NZZ: "Ethische Überlegungen zur fremdnützigen Forschung mit Kindern"
12. August 2006, Neue Zürcher Zeitung, Giovanni Maio, Inhaber des Lehrstuhls für Bioethik und Geschäftsführender Direktor des Interdisziplinären Ethik-Zentrums an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Deutschland, über "Das Kind als Forschungsobjekt":
Ethische Überlegungen zur fremdnützigen Forschung mit Kindern
Ethische Konzepte, die für die Erwachsenen entworfen wurden, können nicht ohne weiteres auf Kinder übertragen werden. Kinder dürften insbesondere nicht «atomistisch», sondern sie müssen im Verbund mit ihrem sozialen Umfeld betrachtet werden, so der Ethiker Giovanni Maio. Daher liege es in erster Linie an den Eltern, das Kindswohl zu definieren und so über eine allfällige fremdnützige Forschung an ihren Kindern zu urteilen.
Die Forschung an Kindern gehört zu den besonders umstrittenen Themenbereichen der medizinischen Ethik, weil sich in diesem Problemfeld zwei entscheidende Entwicklungen kreuzen, die unvereinbar scheinen. Wir haben auf der einen Seite eine zunehmende Sensibilität für die Rechte der Kinder zu verzeichnen; auf der anderen Seite erfordern der medizinische Fortschritt und die Medikamentensicherheit es immer mehr, dass auch Kinder in klinische Studien einbezogen werden. Dass man in einer solchen Zeit, in der die Rechte der Kinder so gestärkt werden, Vorschläge unterbreitet, Kinder nicht nur ärztlich zu behandeln, sondern sie auch zu Forschungszwecken zu benutzen, erscheint zunächst befremdlich, erst recht in den Fällen, in denen von vornherein klar wäre, dass das Kind von der Forschung gar keinen eigenen Nutzen hätte, wenn also das Kind zu rein fremdnützigen Forschungen herangezogen werden würde. Widersinnig erscheint die Forderung nach fremdnütziger Forschung an Kindern deswegen, weil gerade Kinder vulnerable Wesen sind, Menschen, die sich nicht wehren können, die potenziell ausgeliefert sind und die ausgenutzt werden können.
Wie weit geht die Pflicht zur Hilfe?
Hinzu kommt, dass der Mensch als Forschungsobjekt in den Dienst des Erkenntniszuwachses gestellt wird, er wird zu einem subjektfremden Zweck benutzt. Die Instrumentalisierung des Menschen kann zwar durch die freie Einwilligung gerechtfertigt werden, indem der Mensch mit der Einwilligung den subjektfremden Zweck zu seinem eigenen Zweck macht. Kinder jedoch sind bis zu einem bestimmten Reifegrad keine vollständig autonomiefähigen Menschen; sie können nicht bindend einwilligen. Daher stösst die Forschung mit Kindern auf gravierende ethische Probleme. Ist es vor diesem Hintergrund überhaupt denkbar, fremdnützige Forschung an Kindern als eine moralische Handlung zu betrachten?
In der Diskussion um die Legitimität der Forschung mit Kindern wird oft das Argument ins Feld geführt, dass man eine Hilfspflicht zukünftigen Kindern gegenüber habe und dass schon von daher eine Verpflichtung zur Forschung bestehe. Wenn man nämlich die fremdnützige Forschung mit Kindern für unmoralisch erklärte - so die Argumentation -, dann müsste man in Kauf nehmen, dass Kinder Medikamente erhalten, die nur an Erwachsenen, nicht aber an Kindern erprobt worden sind. Denn für die Unbedenklichkeits- und Wirksamkeitsprüfung von Arzneimitteln ist eine Testung dieser neuen Medikamente auch an Kindern notwendig, die keinerlei Vorteil von einer solchen Testung hätten. Angesichts dessen, dass ein Grossteil der Medikamente, die heute in der Kinder- und Jugendmedizin verabreicht werden, streng genommen für Kinder gar nicht zugelassen sind, müsste - nach dieser Argumentation - allein im Interesse des Patientenkollektivs «Kinder» die Forschung an Kindern erlaubt werden. Dieser Hinweis hat vieles für sich, denn gerade den Arzt kann diese Hilfspflicht für zukünftige Kinder nicht unbekümmert lassen, stellt doch auch die medizinische Forschung einen mittelbaren Dienst am kranken Menschen dar.
Doch das ethische Problem wird dann schwieriger, wenn wir es mit einer eindeutig nichttherapeutischen Studie zu tun haben, wenn also das Kind selbst keinerlei therapeutischen Vorteil aus der Studienteilnahme hätte. Bei einer solchen fremdnützigen Forschung stellt sich der moralische Konflikt in der Weise dar, dass dem jetzigen Kind eine Studie zugemutet werden muss, die erst zukünftigen Kindern zugute kommen soll. Wenn man den Wertkonflikt dieser Frage genauer analysiert, so liesse sich dieser formulieren als Konflikt zwischen zwei konkurrierenden Verpflichtungen; auf der einen Seite die negative Verpflichtung zur Vermeidung einer unmittelbaren Instrumentalisierung des Kindes, auf der anderen Seite die positive Verpflichtung zur mittelbaren Hilfeleistung für zukünftige kranke Kinder.
