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-+-+-+-+-+-+-+-

Ethik

Samstag, 26. August 2006

baz: "sesam kommt nicht vom Fleck"

Stefan Stöcklin heute in der baz über juristische Abklärungen, die das Projekt bremsen:

Seit einigen Monaten wartet die Ethikkommission beider Basel auf die Eingabe des Forschungsprojektes «sesam». Wann und wie es weitergehen soll, ist nach wie vor offen.

Eigentlich planten die Studienleiter um den Basler Psychologen Jürgen Margraf, ihre Gesuche für den grossangelegten Nationalen Forschungsschwerpunkt «sesam» noch im Frühling 2006 der Ethikkommission beider Basel (EKBB) zur Begutachtung vorzulegen. Deren Zustimmung ist nötig, damit die Versuche starten können.

Bis Ende Jahr sollten die ersten Studien mit schwangeren Frauen anlaufen. So zumindest lautete der provisorische Plan, den die Projektleitung an einer Medienkonferenz der Öffentlichkeit Anfang Jahr vorlegte. Doch davon ist keine Rede mehr. «Wir legen uns im Moment nicht mehr auf einen Termin fest», sagt Mediensprecherin Barbara Glättli.

Zwar haben die «sesam»-Forscher am 12. Juni erste sogenannte «Vorstudien» bei der Ethikkommission eingereicht, aber diese reichen zur Beurteilung nicht. «Wir können die Vorstudien nicht isoliert beurteilen», sagt Hans Kummer, emeritierter Professor für Medizin und Präsident der EKBB. «Wir müssen wissen, was auf die Leute zukommt und brauchen dazu auch die Details der Kernstudie.»

In den Vorstudien sollen Methoden und Verfahren des Projektes, zum Beispiel Fragebögen oder Untersuchungen, an nicht schwangeren Versuchspersonen getestet werden. Bei der Kernstudie handelt es sich um die 3000 Kinder, die ab der 12. Schwangerschaftswoche untersucht und bis zum 20. Altersjahr begleitet werden sollen.

Damit ist im Moment völlig offen, wann der EKBB-Entscheid vorliegen wird und wann es mit den Studien losgeht. Unklar ist zudem auch, ob die Ethikkommission die Studien in der geplanten Form gutheissen oder ob sie Auflagen machen wird. Gut möglich ist, dass noch ausstehende Expertengutachten eingeholt werden müssen. Dabei geht der Geldgeber, der Schweizerische Nationalfonds, immer noch davon aus, dass das Projekt im vorgesehenen Rahmen durchgeführt werden könne, wie Sprecher Alan Knaus sagt.

Zu den Verzögerungen sei es gekommen, weil die Detailabklärungen viel mehr Zeit kosteten als geplant. Alexander Grob, Professor für Entwicklungspsychologie an der Universität Basel und stellvertretender Direktor von «sesam», sagt: «Es handelt sich um ein komplexes Projekt, das in dieser Form noch nie durchgeführt wurde und ausserordentliche Abklärungen nötig macht.» Andere von der baz befragte und unabhängige Personen sind der Meinung, dass die Projektverantwortlichen die ethische Brisanz und juristische Komplexität massiv unterschätzt hätten.

Güterabwägung. Sicher ist, dass sich «sesam» in einem ethisch und juristisch heiklen Feld bewegt. Problematisch ist die Forschung an urteilsunfähigen Kindern, die den Betroffenen keinen Nutzen bringt (fremdnützige Forschung). Experten kommen in grundsätzlichen Überlegungen zu ganz unterschiedlichen Schlüssen, inwieweit diese Forschung zulässig ist, wie zwei Beiträge in der NZZ (12.8.2006 [siehe sesam watch hier und hier]) kürzlich deutlich machten.

Im Zentrum steht die Frage, ob die Menschenwürde der Kinder durch die Untersuchungen tangiert ist oder nicht. Dies wäre zum Beispiel dann der Fall, wenn ihre Freiheit zur Entwicklung in irgend einer Form eingeschränkt würde. Demgegenüber steht der Erkenntnisgewinn der Studie, der anderen Kindern zugute kommen könnte. Hier ist eine Abwägung vonnöten, die je nach Standpunkt unterschiedlich ausfallen kann.

Es wird an der EKBB liegen, das Gebot der Menschenwürde zu prüfen, was aufgrund der langfristig angelegten Studie, die über 20 Jahre dauert, ein schwieriges Unterfangen sein wird. Juristische Hürden ergeben sich im Weiteren im Bereich des Datenschutzes und weil das Vorhaben an der Schnittstelle Medizin/Psychologie operiert. «Auch hier betreten wir Neuland», sagt Alexander Grob. «Wir müssen Pionierarbeit leisten.»

Für «sesam» erschwerend kommt hinzu, dass im Moment ein Bundesgesetz über die Forschung am Menschen am Entstehen ist. Bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes wird es noch Jahre dauern und «sesam» dient nun als Modell- oder Spielfall, was alles bedacht werden kann. Bis zum Bundesgesetz ist kantonales Recht gültig und das erleichtert die Dinge nicht.

Kantonal unterschiedlich. Denn weil es sich bei «sesam» um eine Multizenterstudie handelt, an der verschiedene Kantone mit zum Teil unterschiedlichen Gesetzen beteiligt sind, ist die Rechtslage unübersichtlich. Die Projektleitung von «sesam» hat dazu eine «Einschätzung» beim St. Galler Juristen Rainer J. Schweizer in Auftrag gegeben. Diese Würdigung ist noch nicht abgeschlossen und unter Verschluss.

Spielraum. Alexander Grob macht aber deutlich, dass darin die kantonalen Gesetze verglichen und in ihrer Wirksamkeit auf «sesam» untersucht werden. «Wir wollen uns absichern, dass wir korrekt vorgehen», so Grob zur baz. Beim Bundesamt für Gesundheit (BAG), das in die juristischen Diskussionen einbezogen wurde und Kenntnis von dieser Arbeit hat, heisst es: «Das Gutachten kommt zum Schluss, dass einige der Fragestellungen gesetzlich nicht eindeutig geklärt sind», erläutert Michael Gerber vom BAG. Es gibt also offensichtlich Spielraum › auch bezüglich der Zuständigkeit der EKBB.

