und die Kinder auf die Grosseltern haben.
Wie aussagekräftig kann Sesam überhaupt werden? Sie müssen ja zum Beispiel in jenen Fällen eingreifen, wo eine akute Gefährdung besteht.
Margraf: Das ist klar. Auch bei Offizialdelikten wie häuslicher Gewalt sind wir verpflichtet einzugreifen. Bei normalen Problemen müssen wir das aber nicht. Denn die haben wir alle. Menschen bewältigen ihre Probleme meist selbst. Geht es um körperliche Probleme, so werden wir die nicht feststellen können, wenn sie genetisch bedingt sind. Weil wir die dafür erforderlichen Gentests nicht machen.
Die Sesam-Probanden wissen, dass sie an einer Untersuchung teilnehmen. Beeinflusst das nicht zwangsläufig das Ergebnis?
Margraf: Da hat man internationale Erfahrungswerte, mit denen man dieses Phänomen beurteilen kann. Zudem fragten wir Kollegen, die Erfahrung mit Langzeitstudien haben, wie ihre Teilnehmer reagiert haben. Die Antwort: neutral bis positiv. Nicht wenige hätten ihr Mehrwissen zur Verbesserung der eigenen Situation genutzt - oder schlicht vergessen, dass sie überhaupt teilgenommen haben.
Wie repräsentativ für die Schweizer Bevölkerung wird Sesam sein?
Margraf: Unsere Stichprobe kann nicht repräsentativ sein: Die Teilnahme ist freiwillig, wir arbeiten mit Frauenspitälern zusammen, wo längst nicht alle Schwangeren zur Vorsorge hingehen, und die Probanden müssen über einigermassen gute Deutsch- oder Französischkenntnisse verfügen, damit sie die Fragebögen ausfüllen können. Aber wir machen ja auch keine Quer-, sondern eine Längsschnittstudie. Und da versucht man in die Zukunft gerichtet zu schauen, wie sich Menschen entwickeln. Entscheidend dabei ist, wie viele bis zum Schluss dabeibleiben. Wir erwarten, dass es über 70 Prozent sein werden.
Und wo werden Sie in 20 Jahren sein?
Margraf: Im Ruhestand - und hoffentlich mit Neugier verfolgen, was die Jüngeren Spannendes tun.
patpatpat - 28. Mär, 09:35
In der Neuen Zürcher Zeitung vom 14.02.2007 auf Seite 17:
Die Risiken des Fragebogens - Der Psychologe Jürgen Margraf zum Nutzen des «Sesam»-Projekts
Das Nationalfondsprojekt «Sesam» steht in der Kritik, bevor es richtig begonnen hat. Die Angemessenheit des Verhältnisses von Risiko und Nutzen für die teilnehmenden Kinder wird in Frage gestellt. Für den Direktor von «Sesam», den Psychologen Margraf, hängen die Bedenken mit falschen Vorstellungen über die Art der Forschung zusammen.
hof. Das Ziel des Nationalen Forschungsschwerpunktes «Sesam» ist ehrgeizig. Und um es zu erreichen, bedarf es eines langen Atems. Psychologen, Psychiater, Soziologen und Mediziner wollen die psychische Entwicklung von 3000 Kindern ab der 20. Schwangerschaftswoche bis zum 20. Lebensjahr erforschen. Mit einbezogen werden auch deren Eltern und Grosseltern (siehe Kasten). Das vom Schweizerischen Nationalfonds, der Universität Basel und Privaten (unter anderem der Pharmaindustrie) finanzierte Projekt steht seit seiner Lancierung vor etwas mehr als einem Jahr in der Kritik. Die Forschung an Kindern erzeugt Bedenken, zum Teil auch fundamentale Ablehnung. Der Ethikkommission beider Basel, die das Studiendesign von «Sesam» zurzeit begutachtet, wurde eine von 12 000 Menschen unterschriebene Petition überreicht, die den Kommissionsmitgliedern rät, «Sesam» den Riegel zu schieben. Für Jürgen Margraf, Direktor von «Sesam» und Basler Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie, ist die Kritik kaum nachvollziehbar. Seiner Meinung nach gründet sie wesentlich auf falschen Vorstellungen über die Art der Forschung. Das Risiko für die Studienteilnehmer sei minimal, der Nutzen - insbesondere für die Allgemeinheit - umso grösser.
