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Donnerstag, 3. Mai 2007

"Facts" über sesam: "Massnehmen für das Seelenheil"

In der aktuellen Nummer berichtet Andrea Strässle von Facts über Sesam:

Kinder unter Beobachtung: Was braucht der Mensch für eine gesunde psychische Entwicklung?

Schweizer Wissenschaftler wollen 3000 Kinder samt Eltern und Grosseltern 20 Jahre lang intensiv ausforschen. Sie stossen auf heftigen Widerstand.

Stellen Sie sich vor: Es beginnt, als Sie sich, gerade mal 15 Zentimeter gross, im Mutterbauch räkeln. Forscher beugen sich über Ultraschallbilder von Ihnen, lauschen Ihren fötalen Herztönen. Später werden Sie Jahr für Jahr vermessen, untersucht, auf Herz und Hirn getestet. Während Sie dem ersten Schultag entgegenzittern, den ersten Liebeskummer durchleiden, ins Berufsleben einsteigen, werden Sie beobachtet, werden Essgewohnheiten, Fernsehkonsum und Sozialkompetenz säuberlich notiert. Nein, es geht weder um eine neue Big-Brother-Staffel noch um ein Sequel zum Film «The Truman Show». Das Szenario umschreibt das Schweizer Grossprojekt Sesam, das diesen Sommer starten soll. Psychologen, Neurowissenschaftler, Soziologen, Mediziner und Biologen wollen während 20 Jahren die gesundheitliche Entwicklung von 3000 Kindern ab der 20. Schwangerschaftswoche, von deren Eltern und Grosseltern verfolgen. Die Forscher treibt eine drängende Frage: Was braucht der Mensch für eine gesunde psychische Entwicklung?

Laut Weltgesundheitsorganisation werden Depressionen bis 2020 der zweithäufigste Grund vorzeitiger Sterblichkeit und massiver Lebensbeeinträchtigung sein. «Die Wahrscheinlichkeit, im Laufe des Lebens an einer psychischen Störung zu erkranken, liegt hier zu Lande bei 49 Prozent», sagt Sesam- Direktor Jürgen Margraf, Psychologe an der Universität Basel, Sesams Mutterhaus. Um Depressionen, Angst- oder Sucht– erkrankungen wirksam vorzubeugen und sie optimal zu behandeln, fehlt es an Wissen: Was sind Ursachen und Auslöser? Und vor allem: Was ist es, das die psychisch Gesunden gesund hält?

12 000 Protest-Unterschriften

Diese Wissenslücken will das in seiner Ausrichtung weltweit einzigartige Projekt Sesam füllen: mit Ultraschall, Verhaltensbeobachtungen, Tests zur geistigen und körperlichen Entwicklung, Speichel-, Blutund Urinproben, Interviews und Stapeln von Fragebögen. Wie oft haben Mutter und Säugling Blickkontakt? Wie oft sieht die Grossmutter ihre halbwüchsige Enkelin? Was isst der Bub zum Frühstück? All das könnte eine Rolle spielen und muss folglich protokolliert werden. Studienleiter Margraf hofft auf Daten von 3000 Kindern, 5000 Eltern und 7000 Grosseltern.

Ein derart ehrgeiziges Vorhaben sorgt für Aufregung. Im Laufe der bald zweijährigen Planungsphase schlug Sesam massive Kritik entgegen. Der Basler Appell gegen Gentechnologie sammelte 12 000 Unterschriften gegen das Projekt. «Kinder dürfen nicht zu Forschungsobjekten gemacht werden», hiess es im Petitionstext. «Forschung am Kind, die diesem keinen direkten Nutzen bringt, ist ethisch fragwürdig», sagt Gabriele Pichlhofer vom Basler Appell. Ein Beitrag des Pharmaunternehmens Roche in die Sesam-Kasse machte die Kritiker zusätzlich hellhörig. «Wer garantiert, dass die Daten – unter anderem sensible Erbgutinformationen – nicht plötzlich der Pharmaindustrie in die Hände fallen?», fragt Pichlhofer.

Sesam wird gar vorgeworfen, eine rechtliche Grauzone auszunützen. Das Projekt schaffe ein Präjudiz für das Humanforschungsgesetz, das unter anderem die Forschung an Kindern auf Bundesebene regeln will. Das Gesetz war letztes Jahr in der Vernehmlassung und dürfte frühestens 2010 in Kraft treten. Bis dahin lässt sich unter Juristen trefflich streiten, ob und unter welchen Bedingungen die so genannte drittnützige Forschung am Kind, wie Sesam sie plant, erlaubt ist oder nicht.