Bei «sesam» will man sich nicht detailliert zu Schweizers Einschätzungen äussern. Das Gutachten Schweizers diene aber nicht dazu, die Kompetenz der EKBB in Frage zu stellen. Oder negative Entscheide anzufechten. «Wir wollen, dass die EKBB über ‹sesam› entscheidet. Und wir werden den Entscheid akzeptieren», sagt Alexander Grob. Die EKBB wird ihren Entscheid öffentlich bekannt geben.

Sonntag, 13. August 2006

NZZ: "Ethische Überlegungen zur fremdnützigen Forschung mit Kindern"

12. August 2006, Neue Zürcher Zeitung, Giovanni Maio, Inhaber des Lehrstuhls für Bioethik und Geschäftsführender Direktor des Interdisziplinären Ethik-Zentrums an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Deutschland, über "Das Kind als Forschungsobjekt":

Ethische Überlegungen zur fremdnützigen Forschung mit Kindern

Ethische Konzepte, die für die Erwachsenen entworfen wurden, können nicht ohne weiteres auf Kinder übertragen werden. Kinder dürften insbesondere nicht «atomistisch», sondern sie müssen im Verbund mit ihrem sozialen Umfeld betrachtet werden, so der Ethiker Giovanni Maio. Daher liege es in erster Linie an den Eltern, das Kindswohl zu definieren und so über eine allfällige fremdnützige Forschung an ihren Kindern zu urteilen.

Die Forschung an Kindern gehört zu den besonders umstrittenen Themenbereichen der medizinischen Ethik, weil sich in diesem Problemfeld zwei entscheidende Entwicklungen kreuzen, die unvereinbar scheinen. Wir haben auf der einen Seite eine zunehmende Sensibilität für die Rechte der Kinder zu verzeichnen; auf der anderen Seite erfordern der medizinische Fortschritt und die Medikamentensicherheit es immer mehr, dass auch Kinder in klinische Studien einbezogen werden. Dass man in einer solchen Zeit, in der die Rechte der Kinder so gestärkt werden, Vorschläge unterbreitet, Kinder nicht nur ärztlich zu behandeln, sondern sie auch zu Forschungszwecken zu benutzen, erscheint zunächst befremdlich, erst recht in den Fällen, in denen von vornherein klar wäre, dass das Kind von der Forschung gar keinen eigenen Nutzen hätte, wenn also das Kind zu rein fremdnützigen Forschungen herangezogen werden würde. Widersinnig erscheint die Forderung nach fremdnütziger Forschung an Kindern deswegen, weil gerade Kinder vulnerable Wesen sind, Menschen, die sich nicht wehren können, die potenziell ausgeliefert sind und die ausgenutzt werden können.

Wie weit geht die Pflicht zur Hilfe?

Hinzu kommt, dass der Mensch als Forschungsobjekt in den Dienst des Erkenntniszuwachses gestellt wird, er wird zu einem subjektfremden Zweck benutzt. Die Instrumentalisierung des Menschen kann zwar durch die freie Einwilligung gerechtfertigt werden, indem der Mensch mit der Einwilligung den subjektfremden Zweck zu seinem eigenen Zweck macht. Kinder jedoch sind bis zu einem bestimmten Reifegrad keine vollständig autonomiefähigen Menschen; sie können nicht bindend einwilligen. Daher stösst die Forschung mit Kindern auf gravierende ethische Probleme. Ist es vor diesem Hintergrund überhaupt denkbar, fremdnützige Forschung an Kindern als eine moralische Handlung zu betrachten?

In der Diskussion um die Legitimität der Forschung mit Kindern wird oft das Argument ins Feld geführt, dass man eine Hilfspflicht zukünftigen Kindern gegenüber habe und dass schon von daher eine Verpflichtung zur Forschung bestehe. Wenn man nämlich die fremdnützige Forschung mit Kindern für unmoralisch erklärte - so die Argumentation -, dann müsste man in Kauf nehmen, dass Kinder Medikamente erhalten, die nur an Erwachsenen, nicht aber an Kindern erprobt worden sind. Denn für die Unbedenklichkeits- und Wirksamkeitsprüfung von Arzneimitteln ist eine Testung dieser neuen Medikamente auch an Kindern notwendig, die keinerlei Vorteil von einer solchen Testung hätten. Angesichts dessen, dass ein Grossteil der Medikamente, die heute in der Kinder- und Jugendmedizin verabreicht werden, streng genommen für Kinder gar nicht zugelassen sind, müsste - nach dieser Argumentation - allein im Interesse des Patientenkollektivs «Kinder» die Forschung an Kindern erlaubt werden. Dieser Hinweis hat vieles für sich, denn gerade den Arzt kann diese Hilfspflicht für zukünftige Kinder nicht unbekümmert lassen, stellt doch auch die medizinische Forschung einen mittelbaren Dienst am kranken Menschen dar.

Doch das ethische Problem wird dann schwieriger, wenn wir es mit einer eindeutig nichttherapeutischen Studie zu tun haben, wenn also das Kind selbst keinerlei therapeutischen Vorteil aus der Studienteilnahme hätte. Bei einer solchen fremdnützigen Forschung stellt sich der moralische Konflikt in der Weise dar, dass dem jetzigen Kind eine Studie zugemutet werden muss, die erst zukünftigen Kindern zugute kommen soll. Wenn man den Wertkonflikt dieser Frage genauer analysiert, so liesse sich dieser formulieren als Konflikt zwischen zwei konkurrierenden Verpflichtungen; auf der einen Seite die negative Verpflichtung zur Vermeidung einer unmittelbaren Instrumentalisierung des Kindes, auf der anderen Seite die positive Verpflichtung zur mittelbaren Hilfeleistung für zukünftige kranke Kinder.