Stolze Studienteilnehmer
Risiken und Nutzen müssen bei der Forschung am Menschen in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen. Ein kleiner Forschungsnutzen darf nicht mit einem für die Versuchsperson grossen gesundheitlichen Risiko einhergehen. Bei «Sesam» können Risiken für die Kinder und deren Angehörige in erster Linie bei der Erhebung der Daten entstehen. Die Teilnehmer der Studie werden beobachtet, sie füllen Fragebogen aus (selbstverständlich erst dann, wenn sie dazu fähig sind), führen Gespräche mit den Forscherinnen, es werden Blut- und Speichelproben genommen und bei den Ungeborenen Ultraschalluntersuchungen durchgeführt.
Es gebe keine Hinweise dafür, dass das Ausfüllen von Fragebögen zu negativen Folgen führen würde, sagt Margraf zur Risikoabschätzung - im Gegenteil: «Die Menschen sind stolz auf ihren Beitrag zur Forschung, sie fühlen sich ernst genommen, und sie werden im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand positiv sensibilisiert. Dies zeigen uns verschiedenste Befragungen von Teilnehmern anderer vergleichbarer Studien.» Für diesen Befund spreche auch die hohe Teilnehmerrate bei lange dauernden Forschungen. Bei einer Schizophrenie-Studie, die die Menschen während 22 Jahren begleitete, hätten 90 Prozent bis zum Schluss mitgemacht. Margraf rechnet damit, dass bei «Sesam» die Rate von 70 Prozent übertroffen werden wird: «Es liegt ja in unserem eigenen Interesse, dass wir die Teilnehmer nicht verärgern.» Das Risiko liegt also möglicherweise weniger bei der Erhebungsmethode selber als vielmehr beim Schutz der erhobenen Daten. Dem sei man sich bewusst, sagt Margraf. Die Daten würden anonymisiert, und Dritte, wie etwa die Industrie, hätten keinen Zugang zu personenbezogenen Daten. Man halte sich selbstverständlich an die einschlägigen Gesetze. Das Recht, nichts über die eigenen Daten erfahren zu müssen, werde respektiert.
Nuckeln für die Speichelprobe
Wenn die Wissenschafter Blut- und Speichelproben nehmen, um etwa die DNA oder Stresshormone zu untersuchen, greifen sie allerdings direkt in die körperliche Integrität der Studienteilnehmer ein. Man werde sich daher bemühen, Blutentnahmen an ärztliche Routineuntersuchungen zu koppeln, sagt Margraf. Trotzdem werde es nicht zu vermeiden sein, separat etwas Blut zu nehmen. Das Risiko dabei sei klein, es könnte zu einer Entzündung kommen, die aber medizinisch ohne weiteres zu behandeln sei. Speichelproben würden bei älteren Personen mit dem Wattestäbchen von der Wangeninnenschleimhaut gestrichen. Das sei absolut risikolos. Neugeborene könnten diese Prozedur aber als unangenehm empfinden. Deshalb gebe man ihnen für eine Minute einen Wattestab zum Nuckeln. Bei den Ungeborenen werden Ultraschalluntersuchungen durchgeführt, die ohnehin zur Routine während der Schwangerschaft gehörten. Herzschläge des Fötus könnten mit einer neuen Methode aus dem Elektrokardiogramm der Mutter errechnet werden.
Da die Risiken für die Studienteilnehmer - insbesondere auch für die Kinder und Ungeborenen - nach Ansicht von Margraf ausserordentlich gering sind, muss im Grunde auch der kurzfristige Nutzen für die Teilnehmenden nicht allzu hoch veranschlagt werden, um «Sesam» als vertretbar einstufen zu können. Margraf erkennt den Gewinn für die Teilnehmer selber vor allem in der Sensibilisierung für Fragen der psychischen Gesundheit und der gesunden menschlichen Entwicklung. Dies könne das Befinden der Einzelnen durchaus positiv beeinflussen: «Wissen ist die beste Grundlage der Prävention», sagt Margraf. Allerdings sei «Sesam» keine Interventionsstudie. Die Forscher dürften nur in Extremfällen eingreifen, etwa wenn sie bei einem Teilnehmer Suizidgefahr feststellen würden. In weniger gravierenden Fällen könne an das bewährte medizinische Versorgungsnetz verwiesen werden.