Bei all der Aufregung ist eines vergessen gegangen: Drittnützige Forschung am Kind ist Alltag in der Schweiz wie im Ausland, seit Jahrzehnten – und ohne dass sich bislang jemand daran gestört hätte. Tatsache ist: Was wir heute an gesichertem Wissen über die Entwicklung von Kindern haben, stammt grösstenteils aus ebensolchen Studien.

Ein Beispiel sind die Zürcher Langzeitstudien, die bislang bedeutendste Langzeituntersuchung zur kindlichen Entwicklung im deutschen Sprachraum: Seit 1954 untersuchen Wissenschaftler an über 700 Kindern die Entwicklung von der Geburt bis ins Erwachsenenalter. Protokollierten die Forscher am Anfang nur das Wachstum, kamen später auch Motorik, Sprache, Kognition, Blasen- und Darmkontrolle sowie das Schlafverhalten hinzu.

Der Erzieher der Nation

Während über drei Jahrzehnten leitete der Zürcher Kinderarzt Remo Largo das Projekt. Die Forschungsergebnisse speisten seine Bücher «Babyjahre» und «Kinderjahre», die ihn zum Erzieher der Nation machten. Für ihn ist klar: «Ohne die Zürcher Langzeitstudien gäbe es diese Bücher nicht.»

Largos Team zeigte erstmals, wie verschieden sich gesunde Kinder entwickeln. Ob ein Kind mit 11 Monaten schon durch die Stube tapst oder erst mit 17 Monaten gehen lernt, macht es keinesfalls zum Genie oder zum Spätzünder auf Lebenszeit. «Ist die Bandbreite des Normalen bekannt, entlastet das die Eltern von Normvorstellungen und verhindert unnötige erzieherische oder therapeutische Massnahmen», erklärt Largo.

Ein Blick über die Landesgrenze zeigt: Im englischen Sprachraum haben Langzeitstudien an Kindern eine besonders reiche Tradition. Grossbritannien lancierte seine erste nationale Geburtskohortenstudie mit sämtlichen Kindern, die innerhalb einer Märzwoche des Jahres 1946 zur Welt kamen. Sie gehört zu den am längsten laufenden Studien zur menschlichen Entwicklung weltweit. Ihre Ergebnisse prägen das britische Gesundheitswesen bis heute.

Auch die USA erkannten früh das Potenzial derartiger Entwicklungsstudien. Im Collaborative Perinatal Project (CPP) wurden zwischen 1959 und 1965 über 40 000 werdende Mütter rekrutiert und schon während der Schwangerschaft untersucht. Die Liste der Ergebnisse ist lang. Über 400 wissenschaftliche Veröffentlichungen basieren auf CPP-Daten – und immer noch kommen neue hinzu. Die Studie entdeckte zum Beispiel, dass Röteln bei Schwangeren zu schweren Geburtsschäden beim Kind führen kann. Weiter identifizierten die Forscher eine Reihe von Medikamenten, die das Ungeborene schädigen. Es zeigte sich, dass einer der Hauptauslöser von Frühgeburten eine Entzündung der Plazenta ist, dass die Ursachen für eine zerebrale Kinderlähmung häufiger in der Schwangerschaft als in der Geburt liegen – und vieles mehr.

Die derzeit grösste und am ehesten mit Sesam vergleichbare Langzeitstudie an Kindern läuft in der Region Avon in Grossbritannien: Das Projekt namens Alspac begleitet über 14 000 Kinder, die Anfang der Neunzigerjahre geboren wurden, und deren Eltern. Unter dem Slogan «Working towards a better life for future generations» will Alspac möglichst alle sozialen, psychologischen, umweltabhängigen und genetischen Einflüsse auf die Entwicklung von Kindern aufdecken. Die Ausbeute ist reich: Über 260 wissenschaftliche Publikationen sind bisher veröffentlicht worden. Beispielsweise zeigte die Studie, dass Schlafen in Bauchlage das Risiko für den plötzlichen Kindstod erhöht. Nach Informationskampagnen sanken die Fälle von plötzlichem Kindstod in Grossbritannien um mehr als die Hälfte. «Derartige Zusammenhänge lassen sich ohne Langzeitstudien nur schwer dokumentieren», sagt Dieter Wolke von der Universität von Warwick, ehemaliger stellvertretender Direktor von Alspac und Mitantragsteller von Sesam.