Philosophisch gesehen stehen diese zwei Verpflichtungen in einer lexikalischen Ordnung zueinander, und zwar in der Weise, dass die unmittelbare negative Verpflichtung Vorrang vor der mittelbaren positiven Verpflichtung hat. Dies erklärt sich daraus, dass negative Verpflichtungen vollkommene Pflichten darstellen, d. h., ihre Befolgung unterliegt einer unbedingten Notwendigkeit. Die Hilfspflicht hingegen kann lediglich den Status der unvollkommenen Pflicht beanspruchen, was impliziert, dass ihre Befolgung von den Umständen der Entscheidungssituation abhängt. Dadurch, dass der Unterlassung von Schaden die Anerkennung fremder Rechte zugrunde liegt, stellt diese Unterlassung eine dringlichere Pflicht dar, so dass das positive Gebot des Helfens dort eine Grenze erfährt, wo zur Hilfe die «Schädigung» Dritter notwendig ist.

Wenn man also so argumentieren wollte, dass man eine Hilfspflicht zukünftigen Kindern gegenüber hätte, so würde man die beschriebene lexikalische Ordnung umkehren und die positive Hilfspflicht für relevanter ansehen als die negative Unterlassungspflicht, keinem Menschen einen Schaden zuzufügen. Dies bedeutete nichts anderes, als dass wir es für gerechtfertigt halten würden, jetzigen Kindern ein Opfer dafür abzuverlangen, damit zukünftigen Menschen geholfen werde. So sehr es auch wünschenswert wäre, dass zukünftige Kinder unbedenkliche Medikamente bekämen, es ist nicht die Grösse des zu erwartenden Drittnutzens, die eine Aussage über die Legitimität der Fremdverzweckung erlaubt. Würden wir die Hilfe für Dritte tatsächlich als Rechtfertigungsgrund nehmen, so müssten wir in Fällen, in denen diese Hilfe ein Höchstmass erreichte, bereit sein, auch ein Höchstmass an «Opfer» zu verlangen. Eine solche Argumentation ist nicht haltbar, weil man damit die grundsätzlich unveräusserlichen Grundrechte eines Menschen gegen Interessen Dritter abwägbar machte. Die dringende Angewiesenheit anderer Patienten auf die Durchführung solcher Studien zu deren Legitimation kann allein noch nicht ausreichen.

Das Kindsein ernst nehmen

Das ethische Problem der fremdnützigen Forschung mit Kindern lässt sich nicht durch den Verweis auf die positiven Folgen der Forschung lösen. Die entscheidende Frage lautet nicht, ob sich Rechtfertigungsgründe für die Verzweckung der Kinder finden lassen. Vielmehr hängt alles von der Frage ab, ob es sich bei der Forschung mit Kindern tatsächlich um eine illegitime und rechtfertigungsbedürftige Verzweckung handelt. Wir hatten bereits festgehalten, dass die Illegitimität durch die Einwilligung aufgehoben werden kann. Da Kinder nicht einwilligen können, ist diese Aufhebung direkt nicht möglich. In der bisherigen Diskussion wird die fehlende Einwilligungsfähigkeit der Kinder zum Ausgangspunkt der Kritik gemacht und damit oft stillschweigend vorausgesetzt, dass deswegen jede drittnützige Teilnahme von Kindern an Forschungsvorhaben grundsätzlich unmoralisch sei.

Eine solche Annahme lässt sich jedoch nicht in dieser kategorischen Weise halten, weil mit dieser Annahme vorausgesetzt wird, dass die Legitimitätsbedingungen, die für Erwachsene gelten, automatisch auch für Kinder gelten müssen. Genau diese Voraussetzung ist jedoch eindeutig falsch, weil ethische Konzepte, die für die Erwachsenenmedizin entwickelt wurden, nicht unhinterfragt auf Kinder übertragen werden können. Um dem Kind tatsächlich gerecht zu werden, dürfen Kinder nicht als kleine Erwachsene betrachtet werden, sondern als Wesen, die in ihrem Kindsein respektiert werden müssen. Das bedeutet, dass das Kindsein für sich genommen einen Eigenwert hat, der eigenständige Ethikkonzepte notwendig macht. Daher ist es zur Klärung des ethischen Problems der Forschung mit Kindern notwendig, eine kindorientierte Ethik als Grundlage zu nehmen und nicht eine Ethik, die wir sonst im Umgang mit Erwachsenen bemühen.

Grundlagen einer kindorientierten Ethik

Der Schwerpunkt einer kindorientierten Medizinethik müsste darin liegen, das Kind nicht vornehmlich als Freiheitsträger zu betrachten, sondern es vor allem als Interessensträger zu sehen, als ein Mensch, der in gleicher Weise als in sich wertvolles Wesen geachtet und damit in seinen Interessen - die nicht nur Freiheitsinteressen sind - geschützt werden muss. Die ethische Frage lautet also nicht: «Wie kann beim Kind der ‹informed consent› ersetzt werden?». Die zentrale ethische Frage im Umgang mit Kindern müsste daher vielmehr lauten: «Wie kann dem Kind als Kind die notwendige Achtung als selbstgesetzliches Wesen entgegengebracht werden?»

Diese entscheidende Achtung des Kindes lässt sich nicht zuletzt durch die Sorge um das Wohl des Kindes, durch die Anerkennung des Kindes als eine unverwechselbare und einzigartig wertvolle und zugleich unverfügbare Person realisieren. Vor diesem Hintergrund verlagert sich der Blickpunkt ethischen Argumentierens vor allem auf die Definierbarkeit des Kindeswohls. Um das Wohl des Kindes in ethischer Hinsicht definieren zu können, muss nach den spezifischen Merkmalen des Kindseins gefragt werden. Was ist für das Kind spezifisch? Ein besonderes Spezifikum des Kindes ist (1) seine Ausrichtung auf Entwicklung. Daher ist der Schutz der Entwicklungsfähigkeit des Kindes sicher eine zentrale Grundlage für die Definierung des Kindeswohls. Damit verknüpft ist (2) die Verpflichtung, dem Kind die grösstmöglichen Chancen für die Zukunft zu gewähren. Der Philosoph Joel Feinberg spricht in Bezug auf eine kindorientierte Ethik vom «Recht des Kindes auf eine offene Zukunft».

