"Die Zeit" über Sesam
Am 15.3., vor der Publikation des EKBB-Entscheides, berichtete in der "Zeit" Lukas Leicht ausführlich über das Projekt Sesam unter dem Titel "Die Reifeprüfung":
Schweizer Forscher wollen 20 Jahre lang die psychische Entwicklung von 3000 Kindern verfolgen. Die Pläne stoßen auf erbitterten Widerstand.
Der Psychologe Jürgen Margraf hat sich zurückgezogen. Nachdem sein Projekt Sesam – eine Studie mit 3000 Kindern – in den vergangenen zwei Jahren auf massive Kritik gestoßen ist, lässt er sich in der Öffentlichkeit lieber von Kollegen vertreten. Der großgewachsene Ordinarius für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Basel und Direktor von Sesam hat einsehen müssen, dass sein selbstsicheres Auftreten polarisiert. Das ist in der heiklen Phase, in der sich das Projekt zurzeit befindet, das Letzte, was sich die Initiatoren wünschen. Im Moment beugen sich die Experten der Basler Ethikkommission über die umstrittenen Pläne und entscheiden, ob überhaupt und wie die Untersuchung durchgeführt werden darf.
Es steht viel auf dem Spiel. Die Schweizer Forschungsförderungsinstitutionen haben die Studie als sogenannten nationalen Forschungsschwerpunkt bewilligt und für die ersten vier Jahre mit mehr als zehn Millionen Franken ausgestattet. Der Schweizerische Nationalfonds in Bern befand, dass es sich um ein einzigartiges Vorhaben handle, mit dem mehr über die Ursachen einer gesunden psychischen Entwicklung herauszufinden sei.
Die Zahl der Menschen, die unter Angststörungen und Depressionen leiden, steige rapide, sagt Margraf. Das Projekt solle zeigen, welche psychologischen, sozialen und biologisch-genetischen Faktoren bei der Entstehung dieser Störungen mitwirken. Geplant ist dazu eine zwei Jahrzehnte dauernde Studie mit 3000 Kindern. Sie sollen von der 20. Schwangerschaftswoche an bis zum 20. Lebensjahr regelmäßig untersucht werden. Psychologen, Frauenärzte, Kinderärzte, Genetiker, Psychiater und Soziologen arbeiten in einem vernetzten Team an verschiedenen Kliniken und Instituten an der Ursachenforschung.
Neben den Kindern werden auch Eltern und Großeltern in die Studie einbezogen. Insgesamt, so rechnet Margraf vor, sollen die Daten von 10000 bis 20000 Menschen erfasst und analysiert werden. »Die Schweiz«, so heißt es im Projektantrag, »bietet aufgrund der geringen Mobilität der Wohnbevölkerung und der systematischen pränatalen Diagnostik ideale Voraussetzungen für die Studie.« Als wohlklingenden Namen konstruierten die Initiatoren das Akronym Sesam, es steht für Swiss etiological Study of Adjustment and Mental Health. Dem Basler Pharmagiganten Roche war das Projekt eine Spende von sechs Millionen Franken wert.
Bis jetzt ist das ambitionierte Vorhaben über die Planung jedoch nicht hinausgekommen. »Wir haben die Komplexität völlig unterschätzt«, sagt Margrafs Stellvertreter Alexander Grob. Ein von Rechtsprofessor Rainer Schweizer ausgeführtes Gutachten zeigt, was damit gemeint ist: Auf 56 Seiten listet er akribisch die juristischen Probleme auf, die sich mit der Studie auftun. Viele davon haben mit dem Schweizer Föderalismus zu tun. Er erschwert es, eine nationale Studie in verschiedenen Kantonen durchzuführen. Zudem aber wirft Sesam grundsätzliche Fragen auf, mit denen sich Juristen und Ethiker weltweit herumschlagen: Es geht um die Forschung an nicht einwilligungsfähigen Personen, die Problematik genetischer Untersuchungen und den Datenschutz.
Dürfen Eltern bestimmen, ob ihr Kind zum Versuchskaninchen wird?
Unter Juristen umstritten ist, was den Initiatoren selbstverständlich erschien: dass Eltern das Recht haben, stellvertretend für ihre noch ungeborenen Kinder eine Teilnahme an der Studie zu bewilligen. Aus dem Gebot der Menschenwürde und dem Selbstbestimmungsrecht ergäben sich klare Einschränkungen, argumentiert etwa der Basler Rechtsphilosoph und Strafrechtler Kurt Seelmann. Entscheidend sei, ob die Betroffenen einen direkten Nutzen von den Untersuchungen hätten oder nicht. Fehle ein persönlicher Nutzen, dann werde es schwierig, die Teilnahme zu rechtfertigen. Andere Experten wie der Bioethiker Giovanni Maio von der Universität Freiburg argumentieren weniger restriktiv und gestehen den Eltern das Entscheidungsrecht auch für die fremdnützige Forschung zu. Weil in der Schweiz einschlägige Gesetze bislang fehlen, gibt es einen breiten rechtlichen Interpretationsspielraum.
Eine allgemeine Orientierung vermittelt das Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin des Europarates. Es erlaubt die Forschung an nicht einwilligungsfähigen Personen unter zwei Bedingungen: wenn die Ergebnisse von allgemeinem Nutzen für Personen sind, die an der gleichen Krankheit leiden, und wenn die Risiken minimal sind. Die Schweiz hat diese Konvention zwar unterschrieben, aber noch nicht ratifiziert.