Weitere Ergebnisse von Alspac: Die Einnahme des Schmerzmittels Paracetamol im letzten Schwangerschaftsdrittel erhöht das Risiko, dass das Kind an einer frühen Form von Asthma erkrankt. Gestillte Kinder haben einen tieferen Blutdruck. Kinder, die früh in den Kindergarten kommen, entwickeln sich genauso gut wie Kinder, die länger bei der Mutter bleiben. Nicht zu viele Kalorien, sondern zu wenig körperliche Aktivität sind hauptverantwortlich für Übergewicht. Und Kinder in ausserordentlich sauberen Haushalten entwickeln eher Asthma.

Aufschrei der Empörung

Im Alspac-Programm findet selbst jene Forschung problemlos statt, über die Sesam beinahe gestolpert wäre: Die Engländer beziehen – mit dem Einverständnis der Eltern – die genetischen Daten ihrer Teilnehmer mit ein. Aus Blutzellen von Mutter und Kind züchten die Wissenschaftler Zelllinien, die einen unerschöpflichen Vorrat an DNA garantieren.

In der Schweiz führten ähnliche Pläne zu einem Aufschrei der Empörung: Eltern hätten kein Recht, das Erbgut ihrer unmündigen Kinder für Forschungszwecke freizugeben. Das ganze Projekt drohte in einem einzigen Tumult um die Reizwörter «Kind» und «Gen» zerfetzt zu werden.

Erst eine besonnene Entscheidung der Ethikkommission beider Basel brachte das schlingernde Schiff wieder auf Kurs. Das Gremium genehmigte das Projekt Sesam samt DNA-Untersuchungen, erlaubt diese aber nur an Erwachsenen. Wollen die Sesam-Forscher nebst der Eltern-DNA auch das Erbgut der Sprösslinge analysieren, müssen sie sich bis zu deren Volljährigkeit und Einverständnis gedulden. Damit kommt Andreas Papassotiropoulos, der beim Sesam-Projekt für die Genetik zuständig ist, gut zurecht: «In erster Linie interessiert mich die DNA der Erwachsenen.»

Der Molekularpsychologe kann im Gespräch nicht verbergen, wie sehr ihn die Feindseligkeit überrascht hat, die Sesam und besonders seinem Teilprojekt entgegenbrandet. Es gehe bei seiner Studie keineswegs darum, auf Grund irgendwelcher Gene Menschen zu identifizieren, die einmal an Angststörungen oder Depression erkranken dürften. «Das ist gar nicht möglich: Zum einen gibt es kein simples Angst- oder Depressionsgen, zum andern ist die Biologie nur ein Faktor von vielen, die bei einer psychischen Erkrankung mitspielen.»

Papassotiropoulos versteht die Genetik vielmehr als Werkzeug, um Moleküle aufzuspüren, die in irgendeiner Art mit psychischen Störungen zu tun haben. «Daraus ergeben sich Hinweise, wo weitere Forschungsprojekte ansetzen können.»

Nach der Auflage der Ethikkommission zu den Erbgutuntersuchungen sind die Sesam- Kritiker aber längst nicht verstummt. Die drittnützige Forschung am Kind steht weiterhin im Kreuzfeuer. Der Basler Appell fordert gar, das «Prestigeprojekt» nun ganz abzublasen, und droht mit rechtlichen Schritten.

«So etwas habe ich bei der Vorbereitung einer neuen Studie noch nie erlebt», sagt der Experte für Langzeitstudien, Dieter Wolke. Das Drama stösst nicht nur bei den Beteiligten von Sesam auf Kopfschütteln. Die Sozial- und Präventivmedizinerin Ursula Ackermann-Liebrich etwa staunt: Bis heute würden zahlreiche Therapien an Kindern durchgeführt, deren Nutzen und Wirksamkeit wissenschaftlich nicht belegt seien. «Da schreit kein Mensch. Aber wenn Forscher das Wissen, das für wirksame Prävention oder Therapien notwendig ist, vermehren wollen, dann schreit man laut.» Die Professorin der Universität Basel leitete jahrelang die Basler Kindergartenstudie, eine Langzeituntersuchung zur Entwicklung von Schweizer Kindern und italienischen Migrantenkindern. «Auf fremdnützige Forschung zu verzichten, weil das Kind vielleicht keinen unmittelbaren Nutzen hat, beruht auf einer naiven Vorstellung von Forschung.»

