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Mittwoch, 28. März 2007

Interview mit Jürgen Margraf zu Sesam

Die Aargauer Zeitung und die ihr angeschlossenen Regionablätter publizierten in den letzten Tagen dieses Interview in dieser oder einer leicht redigierten Fassung:

«Wir wollen doch etwas Gutes tun»

Jürgen Margraf, Leiter der Studie Sesam, die mit 15 000 Teilnehmern herausfinden will, welche Ursachen zu einer gesunden psychischen Entwicklung führen, ist zuversichtlich, das Projekt in den nächsten Wochen starten zu können.
Mit Jürgen Margraf sprach David Sieber


Herr Margraf, haben Sie Kinder?

Jürgen Margraf: Ja, zwei. Die Tochter ist zehn, und der Sohn geht schnell auf die 16 zu.

Würden Sie Ihre Kinder an einem Projekt wie Sesam teilnehmen lassen?

Margraf: Selbstverständlich. Ich würde bei meiner Arbeit nichts tun, was ich nicht in meinem Umfeld machen würde. Untersuchungen an Erwachsenen und Kindern sind Alltag. In der Pädagogik, der Pädiatrie und eben in der Entwicklungspsychologie haben solche Studien eine lange Tradition.

Hätten Sie auch keine Bedenken, an Ihren unmündigen Kindern DNA-Analysen durchführen zu lassen?

Margraf: Da hätte ich überhaupt keine Bedenken. Denn es besteht kein Risiko. Sesam beschäftigt sich mit dem ganzen Menschen, seinem Körper und seinem Geist. Gene sind nur ein Baustein des Lebens. Die DNA-Analysen, die wir planen, sollen helfen, genauer zu verstehen, welche Prozesse bei psychischer Gesundheit und Krankheit eigentlich ablaufen. Es geht nicht darum, das Gen gegen Depression zu finden. Das gibt es ohnehin nicht. Uns interessiert: Wie wirken Umwelt und Erbgut zusammen?


Nun will die Ethikkommission beider Basel aber nicht, dass Kinder zu einer DNA-Analyse herhalten müssen ...


Margraf: ... selbst, wenn die Eltern einverstanden sind, ja. Diese Auflage hat die Kommission uns gemacht. Und daran halten wir uns. Wir machen die Analysen nun erst, wenn die Kinder im Alter von 18 ihr Einverständnis dazu geben.

Bricht damit der Kern der Studie weg, wie Sesam-Kritiker meine
n?

Margraf: Nein. Der Entscheid tangiert die Studie nur zeitlich. Die Bandbreite unserer Forschung reicht von der Biologie und Genetik über die Psychologie bis zur Soziologie. Die Genetik macht nur etwa fünf Prozent unseres Budgets von rund 21 Millionen Franken für die ersten vier Jahre aus. Und nur ein Prozent war für DNA-Analysen an den Kindern vorgesehen. Wir werden etwa 5000 Eltern, 7000 Grosseltern und 3000 Kinder bei Sesam mit dabeihaben. Bei den 12 000 Erwachsenen können wir die DNA-Analysen sofort durchführen. Weil die Korrelationen mit Krankheiten sich ohnehin erst im Erwachsenenalter zeigen, können wir mit der Empfehlung der Ethikkommission gut leben.

Die Kritik an Sesam war laut und fundamental. Hat Sie das überrascht?

Margraf: Dass das Interesse gross ist, habe ich erwartet. Ich konnte die Kritik teilweise verstehen, doch die Lautstärke und die teils fundamentalistischen Argumente haben mich erstaunt. Dabei geht es uns doch darum, etwas Gutes zu tun. Wir wollen verstehen, wie sich Menschen gesund entwickeln. Gesundheit ist für die Menschen eines der höchsten, für einige gar das höchste Gut. Die Psychologie hat gezeigt, dass die Menschen trotzdem dazu neigen, zu lange zu warten und ihr Verhalten erst ändern, wenn die Erkrankung da ist. Es ist deshalb wichtig, dass sich die Menschen frühzeitig um ihre Gesundheit kümmern. Und deshalb müssen wir verstehen, welche Pfade zu einem gesunden Leben führen und welche Pfade vor der Krankheit gegangen worden sind.

