BaZ vom 14.3.08: «Eine verpasste Chance für Basel»
«sesam»-Leiter Jürgen Margraf sucht nach Erklärungen für das Scheitern der Studie
Interview: Markus Kocher, Stefan Stöcklin
Der Schock war gross, als die «sesam»-Leitung gestern Nachmittag die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über den Entscheid informierte, die «sesam»-Kernstudie einzustellen. Wenig später trat der «sesam»-Leiter Jürgen Margraf vor die Presse.
baz: Herr Margraf, wann kam bei Ihnen die Erkenntnis, dass es Ihnen nicht gelingen wird, genügend Teilnehmerinnen für die «sesam»-Studie zu mobilisieren?
Jürgen Margraf: So richtig erst im Februar. Nachdem wir bereits im November letzten Jahres merkten, dass die Rekrutierung nicht wunschgemäss verläuft, leiteten wir korrigierende Massnahmen ein. Nachdem es im Februar erneut stockte, wollten wir mit einer Alternativstrategie reagieren, die dann aber nicht mehr zur Anwendung kam.
Worin bestand diese Strategie?
Wir wollten auch Frauen nach der Geburt des Kindes für die Studie gewinnen und uns nicht nur auf Schwangere beschränken. Wie viele Schwangere hätten Sie gebraucht, um das Projekt weiterverfolgen zu können? Für Basel waren 20 bis 25 Frauen pro Monat vorgesehen, um den wegen der langen Vorgeschichte bereits sehr eng gewordenen Zeitrahmen einhalten zu können. In den Standorten Bern und Basel einschliesslich Bruderholz wären also etwa 100 Frauen nötig gewesen. Leider ist uns das nicht gelungen.
Wie viele sind es also unter dem Strich?
Bis heute haben sich 17 Frauen entschlossen, bei der Kernstudie mitzumachen. Vier weitere haben ihre Teilnahme für heute angekündigt, und letzte Woche, nach der Berichterstattung in Ihrer Zeitung, haben sich weitere sieben Frauen gemeldet.
Betreffen die Zahlen die ganze Schweiz?
Ja, wobei in Bern das Projekt erst seit Mitte Januar läuft. Die Erfahrungen aus Bern waren für uns wichtig, um herauszufinden, ob das Projekt ausserhalb von Basel, wo «sesam» besonders kontrovers diskutiert wird, anders ankommt. Doch die Rekrutierung verlief ähnlich schleppend. Am Montag hat dann die «sesam»-Leitung den Beschluss gefasst, die Kernstudie zu sistieren.
War das ein einstimmiger Beschluss?
Ja, es waren alle Mitglieder dabei. Der Beschluss fiel einstimmig.
17 Frauen. Die Zahlen erstaunen selbst Skeptiker. Haben Sie Erklärungen für das schlechte Abschneiden?
Darüber haben wir uns natürlich auch Gedanken gemacht. Unsere Befragungen haben ergeben, dass die meisten Schwangeren vom Projekt «sesam» noch nie etwas gehört hatten. Die ganze ethische Debatte, die in den Medien gross geführt wurde, war also an ihnen vorbeigegangen und hatte kaum einen Einfluss auf ihre Entscheidung. Den meisten Frauen war der Aufwand schlicht zu gross, auch wegen der Tatsache, dass die Studie auf einen Zeitraum von 20 Jahren angelegt war. Trotzdem wäre eine positivere Berichterstattung in den Medien hilfreich gewesen.
Sie meinen, das hätte mehr Leute bewogen, an der Studie teilzunehmen?
Es hat uns indirekt geschadet, weil wir durch die Sensibilisierung viele Auflagen bekommen haben. Das hat es uns sehr schwer gemacht. Aus der Teilnehmerbroschüre zum Beispiel ist fast alles rausgenommen worden, was irgendjemanden hätte dazu motivieren können, mitzumachen.
Haben Sie die Schwangeren nicht einfach falsch eingeschätzt?
Das ist in der Tat so. Wir hätten das auch ganz anders erwartet.
Warum haben Sie denn keine Pilotstudie durchgeführt, um das auszutesten?
Das wollten wir. Die Ethikkommission wollte die Vorstudie aber erst nach der Kernstudie begutachten. So blieb zu wenig Zeit, die Erkenntnisse, die wir aus der Vorstudie gewonnen hätten, auch zu nutzen.
Ist da nicht sehr viel Geld in den Sand gesetzt worden? Unseren Berechnungen zufolge sind es 10 Millionen.
Das stimmt nicht. Bis jetzt wurden gesamthaft 8,3 Millionen ausgegeben, davon etwa 40 Prozent für die Kernstudie. Unterm Strich sind das rund 3,5 Millionen Franken, für die wir aber durchaus auch einen materiellen und wissenschaftlichen Gegenwert erhalten haben.