Keine Garantie für Ergebnisse
Zudem, betont Margraf, handle es sich bei «Sesam» um Grundlagenforschung. Und diese werfe in der Regel keinen direkten Nutzen für die Teilnehmer ab, sondern einen potenziellen und vor allem langfristigen für andere Menschen in einer vergleichbaren Situation. Bei der Grundlagenforschung im Gesundheitsbereich könne es nicht um Therapie gehen, sondern zunächst darum, die Verhältnisse besser zu verstehen. Diese Art von Forschung sei im Übrigen alltäglich. Margraf erwähnt als Beispiel die Pisa-Studie, mit der in regelmässigen Abständen die Fähigkeiten und Kenntnisse von Schülern gemessen werden.
«Unser vorrangiges Ziel besteht nicht darin, Psychopharmaka zu entwickeln. Vielmehr wollen wir ein besseres Verständnis der menschlichen Entwicklung und der seelischen Gesundheit erlangen», sagt Margraf. Daraus könnten Grundlagen für eine wirksame Prävention und für einen besseren Umgang mit psychischen Krankheiten erarbeitet werden. Diese Krankheiten müssten endlich entstigmatisiert werden, weil sie zu unserem Leben gehörten wie alle anderen Krankheiten auch. Doch was für jede Forschung gelte, treffe auch auf «Sesam» zu: «Im Voraus können wir keine bestimmten Ergebnisse garantieren.»
3000 Kinder und Mütter, 2000 Väter und 5000 Grosseltern
hof. Die Leitung des Nationalen Forschungsschwerpunktes «Sesam» rechnet damit, dass im Frühsommer mit der Rekrutierung der Studienteilnehmerinnen begonnen werden kann. Gesucht sind 3000 schwangere Frauen. Sie sollen von ihren Ärzten in der 12. Schwangerschaftswoche auf «Sesam» hingewiesen werden. Sie erhalten Informationsmaterial, und «Sesam»-Mitarbeiter, die über den Studienverlauf aufklären, stehen für Gespräche zur Verfügung. In der 16. Schwangerschaftswoche wird die Einverständniserklärung eingeholt. Ebenfalls muss das Einverständnis von den Verwandten erlangt werden. «Sesam»-Direktor Margraf rechnet damit, dass 2000 Väter und 5000 Grosseltern teilnehmen werden. Erste Datenerhebungen finden dann in der 20. Schwangerschaftswoche statt. «Sesam» (Swiss Etiological Study of Adjustment and Mental Health) will den Ursachen nachspüren, die zu einer gesunden psychischen Entwicklung beitragen. Man wisse, dass 50 Prozent aller psychischen Störungen bereits vor dem 14. Altersjahr begännen, sagt Margraf.
Trotzdem bestehe bis anhin ein ausgesprochener Mangel an diesbezüglicher Forschung im Kindes- wie auch im höheren Alter. «Sesam» ist international betrachtet nicht die einzige Studie ihrer Art. In England etwa läuft seit geraumer Zeit die «Avon Longitudinal Study of Parents and Children» (ALSPAC). Deren Ziel ist es, zu verstehen, wie das Zusammenspiel von Umwelt und Genen die Gesundheit, das Verhalten und die Entwicklung des Kindes beeinflusst. Das Besondere an «Sesam» sei, so Margraf, dass drei Generationen gleichzeitig erforscht würden, dass die Studie bereits während der Schwangerschaft beginne und dass erstmals biomedizinische, psychologische und sozialwissenschaftliche Experten eng zusammenarbeiten würden.
patpatpat - 14. Feb, 10:30
Jürgen Margraf im Magazin der Uni Basel vom November '06, das unter dem Motto "Neue Krankheiten, moderne Risiken" steht:
Die Vögel und die Furcht
Risiken werden ganz unterschiedlich wahrgenommen und bewertet. Die Psychologie kann mithelfen, zu erkennen, welches die wirklichen Gefahren sind, mit denen wir es zu tun haben.