Weshalb haben Sie so lange mit Informationen gegeizt und nicht einfach den ganzen Projektbeschrieb veröffentlicht?


Margraf: Das ist international nicht üblich. Zum einen muss man die im Antrag enthaltenen Ideen schützen, vor allem aber werden bei derartigen Studien die Details erst in einer intensiven Vorbereitungsphase ausgearbeitet. Da hätte es schnell Verwirrung gegeben, wenn verschiedene Zwischenstände nebeneinander gestanden hätten. Nachdem diese Vorbereitungen nun abgeschlossen sind, können wir nun mit Foren starten, wo wir der Öffentlichkeit Red und Antwort stehen.

Sesam wurde zu Anfang sinngemäss als Beitrag zur psychischen Gesundung der Schweiz angepriesen, wovon auch die Wirtschaft profitiere. Der Pharmamulti Roche unterstützt das Projekt mit sechs Millionen Franken. Wundert Sie da der Einwand, bei Sesam gehe es vorab darum, die Grundlagen für neue Therapieformen und Medikamente zu schaffen, um damit Geld zu verdienen?

Margraf: Ich persönlich finde, neue Therapieformen wären sehr sinnvoll. Denn die Vorhandenen sind bei weitem nicht perfekt. Ich kenne auf meinem Gebiet, der Psychotherapie, keine Methode, die hundertprozentig wirkt. Es ist aber nicht gesagt, ob und in welchen Bereichen Sesam solche neuen Möglichkeiten eruieren wird. Zum Beispiel: Ein Grund für den Anstieg der Angst, den wir in den westlichen Industriestaaten - und da besonders stark bei Kindern - beobachten, ist in der Veränderung der zwischenmenschlichen Beziehungen zu sehen. Die Scheidungsrate steigt, die Menschen heiraten immer später, die Erstgebärenden werden immer älter, und die Geburtenrate ist niedrig. Allgemein nimmt die soziale Verbundenheit ab - der wichtigste Schutzfaktor für das Individuum überhaupt.

Warum ist das so?

Margraf: Das hat mit gesellschaftlichen Werten und Normen, mit ökonomischen, aber auch mit psychologischen Faktoren zu tun. Ich glaube nun wirklich nicht, dass daran eine Veränderung der Genetik schuld ist. Wenn ich etwas gegen diese Entwicklung tun will, dann muss ich auf der gesellschaftlichen Ebene ansetzen und wohl kaum mit Therapien und Medikamenten. Wenn es aber aufgrund unserer Forschung neue Medikamente gibt, ist das auch eine gute Sache. Denn auch die Medikamente können noch deutlich verbessert werden, weil sie in Bezug auf Nebenwirkungen und Abhängigkeiten Probleme machen. Es hat in diesem Bereich seit Jahrzehnten keine grossen Fortschritte gegeben. In erster Linie geht es uns aber darum zu verhindern, dass das Kind überhaupt in den Brunnen fällt.

Und das schaffen Sie mit der Beobachtung von 15 000 Menschen über drei Generationen hinweg?

Magraf: Wir hoffen, die Exzesse, wie krankhafte Depressionen, in den Griff zu bekommen. Um normale Durchhänger, die wie die Grippe zu unserm Leben gehören, geht es nicht. Es ist aber wichtig zu verstehen, wie solche Durchhänger entgleiten. Vermutlich spielen sich in diesen Fällen Aufschaukelungsprozesse ab. Es ist sicher nicht so, dass die betroffenen Personen grundsätzlich anders als andere Menschen sind.

Und bei diesen Aufschauklungsprozessen spielen dann die biologischen, genetischen, psychologischen und sozialen Faktoren eine Rolle?