Drittens ist das Kind wie kein anderes Wesen durch seine besondere Vulnerabilität charakterisiert. Das Kind ist verletzlich, weil es manipulierbar, verführbar und auch ausnutzbar ist. Schliesslich ist (4) das Kind auf sein soziales Umfeld angewiesen wie kein anderes Wesen. Das Spezifische des Kindseins ist das Angewiesensein auf Beziehungen, das Angewiesensein auf ein Gegenüber, auf ein intaktes Beziehungsumfeld.

Nach diesen Kriterien einer kindorientierten Ethik liegt es auf der Hand, dass - ganz gleich, von welchem Drittnutzen man ausgeht - eine Studie an Kindern nie gerechtfertigt sein kann, wenn sie mit dem Schutz der Entwicklungsfähigkeit kollidiert oder wenn ersichtlich wäre, dass die besondere Wehrlosigkeit und Manipulierbarkeit von Kindern ausgenutzt werden würde. Im Hinblick auf die Entwicklungsfähigkeit und das Recht auf eine offene Zukunft müssen Studien ausgeschlossen bleiben, von denen ein höheres Risiko ausgeht oder die möglicherweise traumatisierend für Kinder sind, da auch das Trauma die Zukunft des Kindes behindern kann. Was die besondere Vulnerabilität der Kinder angeht, so müsste gewährleistet sein, dass nur diejenigen Studien mit Kindern vorgenommen werden, die an den weniger vulnerablen Erwachsenen grundsätzlich nicht durchgeführt werden können. Eine Gewähr des Schutzes dieser Vulnerabilität kann in der Regel letztlich nur über den Einbezug der Eltern gewährleistet werden. Daher ist der Aspekt der Vulnerabilität eng mit dem Hinweis auf das Angewiesensein auf Beziehungen verknüpft. Die Achtung des Kindes als vulnerables Wesen kann vor allem dadurch gewahrt werden, dass das Kind in seinem sozialen Gefüge wahrgenommen und das Umfeld des Kindes als Teil seiner eigenen Identität und seines Wohlergehens betrachtet wird. Die Achtung realisiert sich dadurch, dass danach gefragt wird, wie man seinem Wohl in diesem Gefüge gerecht werden kann. Weil das soziale Gefüge des Kindes in der Regel die Eltern sind, kommt diesen eine entscheidende Rolle zu. Hieraus wird deutlich, dass der beste Schutz der Kinder demnach die Wahrung der Integrität der Eltern-Kind-Beziehung wäre.

Auf Beziehungen angewiesen

Genau hierin liegt der Schwachpunkt der bisherigen Diskussion um die Legitimität der Forschung an Kindern. Kinder wurden atomistisch betrachtet, als Einzelwesen, die aufgrund ihrer Vulnerabilität vom Staat über das kategorische Verbot von Forschung an Kindern geschützt werden müssten. Eine solche Konzeption ist problematisch, weil Kinder sich nur in ihrem sozialen Umfeld entwickeln können. Der beste Garant für das Wohl der Kinder ist daher nicht der Staat, sondern sind in den allermeisten Fällen die Eltern. Eltern haben in allen anderen Lebensbereichen mit gutem Grund eine weitreichende Definitionshoheit über das Wohl ihrer Kinder. Wenn die fremdnützige Forschung mit Kindern verboten wäre, würde dies bedeuten, dass der Staat den Eltern eine adäquate Vertretung der Kindesinteressen im Kontext der Forschung nicht zutraut.

Würde es sich bei solchen Studien tatsächlich um Hochrisikostudien handeln, wäre dies noch eher nachvollziehbar, doch solange z. B. das minimale Risiko als eine fixierte Grenze formal vorgegeben ist, erschiene ein solcher Paternalismus nicht überzeugend. Er würde nicht nur die Kinder, sondern auch die Eltern bevormunden und würde ihrer Verantwortung nicht gerecht werden. Das kategorische Verbot fremdnütziger Forschung mit Kindern könnte so einen illegitimen staatlichen Paternalismus darstellen.

Wir waren von der Frage ausgegangen, wie die Achtung des Kindes realisiert werden kann. Allein dadurch, dass der Arzt die Eltern des Kindes vor jeder Behandlung oder Forschung fragt, bringt er zum Ausdruck, dass er die Selbstzwecklichkeit des Kindes respektiert und nicht einfach willkürlich an ihm handelt. Allein über das Fragen respektiert der Arzt das Kind als wertvolles und einmaliges Wesen, über das nicht frei verfügt werden darf. Das Fragen der Eltern stellt sicher, dass sich der Arzt der besonderen Situation des Kindseins vergewissert und sich eben nicht die Wehrlosigkeit der Kinder zunutze macht.

So lässt sich schlussfolgern, dass die erste Intuition, die fremdnützige Forschung an Kindern grundsätzlich für problematisch anzusehen, in dieser Radikalität nicht wohlbegründet erscheint. Es gibt gewichtige Argumente gegen eine solche Intuition. Allerdings sind diese Argumente nur so stichhaltig, wie man sich darauf verlassen kann, dass die Eltern tatsächlich «gut» für das Kind entscheiden. Daher muss Sorge dafür getragen werden, dass die Eltern selbst nicht dazu «verführt» werden, die Interessen ihrer Kinder aufs Spiel zu setzen. So wäre es beispielsweise problematisch, wenn die Eltern grosse finanzielle Anreize erhielten, Studien zuzustimmen. Ferner kann eine solche Beruhigung nur dann sich einstellen, wenn gerade von Seiten der Medizin anerkannt wird, dass es zwar eine Forschungsfreiheit gibt, aber keine Freiheit zur Forschung mit Menschen. Daher gibt es auch keine Verpflichtung der Menschen zur Teilnahme an Forschung. Eine Zwangssolidarität gerade von Kindern kann von Seiten der Medizin oder der Gesellschaft in keiner Weise postuliert werden.