In diesem Jahr sind in der Schweiz nach Schätzungen bereits rund tausend Menschen an Suizid gestorben, einige Hunderte bei Verkehrsunfällen, viele an der Immunschwächekrankheit Aids und andere an der ganz «normalen» Grippe – aber noch niemand an der Vogelgrippe (Stand: Oktober 2006). Warum fürchten viele Menschen dann eigentlich die Vogelgrippe mehr als die normale Grippe, den Autoverkehr oder den Suizid? Wer in diesem Sommer in der Internet-Suchmaschine Google das Stichwort «Vogelgrippe» eingab, stiess auf über 5,6 Millionen Einträge; der ursprüngliche Begriff «Geflügelpest» ergab noch 1,1 Millionen Treffer. Bei der Beschäftigung mit Risiken sind drei verschiedene Ebenen auseinander zu halten: erstens die fachlich-technische Risikoanalyse, zweitens die Psychologie und die individuelle Wahrnehmung des Risikos – davon soll hier vor allem die Rede sein – und drittens die Soziologie des Risikos, auf deren Ebene die soziale Wertedebatte etwa über die Themen Freiheit und Schutz stattfindet.
Die Psychologie hat die Mechanismen der Risikowahrnehmung systematisch erforscht. Ihre Erkenntnisse können uns helfen, die wichtigen von den weniger wichtigen Gefahren zu unterscheiden und unser Verhalten danach auszurichten.
Begrenzte Rationalität
Bei der Risikowahrnehmung geht die Psychologie von einigen wenigen Grundregeln aus, die auf ein Individuum oder eine Gesellschaft prägend wirken. Eine davon ist, dass wir vor dem Hintergrund unserer jahrtausendealten Entwicklungsgeschichte nur begrenzt rational funktionieren: So wurden die Vorfahren des heutigen Menschen vor rund 120’000 Generationen zu Jägern und Sammlern, vor 500 Generationen entstand die Landwirtschaft, vor zehn Generationen brach das Industriezeitalter an und erst seit einer Generation stehen uns Fernsehen und Computer zur Verfügung. Anzunehmen ist also, dass die früheren Menschheitsepochen der Jäger und Sammler unser Denken und Verhalten viel stärker beeinflussen, als uns bewusst ist.
Eine andere psychologische Grundregel lautet, dass wir mit verschiedenen Gefahren und Risiken vollkommen unterschiedlich umgehen: Wir unterschätzen alltägliche, bekannte und freiwillige Risiken, und umgekehrt überschätzen wir aussergewöhnliche, unbekannte und unfreiwillige Risiken. So kommt es im Alltag regelmässig zu falschen Risikoeinschätzungen.
Befragt nach den drei grössten heutigen Todesrisiken, nannten zum Beispiel Laien in einer Untersuchung Asbest, Giftmüll und starke Medikamente. Aus der Sicht von Fachleuten standen dagegen ganz andere Risiken im Vordergrund, nämlich Rauchen, Bewegungsmangel und Spirituosen. Oder: Wir fürchten uns mehr vor dem Seiltanzen als vor dem Autofahren, vor übermässigem Essen oder Zigarettenkonsum. Dabei beträgt heute die mittlere Verringerung der Lebenserwartung durch starkes Rauchen mehrere Jahre (6,6 Jahre beim Mann, 3,9 Jahre bei der Frau), durch Übergewicht 2,8 Jahre, durch Auto- und Motorradfahren ein halbes Jahr und durch Seiltanzen nur rund vier Monate.
Medieneinfluss
Unsere Risikowahrnehmung wird stark von den Massenmedien beeinflusst. Nicht nur Fernsehen und Radio wirken auf unsere Bewertungen und damit unser Verhalten in Bezug auf Risiken ein, sondern auch Zeitungen und Zeitschriften: Auf der Frontseite der «New York Times» fanden sich zum Beispiel 138 Artikel über Flugzeugabstürze pro tausend (US-amerikanische) Tote; dagegen erschienen nur 0,2 Artikel über Krebs pro tausend Krebstote in den USA und 1,6 Artikel über Gewaltkriminalität pro tausend Mordopfer. So erstaunt es nicht, dass nach dem Absturz einer DC-10 im Jahr 1989 die Buchungen für diesen Flugzeugtyp in den ersten zwei Wochen um 35% zurückgingen – während der Zigarettenverkauf in der Schweiz in den ersten zwei Wochen nach dem Gesundheitswarnungs- Aufdruck fast gar nicht zurückging und auch über das gesamte erste Jahr nur um gerade 3% abnahm. Oft entwickeln sich Schlagzeilen aus eher unscheinbaren Kurzmeldungen, die zunächst nur auf den hinteren Seiten Platz finden. Für den Medienkonsum charakteristisch ist auch die relativ kurze Aufmerksamkeitsspanne, also der beschränkte Zeitraum, in dem sich die durchschnittlichen Zeitungsleserinnen, Radiohörer und TV-Zuschauer für ein bestimmtes Phänomen interessieren. So zeigte sich in einer Studie für die Jahre 2000 und 2001 ein klarer Zusammenhang zwischen deutschen Fernsehnachrichten und dem Rindfleischkonsum der Bevölkerung: Als im Herbst 2000 die Zahl der monatlichen TV-Beiträge von null auf über 300 stieg, brach der Rindfleischkonsum auf weniger als einen Drittel des früheren Werts ein. Dieser wurde dann in etwa wieder im Herbst 2001 erreicht, nachdem die Fernsehbeiträge wieder auf nahezu null zurückgegangen waren.