Margraf: Genau. Das macht es so schwer, hier voranzukommen. Deshalb Sesam, wo zum Beispiel die Kollegen von der Soziologie mit jenen von der Molekulargenetik zusammenarbeiten. Da hatten wir mit unserem Projekt zunächst das Problem, dass es gesellschaftliche und wissenschaftliche Moden gibt. Gegenwärtig ist es gerade in, nicht auf die Gesellschaft, sondern auf das Individuum zu gucken. Und beim Individuum guckt man auf die Biologie und nicht auf psychosoziale Anteile. Konkret hält man derzeit grosse Stücke auf Gehirnbilder. Man sucht nach dem Gottesgen und behauptet, weil in einem spezifischen Teil etwas leuchtet, nun zu wissen, weshalb der Mensch religiös ist. Das ist Unfug. Natürlich «leuchtet» etwas im Gehirn beim Denken. Aber das ist doch keine Ursache, sondern eine Korrelation. Und weil dies gerade Mode ist, ist es auch einfacher, dafür Geld zu erhalten als für die Soziologie. Das Besondere an Sesam ist nun, dass wir all die Disziplinen zusammenbringen.

Dem Nationalfonds, Ihrem Hauptgeldgeber, wird vorgeworfen, Naturwissenschaften gegenüber Geisteswissenschaften zu bevorzugen. Sesam erhielt nicht zuletzt wegen dieser Kritik den Zuschlag, worauf es wiederum hiess, Ihr Projekt sei eigentlich auch hauptsächlich naturwissenschaftlich.


Margraf: Das ist das Problem, wenn man interdisziplinär arbeitet. In Sonntagsreden wird dieser Begriff immer wieder beschworen. In der Realität sind weder die Unis noch die Forschungsförderungen dieser Welt entsprechend organisiert.

Wie haben Sie die unterschiedlichen Forscher eigentlich zusammengebracht?

Margraf: Einfach wars nicht, wie überhaupt die ganze Vorarbeit weit aufwendiger war, als man sich vielleicht vorstellt. Aber die Einsicht, dass wir dieses wichtige Projekt nur gemeinsam in Angriff nehmen können, hat sich rasch durchgesetzt. Natürlich war und ist es für den einen oder anderen Forscher, der auf seinem Gebiet eine Kapazität ist, nicht ganz einfach, sich von einem Kollegen einer anderen Disziplin dreinreden zu lassen. Doch ist es unumgänglich, dass man sich bei einer Haupt- und zwölf Teilstudien immer wieder rückvergewissert. Dafür haben wir ein internes Begutachtungssystem. Bisher hats sehr gut geklappt. Die nächste Nagelprobe steht bevor, wenn dann die ersten Daten erhoben und ausgewertet werden.

Das heisst, wenn die 3000 Schwangeren rekrutiert sind. Ab wann werden diese gesucht?

Margraf: Wir werden in den nächsten Wochen, sobald wir die Vorgaben der EKBB umgesetzt haben, mit den Vorstudien beginnen können. Vorerst nur in Basel, weil in Bern, Zürich, Lausanne und Genf die dortigen Ethikkommissionen erst noch entscheiden müssen. Sobald wir überprüft haben, ob unsere Übungsanlage perfekt ist, sprechen wir Schwangere an, die in Frauenspitälern zu Routineuntersuchungen kommen, und fragen sie auch, ob wir den Vater und ihre Eltern einbeziehen dürfen. Danach fragen wir den Vater, ob wir seine Eltern kontaktieren dürfen. Ist alles geklärt, beginnen wir mit den Untersuchungen.

Wie muss man sich diese Untersuchungen genau vorstellen?


Margraf: Im Zentrum stehen die Mutter und ihr Kind. Während der Schwangerschaft haben wir zwei Untersuchungszeitpunkte. Dann schauen wir, wie die Geburt verlaufen ist. Denn daraus lassen sich wichtige Schlüsse ziehen. Eine Kollege, der bei Sesam dabei ist, hat zum Beispiel nachgewiesen, dass schwierige Geburten, die sowohl Mutter und Kind belasten - und ein wenig auch den Vater, wie ich aus eigener Erfahrung weiss -, zu bestimmten Interaktionsmustern führen, die noch Jahre später festgestellt werden können. Danach sehen wir die Familien, wenn die Kinder sechs, zwölf und 24 Monate alt sind, bevor wir auf einen Zwei-Jahres-Rhythmus wechseln. Dabei geht es um Meilensteine der Entwicklung, also wann die Kinder zum ersten Mal sprechen, sitzen und gehen.