Philosophisch gesehen stehen diese zwei Verpflichtungen in einer lexikalischen Ordnung zueinander, und zwar in der Weise, dass die unmittelbare negative Verpflichtung Vorrang vor der mittelbaren positiven Verpflichtung hat. Dies erklärt sich daraus, dass negative Verpflichtungen vollkommene Pflichten darstellen, d. h., ihre Befolgung unterliegt einer unbedingten Notwendigkeit. Die Hilfspflicht hingegen kann lediglich den Status der unvollkommenen Pflicht beanspruchen, was impliziert, dass ihre Befolgung von den Umständen der Entscheidungssituation abhängt. Dadurch, dass der Unterlassung von Schaden die Anerkennung fremder Rechte zugrunde liegt, stellt diese Unterlassung eine dringlichere Pflicht dar, so dass das positive Gebot des Helfens dort eine Grenze erfährt, wo zur Hilfe die «Schädigung» Dritter notwendig ist.
Wenn man also so argumentieren wollte, dass man eine Hilfspflicht zukünftigen Kindern gegenüber hätte, so würde man die beschriebene lexikalische Ordnung umkehren und die positive Hilfspflicht für relevanter ansehen als die negative Unterlassungspflicht, keinem Menschen einen Schaden zuzufügen. Dies bedeutete nichts anderes, als dass wir es für gerechtfertigt halten würden, jetzigen Kindern ein Opfer dafür abzuverlangen, damit zukünftigen Menschen geholfen werde. So sehr es auch wünschenswert wäre, dass zukünftige Kinder unbedenkliche Medikamente bekämen, es ist nicht die Grösse des zu erwartenden Drittnutzens, die eine Aussage über die Legitimität der Fremdverzweckung erlaubt. Würden wir die Hilfe für Dritte tatsächlich als Rechtfertigungsgrund nehmen, so müssten wir in Fällen, in denen diese Hilfe ein Höchstmass erreichte, bereit sein, auch ein Höchstmass an «Opfer» zu verlangen. Eine solche Argumentation ist nicht haltbar, weil man damit die grundsätzlich unveräusserlichen Grundrechte eines Menschen gegen Interessen Dritter abwägbar machte. Die dringende Angewiesenheit anderer Patienten auf die Durchführung solcher Studien zu deren Legitimation kann allein noch nicht ausreichen.
Das Kindsein ernst nehmen
Das ethische Problem der fremdnützigen Forschung mit Kindern lässt sich nicht durch den Verweis auf die positiven Folgen der Forschung lösen. Die entscheidende Frage lautet nicht, ob sich Rechtfertigungsgründe für die Verzweckung der Kinder finden lassen. Vielmehr hängt alles von der Frage ab, ob es sich bei der Forschung mit Kindern tatsächlich um eine illegitime und rechtfertigungsbedürftige Verzweckung handelt. Wir hatten bereits festgehalten, dass die Illegitimität durch die Einwilligung aufgehoben werden kann. Da Kinder nicht einwilligen können, ist diese Aufhebung direkt nicht möglich. In der bisherigen Diskussion wird die fehlende Einwilligungsfähigkeit der Kinder zum Ausgangspunkt der Kritik gemacht und damit oft stillschweigend vorausgesetzt, dass deswegen jede drittnützige Teilnahme von Kindern an Forschungsvorhaben grundsätzlich unmoralisch sei.
Eine solche Annahme lässt sich jedoch nicht in dieser kategorischen Weise halten, weil mit dieser Annahme vorausgesetzt wird, dass die Legitimitätsbedingungen, die für Erwachsene gelten, automatisch auch für Kinder gelten müssen. Genau diese Voraussetzung ist jedoch eindeutig falsch, weil ethische Konzepte, die für die Erwachsenenmedizin entwickelt wurden, nicht unhinterfragt auf Kinder übertragen werden können. Um dem Kind tatsächlich gerecht zu werden, dürfen Kinder nicht als kleine Erwachsene betrachtet werden, sondern als Wesen, die in ihrem Kindsein respektiert werden müssen. Das bedeutet, dass das Kindsein für sich genommen einen Eigenwert hat, der eigenständige Ethikkonzepte notwendig macht. Daher ist es zur Klärung des ethischen Problems der Forschung mit Kindern notwendig, eine kindorientierte Ethik als Grundlage zu nehmen und nicht eine Ethik, die wir sonst im Umgang mit Erwachsenen bemühen.