Unsichtbare Killer
Kurz: So genannte «slow killers», die alltäglichen und langsam voranschreitenden Gefahren und Risiken, sind in den Medien klar unterrepräsentiert. Dabei haben die Medien für den individuellen Umgang mit Risiken eine Verstärkerfunktion, das heisst, sie beeinflussen sowohl die Wahrnehmung wie auch das Bewerten und Handeln in Bezug auf Risiken. Das lässt sich bereits auf der Ebene der einfachen Wortwahl zeigen: Der in kurzer Zeit in den Medien verbreitete Begriff «Vogelgrippe» für das eigentlich alte Phänomen der Geflügelpest etwa suggeriert die Neuheit und zugleich die Nähe der Gefahr – da Vögel und Grippe überall vorkommen, kann man sich wohl kaum dagegen schützen, denkt der besorgte Zeitgenosse. Die Risikowahrnehmung beeinflusst auch unsere Verteilungsentscheidungen. Da die Ressourcen immer begrenzt sind, sind Entscheidungen über Verteilungen unausweichlich. Solche Entscheidungen werden besser explizit und wissensbasiert als implizit und ohne Wissensbasis vorgenommen. So sind lebensrettende Massnahmen unterschiedlich teuer: In einer US-Studie betrugen die durchschnittlichen Kosten (Median) pro gerettetes Lebensjahr für den Bereich Umwelt 4200 Dollar, Arbeitsplatz 350 Dollar, Verkehr 56 Dollar, Wohnung 36 Dollar und Gesundheitswesen 19 Dollar. Falsche Reaktionen auf Risiken können ernsthafte Folgen haben: So erhöhte sich in den USA die Zahl schwerer Verkehrsunfälle nach dem 11. September 2001 deutlich, da viele Menschen vom vermeintlich gefährlichen Flugzeug auf das Auto umstiegen. Im ersten Halbjahr nach 9/11 waren auf den Strassen fast tausend zusätzliche schwere Unfälle zu verzeichnen. Die Lehre daraus: Der beste Schutz vor falschen Risiken besteht darin, Risiken allgemein richtig zu verstehen.
Prof. Jürgen Margraf ist Direktor des Nationalen Forschungsschwerpunkts sesam und Ordinarius für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Basel.
patpatpat - 5. Feb, 10:06
Die Volkshochschule beider Basel hat die Zusammenfassung von Margrafs Vortrag online gestellt. Hier deren Inhalt:
Das Projekt "sesam" - Menschliche Entwicklung und seelische Gesundheit verstehen
Prof. Dr. rer. soc. Jürgen Margraf
Zusammenfassung
Gesundheit ist für die meisten Menschen das höchste Gut. Viele Menschen empfinden dies mit zunehmendem Alter immer stärker. Gleichzeitig liegen die Wurzeln der Entwicklung zu Gesundheit und Krankheit häufig in der Kindheit und Jugend, wobei Familie und Umwelt über die ganzen Lebensspanne einen wichtigen Einfluss haben. Dies gilt auch für seelische Erkrankungen, an denen weltweit immer mehr Menschen leiden. Die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit, im Laufe des Lebens an einer seelischen Störung zu erkranken, liegt in der Schweiz derzeit bei über 40%. Der grosse Einfluss seelischer Störungen wie beispielsweise der Depression zeigt sich auch beim Vergleich der Todesfälle durch Verkehrsunfälle und Suizide: Im Jahre 2002 standen in der Schweiz 543 Verkehrstoten (Strasse und Schiene) 1546 Suizide gegenüber.