Wenn alle forschenden Ärzte dies im Blick haben und es dem tatsächlich freien Entscheidungswillen der Eltern ohne moralische Appelle oder moralischen Druck überlassen, dann sind die Kinder in den Händen der Eltern sicher gut aufgehoben. Noch besser aufgehoben wären sie jedoch, wenn die Eltern darauf vertrauen könnten, dass ein Arzt als Arzt allein aufgrund der moralischen Integrität der Medizin seine Patienten nie im Interesse der Forschung «verraten» würde. Daher ist der Schutz der Kinder, ganz gleich, welche Gesetze gelten, nur so gut wie die Moralität der Ärzte. Wenn der Staat erwägt, bestimmte Studien an Kindern kategorisch zu verbieten, so ist das ein Armutszeugnis für das Vertrauen der Gesellschaft in die Moralität der Ärzteschaft. Hier besteht wohl der grösste Nachholbedarf für die Medizin der Zukunft.

Samstag, 12. August 2006

NZZ: "Rechtliche Grenzen wissenschaftlicher Forschung an Kindern"

In der NZZ ist der folgende Essay von Kurt Seelmann, Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Basel und Daniel Kipfer, Richter am Bundesstrafgericht in Bellinzona, heute auf S. 65 unter dem Label "Zeitfragen" zu finden:

Der Zweck heiligt auch bei der Forschung nicht die Mittel


Forschung an Menschen darf grundsätzlich nur erfolgen, wenn die Betroffenen darin einwilligen. Heikel wird es bei Kindern, die rechtlich als urteilsunfähig gelten. Die Juristen Seelmann und Kipfer analysieren die Rechtslage und erkennen in der neuen Gesetzgebung die Tendenz, die Menschenwürde mit der Forschungsfreiheit abzuwägen, was unstatthaft sei.


Wissenschaftliche Forschung an Menschen ist als solche ein politisch umstrittenes und sensibles Thema. Sie wirft ethische, gesellschafts- und rechtspolitische, vor allem aber auch rechtliche Fragen im engeren Sinne auf. Insbesondere die Forscher verlangen Rahmenbedingungen, welche die rechtlich im Prinzip verbürgte Freiheit der Forschung möglichst wenig tangieren. Das ist angesichts der hochrangigen Ziele vieler Forschungsvorhaben verständlich. Auf der anderen Seite muss das Recht auch diejenigen schützen, an denen geforscht wird. Der Zweck heiligt - auch bei der Forschung - nicht die Mittel. In besonderer Weise problematisch ist die Forschung an urteilsunfähigen Kindern, da diese nicht in der Lage sind, selbst gültig in Forschungen an ihrer Person einzuwilligen. Wie umstritten die Thematik ist, zeigte sich etwa im letzten Frühjahr, als in Basel innert kürzester Zeit 10 000 Unterschriften gegen das sozialpsychologisch-medizinische Forschungsprojekt Sesam gesammelt wurden. Mit diesem Projekt sollen in einer Langzeitstudie an 4000 Kindern und ihren Eltern und Grosseltern die Voraussetzungen psychischer Erkrankungen erforscht werden.

Tangierung der persönlichen Integrität

Gegenwärtig ist die Forschung am Menschen rechtlich primär in kantonalen Gesetzen geregelt. Einschlägig sind auch Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) sowie internationale Übereinkommen. Projekte zur Forschung am Menschen werden zumeist von kantonalen Ethikkommissionen geprüft; die Rechtsgrundlagen sind, auch bei Forschung an Urteilsunfähigen, nicht einheitlich. Der eidgenössische Gesetzgeber hat dies als unbefriedigend erkannt und deshalb verschiedene Gesetzgebungsprojekte auf den Weg gebracht (Heilmittelgesetz, bereits in Kraft; Bundesgesetz über die genetische Untersuchung beim Menschen, verabschiedet, noch nicht in Kraft; Humanforschungsgesetz und Verfassungsartikel, Vernehmlassung abgeschlossen). In all diesen Gesetzen wird auch die wissenschaftliche Forschung an oder die Untersuchung von Kindern geregelt.

«Forschungsuntersuchungen am Menschen greifen in das Recht der Persönlichkeit ein. Solche Eingriffe bedürfen der Rechtfertigung.» So heisst es, rechtlich korrekt, in den medizinethischen Richtlinien der SAMW. Die persönliche Integrität von Probanden kann, je nach Versuchsanlage, durch wissenschaftliche Forschungsprojekte in mehrfacher Hinsicht tangiert sein: physisch, psychisch oder in einem generellen Sinne im Hinblick auf die Autonomie; spezifisch ist zum Beispiel die informationelle Selbstbestimmung zu nennen, welche durch wissenschaftliche Erhebung von Daten zur Person betroffen sein kann.

Informiert sein und selbst bestimmen

Dies erklärt, weshalb Humanforschungsprojekte bestimmten Regeln zu genügen haben, deren Einhaltung von Ethikkommissionen überwacht wird: Das Forschungsprojekt soll zum Beispiel einem bestimmbaren Nutzen dienen, und die Schwere des Eingriffs in die Persönlichkeitssphäre der Probanden muss dazu in einem vernünftigen Verhältnis stehen. Schliesslich, und das ist hier entscheidend, müssen die Probanden über die mit dem Forschungsprojekt verbundenen Eingriffe umfassend informiert sein und darin einwilligen. Das Gebot des «informed consent» ist Konsequenz des dem Recht zugrunde liegenden Selbstbestimmungsprinzips. Der urteilsfähige informierte Erwachsene kann als Proband gültig sowohl in Forschung einwilligen, die ihm selbst Nutzen bringen könnte (therapeutische Forschung), als auch in Forschung, von der nur andere einen Nutzen erwarten dürfen (sogenannte drittnützige Forschung).