Was machen Sie mit den Kindern?

Margraf: In den ersten Lebensjahren studieren wir ihr Verhalten und ihr Umfeld, stellen etwa fest, wo und wie sie wohnen, ob es dort zum Beispiel wegen des Verkehrs laut und ob die Luft schlecht oder gut ist. Uns interessiert aber auch die Feinfühligkeit der Mütter. Nehmen sie wahr, was das schreiende Kind will? Sehr wichtig sind auch der Umgang mit alltäglichen Anforderungen und die gegenseitige Unterstützung zwischen Generationen.

Dazu sprechen Sie mit Müttern, Vätern und Grosseltern?

Margraf: Wir fragen nach besonderen Ereignissen, nach dem Umgang mit Stresssituationen und vielem mehr. Die Grosseltern interviewen wir weniger oft, was aber vorab pragmatische, sprich finanzielle Gründe hat. Wichtig sind ihr Wohlbefinden, ihre Werte, ihre Gesundheit - und welchen Einfluss das nun auf die Eltern und die Kinder hat. Umgekehrt aber auch, welchen Einfluss die Eltern und die Kinder auf die Grosseltern haben.

Wie aussagekräftig kann Sesam überhaupt werden? Sie müssen ja zum Beispiel in jenen Fällen eingreifen, wo eine akute Gefährdung besteht.

Margraf: Das ist klar. Auch bei Offizialdelikten wie häuslicher Gewalt sind wir verpflichtet einzugreifen. Bei normalen Problemen müssen wir das aber nicht. Denn die haben wir alle. Menschen bewältigen ihre Probleme meist selbst. Geht es um körperliche Probleme, so werden wir die nicht feststellen können, wenn sie genetisch bedingt sind. Weil wir die dafür erforderlichen Gentests nicht machen.

Die Sesam-Probanden wissen, dass sie an einer Untersuchung teilnehmen. Beeinflusst das nicht zwangsläufig das Ergebnis?

Margraf: Da hat man internationale Erfahrungswerte, mit denen man dieses Phänomen beurteilen kann. Zudem fragten wir Kollegen, die Erfahrung mit Langzeitstudien haben, wie ihre Teilnehmer reagiert haben. Die Antwort: neutral bis positiv. Nicht wenige hätten ihr Mehrwissen zur Verbesserung der eigenen Situation genutzt - oder schlicht vergessen, dass sie überhaupt teilgenommen haben.

Wie repräsentativ für die Schweizer Bevölkerung wird Sesam sein?

Margraf: Unsere Stichprobe kann nicht repräsentativ sein: Die Teilnahme ist freiwillig, wir arbeiten mit Frauenspitälern zusammen, wo längst nicht alle Schwangeren zur Vorsorge hingehen, und die Probanden müssen über einigermassen gute Deutsch- oder Französischkenntnisse verfügen, damit sie die Fragebögen ausfüllen können. Aber wir machen ja auch keine Quer-, sondern eine Längsschnittstudie. Und da versucht man in die Zukunft gerichtet zu schauen, wie sich Menschen entwickeln. Entscheidend dabei ist, wie viele bis zum Schluss dabeibleiben. Wir erwarten, dass es über 70 Prozent sein werden.

Und wo werden Sie in 20 Jahren sein?

Margraf: Im Ruhestand - und hoffentlich mit Neugier verfolgen, was die Jüngeren Spannendes tun.
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Sesam Watch

Beobachtungen und Notizen zum Schweizer NCCR "Sesam", der 3'000 Kinder und ihr Umfeld vom ersten Ultraschallbild an 20 Jahre lang beobachten wollte (vorzeitiger Abbruch: 13.3.08). Autonom, skeptisch, ehrenamtlich. Kontakt: sesamwatch@gmail.com

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