Was sind die Ursachen und Auslöser von seelischen Störungen wie Depressionen, belastenden Ängsten oder Süchten? Welche Risikofaktoren begünstigen ihren Ausbruch, welche Schutzfaktoren wirken ihnen entgegen? Obwohl diese Fragen von grösster Bedeutung sind, kann die Forschung sie heute noch nicht zufrieden stellend beantworten. Zwar sind viele Einflussfaktoren bekannt, aber es fehlen wissenschaftlich fundierte Befunde über ihre genaue
Wirkung und vor allem ihr gegenseitiges Zusammenwirken. Dieses Wissen ist jedoch die Voraussetzung für die Entwicklung wirkungsvoller Strategien zur Vorbeugung und Behandlung im Bereich der seelischen Gesundheit.
Der Nationale Forschungsschwerpunkt sesam wurde vom Bundesrat im Jahr 2005 ins Leben gerufen, um die komplexen Ursachen zu erforschen, die zu seelischer Gesundheit oder Krankheit führen. Das Programm Nationale Forschungsschwerpunkte (NFS) des Schweizerischen Nationalfonds fördert langfristig angelegte Forschungsvorhaben zu Themen von strategischer Bedeutung für die Zukunft der schweizerischen Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft.
Drei Hauptaspekte prägen die NFS: exzellente und international sichtbare Forschung, Wissens- und Technologietransfer, Ausbildung und Frauenförderung. Zudem sollen die NFS zur besseren Strukturierung der schweizerischen Forschungslandschaft beitragen.
sesam arbeitet mit einem Netzwerk von Wissenschaftlern aus dem In- und Ausland und kooperiert mit Spitälern in der ganzen Schweiz. Die Heiminstitution des NFS ist die Universität Basel, viele weitere Universitäten kooperieren.
Die Abkürzung "sesam" steht für "swiss etiological study of adjustment and mental health", was mit "Schweizerische Ursachenstudie zu seelischer Gesundheit und Anpassung" übersetzt werden kann. sesam möchte dazu beitragen, menschliche Entwicklung und seelische Gesundheit besser zu verstehen. Dazu begleitet die interdisziplinäre Studie 3000 Kinder und ihre Familien über 20 Jahre, beginnend ab Frühling 2007. Dabei kommt der älteren Generation eine besondere Bedeutung zu. In der mitteleuropäischen Gesellschaft ist das drei-Generationen-Haus selten geworden: Grosseltern werden aus einer Vielzahl von Gründen (immer) weniger in die Erziehung der Enkelkinder einbezogen. Gleichzeitig leben Menschen heute länger und haben damit auch Erwachsene eine viel grössere Chance, noch mit ihren Grosseltern gemeinsam auf der Welt zu sein. Während im Jahr 1900 nur 2% aller 20jährigen lebende Grosseltern hatten, sind dies heute 76%! Grosseltern können das Aufwachsen der Enkel wesentlich bereichern. Und auch umgekehrt kann gelten, dass eine nahe Beziehung zu ihren Kindern und Enkeln die Senior/innen länger jung erhält und zu ihrer Lebenszufriedenheit beiträgt. In sesam wird daher u.a. erforscht, welche Rolle Grosseltern bei der Erziehung oder Transferleistungen zwischen Generationen spielen. Ebenso wird die Frage untersucht, welchen Einfluss grosselterliche Unterstützung auf die psychische Gesundheit aller drei Generationen hat.
Die wichtigsten Ziele, die sesam erreichen möchte, lauten:
- gesundheitsfördernde und schützende Faktoren identifizieren
- kritische Konstellationen im Lebenskontext verstehen, die einer gesunden seelischen Entwicklung entgegenstehen
- zur Entstigmatisierung seelischen Störungen beitragen
- Grundlagen für die Entwicklung wirksamer Prävention, Behandlung und Bewältigungsstrategien bei seelischen Krankheiten und Lebenskrisen entwickeln
Der Vortrag informiert über die Hintergründe und Vorgehensweisen der sesam-Studie unter besonderer Berücksichtigung der älteren Generation.
patpatpat - 28. Dez, 11:00