Wie sieht die Zukunft von «sesam» aus?
Der Antrag, die Kernstudie zu sistieren, ist gestellt. Die Teilstudien mit unabhängigen Stichproben sollen aber weitergeführt werden. Dadurch wird die ganze Anlage erheblich schlanker, was allerdings bedeutet, dass nicht alle Mitarbeiter dabeibleiben können.
Was bedeutet das Ende von «sesam» für Sie als Mensch und Wissenschaftler?
Was ich fühle, ist Enttäuschung und Trauer. Es ist wie ein Kind, von dem man sich verabschiedet. Und als Wissenschaftler denke ich, dass das eine verpasste Chance für Basel ist. Gleichzeitig ist aber auch das Gefühl da, etwas lernen zu können. Würde ich nochmals von vorne anfangen, würde ich einiges anders machen. Zum Beispiel war die Studie stark interdisziplinär angelegt – was mir persönlich eine Herzensangelegenheit ist, uns jedoch punkto Entscheidungen aber wieder unbeweglich machte. Fazit: Ich würde es deutlich schlänker halten und nicht so viele verschiedene Akteure beteiligen.
Aus für «sesam» – und wie geht es jetzt weiter?
Datenverlust
Die Kernstudie von «sesam» – eine auf 20 Jahre angelegte Untersuchung der psychischen Entwicklung von 3000 Kindern ist mangels Zuspruchs nicht durchführbar. Es bleiben aber immerhin noch einige unabhängige Teilstudien bestehen, die vom Entscheid der «sesam»-Leitung, die Kernstudie zu sistieren, nicht betroffen sind. Ob sie aber auch alle zu Ende geführt werden, ist laut «sesam»-Leiter Jürgen Margraf noch nicht entschieden. Auf gutem Kurs sind: die Teilstudien über das Befinden in der Schwangerschaft, Schwangerschaft und psychische Störungen, Neurotizismus, Blinzelreaktion, die Familienprozesse, Untersuchungen zur Präeklampsie, Studien über das autonome Nervensystem, die Entwicklung einer Datenbank sowie die Vorstudie zum autobiografischen Gedächtnis. Die bis jetzt im Rahmen der Kernstudie erhobenen Daten der 17 teilnehmenden Frauen würden nicht mehr weiter verwendet und gelöscht, sofern die Frauen dem zustimmen, so Jürgen Margraf.
Interview: Markus Kocher, Stefan Stöcklin
Der Schock war gross, als die «sesam»-Leitung gestern Nachmittag die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über den Entscheid informierte, die «sesam»-Kernstudie einzustellen. Wenig später trat der «sesam»-Leiter Jürgen Margraf vor die Presse.
baz: Herr Margraf, wann kam bei Ihnen die Erkenntnis, dass es Ihnen nicht gelingen wird, genügend Teilnehmerinnen für die «sesam»-Studie zu mobilisieren?
Jürgen Margraf: So richtig erst im Februar. Nachdem wir bereits im November letzten Jahres merkten, dass die Rekrutierung nicht wunschgemäss verläuft, leiteten wir korrigierende Massnahmen ein. Nachdem es im Februar erneut stockte, wollten wir mit einer Alternativstrategie reagieren, die dann aber nicht mehr zur Anwendung kam.
Worin bestand diese Strategie?
Wir wollten auch Frauen nach der Geburt des Kindes für die Studie gewinnen und uns nicht nur auf Schwangere beschränken. Wie viele Schwangere hätten Sie gebraucht, um das Projekt weiterverfolgen zu können? Für Basel waren 20 bis 25 Frauen pro Monat vorgesehen, um den wegen der langen Vorgeschichte bereits sehr eng gewordenen Zeitrahmen einhalten zu können. In den Standorten Bern und Basel einschliesslich Bruderholz wären also etwa 100 Frauen nötig gewesen. Leider ist uns das nicht gelungen.
Wie viele sind es also unter dem Strich?
Bis heute haben sich 17 Frauen entschlossen, bei der Kernstudie mitzumachen. Vier weitere haben ihre Teilnahme für heute angekündigt, und letzte Woche, nach der Berichterstattung in Ihrer Zeitung, haben sich weitere sieben Frauen gemeldet.
Betreffen die Zahlen die ganze Schweiz?
Ja, wobei in Bern das Projekt erst seit Mitte Januar läuft. Die Erfahrungen aus Bern waren für uns wichtig, um herauszufinden, ob das Projekt ausserhalb von Basel, wo «sesam» besonders kontrovers diskutiert wird, anders ankommt. Doch die Rekrutierung verlief ähnlich schleppend. Am Montag hat dann die «sesam»-Leitung den Beschluss gefasst, die Kernstudie zu sistieren.