Deutschland hat sie noch nicht einmal unterzeichnet. Ohnehin wäre eine Massenuntersuchung wie Sesam in Deutschland aus historischen Gründen noch schwieriger durchzusetzen, sagen Rechtsgelehrte übereinstimmend. Ins Bild passt, dass eine ähnliche Longitudinal-Studie in Großbritannien läuft, einem Land, das der Bio- und Genforschung gegenüber traditionell weniger kritisch eingestellt ist. In der Avon Longitudinal Study of Parents and Children (Alspac) werden 14000 Kinder seit den neunziger Jahren untersucht.
Greifen die Ärzte bei Störungen ein, verändern sie das Ergebnis der Studie
Nicht nur die Juristen, auch die Forscher stecken in einer Zwickmühle. Gestehen sie den Teilnehmenden einen Nutzen zu, indem sie etwa sehr früh bei sich abzeichnenden medizinischen Problemen intervenieren, schmälern sie durch diesen Eingriff den Erkenntnisgewinn. Die Fallstudien gingen den Forschern verloren. Die Sesam-Erfinder äußern sich zweideutig: Während Jürgen Margraf bereits versprochen hat, dass die Familien über wichtige Forschungsergebnisse informiert würden, was einen »unmittelbaren, individuellen« Eigennutzen darstelle, erklärte Alexander Grob vor Kurzem anlässlich einer Podiumsdiskussion, es gebe keinen direkten Nutzen. Man betreibe Grundlagenforschung. Einen Vorteil aber hätten alle Versuchspersonen: Schon die Teilnahme werde zu einer Sensibilisierung führen und das Bewusstsein für eine gesunde Entwicklung schärfen.
Im Rahmen der Schwangerschaftskontrollen sollen Frauen in der zwölften Woche in den Kliniken auf das Projekt hingewiesen und zur Teilnahme motiviert werden. Die Forscher verteilen Fragebögen und verwerten die Daten der Routine-Ultraschalluntersuchungen (Herzrhythmus, Bewegungsverhalten). Später werden sie Blut- und Speichelproben nehmen, um unter anderem die Konzentration von Stresshormonen zu messen. So möchten die Forscher klären, ob und wie sich Stress der Mutter bereits pränatal auf die Entwicklung des Kindes auswirkt.
Eine Speichelprobe bei der Geburt soll Auskunft über die DNA der Kinder geben. Gesucht wird nach »genetischen Merkmalen«, in denen sich gesunde und kranke Teilnehmer unterscheiden. Der Datenschutz, versichern die Forscher, sei dabei gewährleistet: Die Studien würden nur Gruppen in den Blick nehmen und keine Individuen. Andreas Papassotiropoulos, der die Genanalyse leiten soll, hat sich mit der Identifizierung von Genen einen Namen gemacht, die bei komplexen biologischen Vorgängen mitwirken.Jüngstes Beispiel ist ein Gen, das in den »gedächtnisrelevanten Regionen« des Gehirns aktiv ist. Aufgrund der Analyse Hunderttausender von Varianten (Polymorphismen) aus einer größeren Gruppe von Menschen und der Korrelation mit ihren Gedächtnisleistungen konnte Papassotiropoulos es identifizieren. Man kann davon ausgehen, dass der Genetiker ähnliche Studien für Sesam plant.
Die Erhebung genetischer Daten ist wohl der kritischste Punkt des Projektes, auch wenn die Studienleiter wiederholt erklärten, man werde die Daten so kodieren, dass Rückschlüsse auf einzelne Teilnehmer unmöglich seien. Allerdings müssen die genetischen Daten der Kinder mit der Beobachtung ihrer Entwicklung verknüpft werden können. Dies lässt sich zwar anonymisiert bewerkstelligen, doch im Zweifel sind genetische Befunde immer auf ein Individuum zurückführbar. Und sollten die Forscher auf interessante Gene oder Varianten stoßen, dann dürfte ihr Interesse groß sein, mehr darüber zu erfahren.
Die in zwölf Teilstudien erhobenen Befunde sollen langfristig gespeichert werden und auch für spätere Untersuchungen oder Kontrollen zur Verfügung stehen. Wie der Jurist Rainer Schweizer betont, hänge der Wert des Projekts von der Verknüpfung der einzelnen Datensätze ab – und die erfolgt über die Versuchsperson. Wie aber kann man die Probanden von einer Weiterverwendung der Daten schützen, vor der Neugierde von Versicherern, Arbeitgebern oder Strafverfolgungsbehörden?
Bei den Verantwortlichen von Sesam gibt man sich trotz der offenen Fragen zuversichtlich, noch in diesem Frühsommer mit der Rekrutierung von Schwangeren beginnen zu können. Der Druck ist groß. Die Geldgeber haben bereits wissen lassen, dass sie nicht mehr bereit seien, das Projekt nach zwei ergebnislosen Jahren weiter zu finanzieren, sollten sich weitere Verzögerungen abzeichnen.
Die Gegner des Projekts, unter anderem organisiert im »Basler Appell gegen Gentechnologie«, bereiten juristische Schritte vor, sollte die Ethikkommission das Vorhaben zulassen. Die Organisation hat bereits 12000 Unterschriften gegen das Projekt gesammelt. Dass die Ethikexperten die Großstudie ohne Auflagen genehmigen, ist ohnehin nicht wahrscheinlich. Die entscheidende Frage für die Forscher ist, wie groß die Einschränkungen sein werden. Jürgen Margraf schweigt derweil. Auch bei der letzten öffentlichen Podiumsdiskussion vor wenigen Wochen musste sein Stellvertreter in den Ring.
patpatpat - 20. Mär, 10:00