Kommt hinzu, dass ein fehlender unmittelbarer Nutzen nicht automatisch bedeutet, dass die Teilnehmer als Versuchskaninchen missbraucht werden. Wie liesse sich sonst erklären, dass die Teilnahmeraten von grossen Langzeitstudien nach Jahrzehnten noch bei 80 Prozent oder sogar höher liegen? Einmal rekrutiert, bleiben die Teilnehmenden «ihrer» Studie treu. «Wir haben Familien, die ins Ausland gezogen sind und trotzdem jedes Jahr zur Untersuchung anreisen», sagt Jennie Cross, Koordinatorin bei Alspac. Kinder wie Eltern ziehen oft einen ganz persönlichen Gewinn aus ihrer Teilnahme – oder haben schlicht ihren Spass daran.

Mühe mit Herausragendem

Was bleibt dann noch übrig als Grund für die Ablehnung von Sesam? Dieter Imboden, Präsident des Nationalen Forschungsrats des Schweizerischen Nationalfonds, ortet das Problem im typisch schweizerischen Misstrauen gegenüber grossen Würfen. «Wie kaum anderswo haben wir Schweizer offensichtlich Mühe mit dem Umgang und der Akzeptanz von Herausragendem, betreffe dies Personen oder Ideen», sagte er an einer Medienkonferenz. Kritiker des Projekts sehen das anders: «Sesam will zu hoch hinaus und macht der Öffentlichkeit falsche Versprechungen», sagt die Basler Psychologin Ursula Walter.

Da sind die US-Amerikaner anders gestrickt. Sie planen ein Mega-Projekt, neben dem Sesam sich wie eine Fallstudie ausnimmt: Die National Children’s Study soll im ganzen Land 100 000 Kinder von der frühen Schwangerschaft bis zum 21. Geburtstag verfolgen. Die Studie hätte dieses Jahr starten sollen, doch nach einer Kürzung der staatlichen Mittel fehlt es am nötigen Kleingeld: Das Projekt dürfte über 25 Jahre hinweg mindestens 3,7 Milliarden Dollar kosten.

Eine zweite Erklärung für den Widerstand liegt im zeitlichen Zusammentreffen mit der Diskussion um das neue Humanforschungsgesetz: Sesam bietet sich rigorosen Gentechgegnern und Kritikern drittnütziger Forschung mit Kindern an, um ein Exempel zu statuieren. Oder wie der stellvertretende Sesam-Direktor Alexander Grob es formuliert: «Wir sind in eine unglückliche Zeit hineingekommen und müssen den Kopf hinhalten für Dinge, die mit Sesam wenig zu tun haben.»
Projekt-Finanzen: Roche setzt Fragezeichen
Das ursprüngliche Budget für den Zeitraum von 2005 bis 2008 beträgt knapp 23 Millionen Franken. Davon entfallen 10 Millionen auf den Nationalfonds, der Rest auf die Universität Basel und Dritte. Unter Letzteren ist der Pharmakonzern Roche: Er sicherte Sesam letztes Jahr 6 Millionen Franken zu. «Roche stärkt mit diesem Engagement die Life Sciences am Forschungs- und Wirtschaftsstandort Basel und knüpft an die Unterstützung ausdrücklich keine weiteren Bedingungen», hiess es damals in einer Mitteilung der Uni Basel. Nach dem Wegfall von Erbgutuntersuchungen an Kindern will Roche, die ultraschnelle DNA-Analysegeräte vertreibt, ihr Engagement jedoch überdenken. «Wir stehen mit der Universität im Gespräch», bestätigt Roche-Sprecherin Katja Prowald.
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Sesam Watch

Beobachtungen und Notizen zum Schweizer NCCR "Sesam", der 3'000 Kinder und ihr Umfeld vom ersten Ultraschallbild an 20 Jahre lang beobachten wollte (vorzeitiger Abbruch: 13.3.08). Autonom, skeptisch, ehrenamtlich. Kontakt: sesamwatch@gmail.com

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