War das ein einstimmiger Beschluss?
Ja, es waren alle Mitglieder dabei. Der Beschluss fiel einstimmig.
17 Frauen. Die Zahlen erstaunen selbst Skeptiker. Haben Sie Erklärungen für das schlechte Abschneiden?
Darüber haben wir uns natürlich auch Gedanken gemacht. Unsere Befragungen haben ergeben, dass die meisten Schwangeren vom Projekt «sesam» noch nie etwas gehört hatten. Die ganze ethische Debatte, die in den Medien gross geführt wurde, war also an ihnen vorbeigegangen und hatte kaum einen Einfluss auf ihre Entscheidung. Den meisten Frauen war der Aufwand schlicht zu gross, auch wegen der Tatsache, dass die Studie auf einen Zeitraum von 20 Jahren angelegt war. Trotzdem wäre eine positivere Berichterstattung in den Medien hilfreich gewesen.
Sie meinen, das hätte mehr Leute bewogen, an der Studie teilzunehmen?
Es hat uns indirekt geschadet, weil wir durch die Sensibilisierung viele Auflagen bekommen haben. Das hat es uns sehr schwer gemacht. Aus der Teilnehmerbroschüre zum Beispiel ist fast alles rausgenommen worden, was irgendjemanden hätte dazu motivieren können, mitzumachen.
Haben Sie die Schwangeren nicht einfach falsch eingeschätzt?
Das ist in der Tat so. Wir hätten das auch ganz anders erwartet.
Warum haben Sie denn keine Pilotstudie durchgeführt, um das auszutesten?
Das wollten wir. Die Ethikkommission wollte die Vorstudie aber erst nach der Kernstudie begutachten. So blieb zu wenig Zeit, die Erkenntnisse, die wir aus der Vorstudie gewonnen hätten, auch zu nutzen.
Ist da nicht sehr viel Geld in den Sand gesetzt worden? Unseren Berechnungen zufolge sind es 10 Millionen.
Das stimmt nicht. Bis jetzt wurden gesamthaft 8,3 Millionen ausgegeben, davon etwa 40 Prozent für die Kernstudie. Unterm Strich sind das rund 3,5 Millionen Franken, für die wir aber durchaus auch einen materiellen und wissenschaftlichen Gegenwert erhalten haben.
Wie sieht die Zukunft von «sesam» aus?
Der Antrag, die Kernstudie zu sistieren, ist gestellt. Die Teilstudien mit unabhängigen Stichproben sollen aber weitergeführt werden. Dadurch wird die ganze Anlage erheblich schlanker, was allerdings bedeutet, dass nicht alle Mitarbeiter dabeibleiben können.
Was bedeutet das Ende von «sesam» für Sie als Mensch und Wissenschaftler?
Was ich fühle, ist Enttäuschung und Trauer. Es ist wie ein Kind, von dem man sich verabschiedet. Und als Wissenschaftler denke ich, dass das eine verpasste Chance für Basel ist. Gleichzeitig ist aber auch das Gefühl da, etwas lernen zu können. Würde ich nochmals von vorne anfangen, würde ich einiges anders machen. Zum Beispiel war die Studie stark interdisziplinär angelegt – was mir persönlich eine Herzensangelegenheit ist, uns jedoch punkto Entscheidungen aber wieder unbeweglich machte. Fazit: Ich würde es deutlich schlänker halten und nicht so viele verschiedene Akteure beteiligen.
Aus für «sesam» – und wie geht es jetzt weiter?
Datenverlust
Die Kernstudie von «sesam» – eine auf 20 Jahre angelegte Untersuchung der psychischen Entwicklung von 3000 Kindern ist mangels Zuspruchs nicht durchführbar. Es bleiben aber immerhin noch einige unabhängige Teilstudien bestehen, die vom Entscheid der «sesam»-Leitung, die Kernstudie zu sistieren, nicht betroffen sind. Ob sie aber auch alle zu Ende geführt werden, ist laut «sesam»-Leiter Jürgen Margraf noch nicht entschieden. Auf gutem Kurs sind: die Teilstudien über das Befinden in der Schwangerschaft, Schwangerschaft und psychische Störungen, Neurotizismus, Blinzelreaktion, die Familienprozesse, Untersuchungen zur Präeklampsie, Studien über das autonome Nervensystem, die Entwicklung einer Datenbank sowie die Vorstudie zum autobiografischen Gedächtnis. Die bis jetzt im Rahmen der Kernstudie erhobenen Daten der 17 teilnehmenden Frauen würden nicht mehr weiter verwendet und gelöscht, sofern die Frauen dem zustimmen, so Jürgen Margraf.
sesaminput - 14. Mär, 15:55