Anders stellt sich die Lage jedoch für Urteilsunfähige und insbesondere für Kinder dar. Soll ein Kind an einem Forschungsprojekt mitwirken, hat dessen gesetzlicher Vertreter einzuwilligen. Die stellvertretende Einwilligung ist jedoch auf der Basis allgemeiner Rechtsgrundsätze nur zulässig, wenn die Einwilligung im wohlverstandenen Interesse des Vertretenen selbst liegt, wenn das Kind selbst also einen Nutzen zu erwarten hat. Die Rechtmässigkeit des Eingriffs beruht hier nämlich nicht auf der autonomen Einwilligung des Kindes, da es eine solche eben nicht gibt, sondern auf dem Umstand, dass dieses Fehlen der Autonomie den Interessen des Kindes nicht schaden darf - es soll keine «therapeutische Waise» werden.

Daraus folgt, dass es eine gültige stellvertretende Einwilligung in die mit einem Forschungsprojekt verbundenen Risiken für den Urteilsunfähigen nur geben kann, wenn es sich um ein therapeutisches Forschungsprojekt handelt, ein Projekt also, von dem der Betroffene selbst einen Nutzen erwarten kann. Nur ein solcher kann denkmöglich in seinem Interesse liegen. Oder mit anderen Worten: Die drittnützige Forschung an Urteilsunfähigen dürfte, wenn sie in deren Rechtssphäre eingreift, in jedem Fall unzulässig sein. Denn sie beruht weder auf einer autonomen Einwilligung des Betroffenen noch auf der vom Gedanken des Kindeswohls getragenen stellvertretenden Einwilligung. Die Beachtung mittelbarer Nutzeneffekte (zum Beispiel, drittnützige Forschung an Urteilsunfähigen ermögliche auch drittnützige Forschung für sie, oder das Gefühl, altruistisch gewirkt zu haben, schaffe später Befriedigung) verbietet sich, da auf diese Weise jegliche Instrumentalisierung legitimiert werden könnte - was, soweit ersichtlich, niemand will.

Besonderer Schutz

Was wurde bisher hinsichtlich der Forschung an Kindern vorgesehen oder bereits entschieden? Aus der Botschaft für das bereits in Kraft gesetzte Heilmittelgesetz (HMG) geht hervor, dass Urteilsunfähige besonderen Schutz geniessen sollen. Das Gesetz lässt deshalb klinische Versuche mit Heilmitteln an Urteilsunfähigen nur unter restriktiven Bedingungen zu. Bedenklich erscheint gleichwohl die Möglichkeit, klinische Versuche mit Urteilsunfähigen und Kindern unter bestimmten Voraussetzungen - der Eingriff darf höchstens minimal sein - auch dann zuzulassen, wenn für die Probanden kein Nutzen zu erwarten ist (Art. 55 HMG). Vor dem Hintergrund des davor weitgehend anerkannten Verbots drittnütziger Forschung an Urteilsunfähigen stellt sich die Frage, ob diese Bestimmung noch verfassungskonform ist. Vom Europarat wurde sie lediglich als Mindestschutzstandard vorgegeben und keineswegs den Mitgliedsstaaten angeraten.

Nicht direkt anwendbar für die wissenschaftliche Forschung ist das Bundesgesetz über die genetische Untersuchung am Menschen (verabschiedet, aber noch nicht in Kraft), da damit nicht die wissenschaftliche Forschung, sondern die genetische Untersuchung des Erbguts - unabhängig von wissenschaftlichen Forschungsinteressen - geregelt wird. Soweit Forschung jedoch auf genetische Untersuchungen als Datenbasis Bezug nimmt, muss die Datenerhebung diesem Gesetz doch wohl auch genügen. In den Artikeln 5 und 10 wird vorgeschrieben, dass bei Urteilsunfähigen das genetische Material nur untersucht werden darf, wenn der gesetzliche Vertreter umfassend informiert ist und eingewilligt hat und wenn die Untersuchung für den Schutz der Gesundheit des Betroffenen notwendig ist. Die einzige, restriktiv umschriebene Ausnahme einer Untersuchung mit ausschliesslichem Drittnutzen ist vorgesehen für den Fall, dass die Belastung der Familie mit einer schweren Erbkrankheit nicht anders abgeklärt werden kann.

Erhebliche Bedenken beim neuen Gesetz

Eine umfassende eidgenössische Regelung soll die Forschung am Menschen nun mit dem Humanforschungsgesetz (HFG) und der auch neu zu erlassenden Verfassungsbestimmung erfahren. Beide Vorlagen, deren Vernehmlassung soeben abgeschlossen wurde, müssen erhebliche Bedenken wecken - entfernen sie sich doch noch weiter von dem Grundsatz, dass Menschen nicht ohne ihren Willen instrumentalisiert werden dürfen. Der neu vorgeschlagene Art. 118a der Bundesverfassung (BV) lautet in Abs. 1: «Der Bund erlässt Vorschriften über die Forschung am Menschen im Gesundheitsbereich. Er sorgt dabei unter Beachtung der Forschungsfreiheit für den Schutz der Menschenwürde und der Persönlichkeit.» Dieser Formulierung scheint ein Missverständnis zugrunde zu liegen: dass Forschungsfreiheit und Menschenwürde als gleichrangige Rechte gegeneinander abgewogen werden könnten. Dem ist jedoch nicht so.

Während die Forschungsfreiheit ein nach den üblichen Regeln beschränkbares und damit gleichsam «gewöhnliches» Grundrecht ist, handelt es sich bei der Garantie der Menschenwürde um die Bedingung der Möglichkeit einer freiheitlichen Rechtsordnung, die deshalb der Abwägung gegen andere Grundrechte nicht zugänglich ist und sein darf. Systematisch entspricht sie Kants kategorischem Imperativ, welcher gebietet, dass die Person niemals bloss als Mittel, sondern stets als Selbstzweck zu betrachten und zu behandeln sei. Oder mit den Worten des Staatsrechtlers Günter Dürig: «Die Menschenwürde ist als solche getroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem blossen Mittel, zu einer vertretbaren Grösse herabgewürdigt wird.» Es kann mithin nicht zulässig sein, unter Berufung auf die Forschungsfreiheit die Würde der Person durch deren Instrumentalisierung zu verletzen.

Der gelegentlich zu hörende Einwand, es gehe doch auch um die Würde der künftig von der Forschung Profitierenden, greift zu kurz: Würdebeeinträchtigung durch Krankheit rechtfertigt nicht Würdeverletzungen durch Menschen. Am krassen Beispiel: «Verbrauchende» Forschung an einem Menschen wäre auch dann nicht legal, wenn man sicher wüsste (was bei Forschung zudem per definitionem nie der Fall ist), dass man damit vielen Menschen Qualen ersparen und das Leben retten könnte. Dürfte man Würde verrechnen, wäre dieses Ergebnis nicht verständlich.

Illiberaler Gedanke

Die zumindest missglückte Formulierung von Abs. 1 suggeriert demgegenüber die Abwägbarkeit von Menschenwürde und scheint sie auf Verfassungsstufe festzuschreiben. Es überrascht deshalb nicht, dass die konkretisierenden Bestimmungen in Art. 118a BV sowie im HFG selbst das Instrumentalisierungsverbot teilweise verletzen. So soll es nach Abs. 2 lit. b - in Anlehnung an die Formulierung im Heilmittelgesetz - möglich sein, Forschung an Urteilsunfähigen zu betreiben, auch wenn diese keine Verbesserung ihrer Gesundheit erwarten können.

Der Entwurf ist offenbar von dem letztlich illiberalen Gedanken nicht ganz unbeeinflusst, die Forschung gegen die als störende Einschränkung empfundene Menschenwürdegarantie schützen zu müssen. Dafür spricht nicht nur die hier verhandelte Thematik der drittnützigen Forschung an Urteilsunfähigen als Teilsozialisierung des menschlichen Körpers, sondern sprechen auch die neu vorgesehene Möglichkeit der zwangsweisen Forschung an Urteilsunfähigen und weitere ungewöhnliche Möglichkeiten. Man mag all das für sinnvoll halten, muss sich aber klar sein, dass man damit bis vor kurzem kaum bezweifelte Rechtsgrundsätze über Bord wirft. Dem Ansehen der dringend nötigen und lebenrettenden seriösen Forschung tut man damit keinen Gefallen.

Mittwoch, 22. Februar 2006

Humanforschungsgesetz: Ethikkommission nicht mehr für Ethik zuständig

In den Unterlagen, die an der Medienkonferenz von Sesam abgegeben wurden, befanden sich auch einige Seiten, die Zitate aus dem erläuternden Bericht des Bundesrates zum Vorentwurf des Humanforschungsgesetzes vom Februar 2006 enthielten. Es darf wohl angenommen werden, dass diejenigen Ausschnitte zitiert werden, von denen die Verantwortlichen glauben, dass sie Anliegen und Vorgehen von Sesam stützen. Dies muss eine Vermutung bleiben, denn im offiziellen Teil ging niemand von den Vortragenden auf dieses Element der Pressemappe ein und erklärte dessen tiefere Absicht. Ein Abschnitt trägt den Titel "Ethikdiskussion". Darin zitiert Sesam die Erklärung, was Ethikkommissionen dereinst noch sollen. Dies der ausschnittweise zitierte Abschnitt im Original, die von Sesam zitierten Sätze sind unterstrichen (die übrigen sind nicht in den Unterlagen der Medienkonferenz zu lesen):


Die Aufgabe der Ethikkommissionen besteht darin, den Schutz des Menschen in der Forschung zu gewährleisten, indem sie die Einhaltung der gesetzlichen Voraussetzungen für Forschungsprojekte bzw. Biobanken überprüfen und deren Durchführung bzw. deren Betrieb beaufsichtigen. Die Ethikkommissionen müssen insbesondere beurteilen, ob die Aufklärung inhaltlich korrekt, vollständig und verständlich ist und kein Missverhältnis zwischen dem zu erwartenden Nutzen und den voraussehbaren Risiken eines Forschungsprojekts besteht. Ferner werden die Wissenschaftlichkeit des Vorhabens, die fachlichen Kompetenzen der Forschenden sowie die betrieblichen Gegebenheiten und weitere Kriterien mit Blick auf den Schutz der betroffenen Personen beurteilt. Die anzuwendenden Prüfkriterien, die auf Grundrechten (insbesondere dem Persönlichkeitsrecht) sowie auf anerkannten medizinethischen Prinzipien (vgl. Ziff. 1.4.2.1 bis 1.4.2.3) basieren, dienen alle dem Schutz der betroffenen Personen und werden abschliessend durch das Gesetz festgelegt. Kriterien wie «voraussichtliche Akzeptanz des Forschungsprojekts in der Öffentlichkeit» oder «ethische Vertretbarkeit», die in der heutigen Beurteilungspraxis teilweise zur Anwendung kommen, dürfen zukünftig nicht mehr berücksichtigt werden. Dahinter steht der Grundsatz, dass der Rechtsstaat ausserhalb klarer rechtlicher Kriterien nicht das «ethisch oder moralisch Richtige» anordnen und daran rechtsverbindliche Wirkungen anknüpfen darf. Eine Einschränkung der Forschungsfreiheit (z.B. Ablehnung des Gesuchs oder mit der Bewilligung verbundene Auflagen) ist nur auf der Basis gesetzlich normierter Kriterien zulässig und hat den Voraussetzungen von Artikel 36 der Bundesverfassung (vgl. Ziff. 1.5.1) zu genügen. Die Prüfkriterien als (mehrheitlich) unbestimmte Gesetzesbegriffe lassen den Ethikkommissionen genügend Interpretationsspielraum, den sie angemessen und auf den Einzelfall bezogen ausschöpfen können. In diesem Rahmen können die ethischen Prinzipien, durch die der Gesetzgeber sich im Rahmen seiner Rechtsetzung leiten liess, als wichtige Interpretationshilfen herangezogen werden.


Gleich nochmals (weil's so absurd ist!), was Ethikkommissionen nach in Kraft treten des Humanforschungsgesetzes - in der jetzt in Vernehmlassung gegebenen Fassung - nicht mehr dürfen:

Kriterien wie «voraussichtliche Akzeptanz des Forschungsprojekts in der Öffentlichkeit» oder «ethische Vertretbarkeit», die in der heutigen Beurteilungspraxis teilweise zur Anwendung kommen, dürfen zukünftig nicht mehr berücksichtigt werden.

Die "ethische Vertretbarkeit" geht die Ethikkommissionen nichts mehr an. Im vorgesehenen Gesetzestext heisst das:

Art. 66 Zweck und Aufgaben
Die Ethikkommissionen haben folgende Aufgaben:
a. Sie überprüfen und entscheiden, ob Forschungsprojekte und Biobanken die gesetzlichen Anforderungen erfüllen;
b. Sie beaufsichtigen die Durchführung von Forschungsprojekten und den Betrieb von Biobanken.


Rechtsstaatlichkeit in allen Ehren, aber Ethikkommissionen reduziert auf Polizeiaufgaben (Einhaltung der Gesetze kontrollieren) machen doch wohl keinen Sinn. Die Ethikkommission beider Basel schreibt über ihre - aktuellen - Aufgaben:

Es ist Aufgabe der Ethikkommissionen, die einzelnen Forschungsprojekte auf ihre Vereinbarkeit mit den gültigen nationalen und internationalen Richtlinien für Forschungsuntersuchungen am Menschen zu beurteilen und die Durchführung ethisch nicht vertretbarer Vorhaben zu verhindern.

Tja, tut mir leid, meine Damen und Herren von der Ethikkommission, wenn das Gesetz so durchgeht (was offenbar Sesam sehr recht wär, wie aus der für die Presseunterlagen getätigten Auswahl der Zitate geschlossen werden muss), müssten sie eigentlich die "Ethik" aus dem Namen ihrer Kommission streichen. Denn dafür wären sie schlicht nicht mehr zuständig.
Wenn Sie und ihre Kolleginnen und Kollegen von anderen kantonalen Ethikkommissionen Bundesrat Couchepin schreiben wollen, was Sie davon halten, auf Polizeiaufgaben reduziert zu werden, dann sollten Sie dies vor dem 31. Mai tun. Dann läuft nämlich die Vernehmlassungsfrist ab. Und vielleicht schreiben Sie Couchepin auch gleich, was Sie davon halten, nicht zur Vernehmlassung eingeladen worden zu sein. Denn auf der Liste der Vernehmlassungsadressatinnen und -adressaten sind zwar von economiesuisse über die Gesellschaft der islamischen Organisationen und Interpharma bis zum Schweizerischen Bauernverband alle und ihr Hund vertreten, nicht aber Sie.

P.S. Merci Sesam! Ohne den Teil eurer Unterlagen über das Humanforschungsgesetz, wär ich wohl noch lange nicht über diese Absurdität gestolpert.

P.P.S. Der Vollständigkeit halber ein Nachtrag: Wann ist von der Ethikkommission eine Bewilligung einzuholen? Dann:

Art. 56 Bewilligungspflicht für die Durchführung eines Forschungsprojekts
1
Eine Bewilligung der zuständigen Ethikkommission braucht, wer ein Forschungsprojekt durchführt:
a. mit Personen;
b. an Embryonen und Föten in vivo;
c. mit biologischem Material und mit Personendaten;
d. an verstorbenen Personen;
e. an Embryonen und Föten aus Schwangerschaftsabbrüchen und Spontanaborten sowie an Totgeburten.
2
Die Bewilligung wird erteilt, wenn:
a. die Anforderungen dieses Gesetzes über die Aufklärung und Einwilligung erfüllt sind;
b. die Anforderungen dieses Gesetzes an das Verhältnis zwischen dem erwarteten Nutzen und den voraussehbaren Risiken und Belastungen erfüllt sind;
c. das Projekt den wissenschaftlichen Qualitätsanforderungen genügt;
d. die fachlichen und betrieblichen Voraussetzungen gegeben sind;
e. die weiteren gesetzlichen Anforderungen zum Schutz der betroffenen Personen erfüllt sind.


In Art. 56 2b ist die Rede von Anforderungen an das Verhältnis zwischen Nutzen und Risiken. Dazu äussert sich Art 13:

Art. 13 Grundsätze
1
In jedem Forschungsprojekt müssen die Risiken und Belastungen für die betroffene Person so gering wie möglich gehalten werden.
2
Zwischen den voraussehbaren Risiken und Belastungen und dem erwarteten Nutzen darf kein Missverhältnis bestehen.


Also, in der Kürzestfassung: Die Ethikkommission überwacht die Einhaltung des Gesetzes (Art. 66). Dieses verlangt, dass Risiken / Belastungen und Nutzen nicht in einem Missverhältnis stehen dürfen (Art. 13). Tun sie dies nicht, so hat die Ethikkommission keine andere Wahl, als die Bewilligung zu erteilen (Art. 56). Reicht das? Trägt eine Kommission mit dieser Aufgabe noch zurecht die Ethik im Namen? Ich bin kein Fachmann, die Frage ist tatsächlich als Frage gemeint!
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Sesam Watch

Beobachtungen und Notizen zum Schweizer NCCR "Sesam", der 3'000 Kinder und ihr Umfeld vom ersten Ultraschallbild an 20 Jahre lang beobachten wollte (vorzeitiger Abbruch: 13.3.08). Autonom, skeptisch, ehrenamtlich. Kontakt: sesamwatch@gmail.com

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