Grundlagen einer kindorientierten Ethik
Der Schwerpunkt einer kindorientierten Medizinethik müsste darin liegen, das Kind nicht vornehmlich als Freiheitsträger zu betrachten, sondern es vor allem als Interessensträger zu sehen, als ein Mensch, der in gleicher Weise als in sich wertvolles Wesen geachtet und damit in seinen Interessen - die nicht nur Freiheitsinteressen sind - geschützt werden muss. Die ethische Frage lautet also nicht: «Wie kann beim Kind der ‹informed consent› ersetzt werden?». Die zentrale ethische Frage im Umgang mit Kindern müsste daher vielmehr lauten: «Wie kann dem Kind als Kind die notwendige Achtung als selbstgesetzliches Wesen entgegengebracht werden?»
Diese entscheidende Achtung des Kindes lässt sich nicht zuletzt durch die Sorge um das Wohl des Kindes, durch die Anerkennung des Kindes als eine unverwechselbare und einzigartig wertvolle und zugleich unverfügbare Person realisieren. Vor diesem Hintergrund verlagert sich der Blickpunkt ethischen Argumentierens vor allem auf die Definierbarkeit des Kindeswohls. Um das Wohl des Kindes in ethischer Hinsicht definieren zu können, muss nach den spezifischen Merkmalen des Kindseins gefragt werden. Was ist für das Kind spezifisch? Ein besonderes Spezifikum des Kindes ist (1) seine Ausrichtung auf Entwicklung. Daher ist der Schutz der Entwicklungsfähigkeit des Kindes sicher eine zentrale Grundlage für die Definierung des Kindeswohls. Damit verknüpft ist (2) die Verpflichtung, dem Kind die grösstmöglichen Chancen für die Zukunft zu gewähren. Der Philosoph Joel Feinberg spricht in Bezug auf eine kindorientierte Ethik vom «Recht des Kindes auf eine offene Zukunft».
Drittens ist das Kind wie kein anderes Wesen durch seine besondere Vulnerabilität charakterisiert. Das Kind ist verletzlich, weil es manipulierbar, verführbar und auch ausnutzbar ist. Schliesslich ist (4) das Kind auf sein soziales Umfeld angewiesen wie kein anderes Wesen. Das Spezifische des Kindseins ist das Angewiesensein auf Beziehungen, das Angewiesensein auf ein Gegenüber, auf ein intaktes Beziehungsumfeld.
Nach diesen Kriterien einer kindorientierten Ethik liegt es auf der Hand, dass - ganz gleich, von welchem Drittnutzen man ausgeht - eine Studie an Kindern nie gerechtfertigt sein kann, wenn sie mit dem Schutz der Entwicklungsfähigkeit kollidiert oder wenn ersichtlich wäre, dass die besondere Wehrlosigkeit und Manipulierbarkeit von Kindern ausgenutzt werden würde. Im Hinblick auf die Entwicklungsfähigkeit und das Recht auf eine offene Zukunft müssen Studien ausgeschlossen bleiben, von denen ein höheres Risiko ausgeht oder die möglicherweise traumatisierend für Kinder sind, da auch das Trauma die Zukunft des Kindes behindern kann. Was die besondere Vulnerabilität der Kinder angeht, so müsste gewährleistet sein, dass nur diejenigen Studien mit Kindern vorgenommen werden, die an den weniger vulnerablen Erwachsenen grundsätzlich nicht durchgeführt werden können. Eine Gewähr des Schutzes dieser Vulnerabilität kann in der Regel letztlich nur über den Einbezug der Eltern gewährleistet werden. Daher ist der Aspekt der Vulnerabilität eng mit dem Hinweis auf das Angewiesensein auf Beziehungen verknüpft. Die Achtung des Kindes als vulnerables Wesen kann vor allem dadurch gewahrt werden, dass das Kind in seinem sozialen Gefüge wahrgenommen und das Umfeld des Kindes als Teil seiner eigenen Identität und seines Wohlergehens betrachtet wird. Die Achtung realisiert sich dadurch, dass danach gefragt wird, wie man seinem Wohl in diesem Gefüge gerecht werden kann. Weil das soziale Gefüge des Kindes in der Regel die Eltern sind, kommt diesen eine entscheidende Rolle zu. Hieraus wird deutlich, dass der beste Schutz der Kinder demnach die Wahrung der Integrität der Eltern-Kind-Beziehung wäre.
Auf Beziehungen angewiesen
Genau hierin liegt der Schwachpunkt der bisherigen Diskussion um die Legitimität der Forschung an Kindern. Kinder wurden atomistisch betrachtet, als Einzelwesen, die aufgrund ihrer Vulnerabilität vom Staat über das kategorische Verbot von Forschung an Kindern geschützt werden müssten. Eine solche Konzeption ist problematisch, weil Kinder sich nur in ihrem sozialen Umfeld entwickeln können. Der beste Garant für das Wohl der Kinder ist daher nicht der Staat, sondern sind in den allermeisten Fällen die Eltern. Eltern haben in allen anderen Lebensbereichen mit gutem Grund eine weitreichende Definitionshoheit über das Wohl ihrer Kinder. Wenn die fremdnützige Forschung mit Kindern verboten wäre, würde dies bedeuten, dass der Staat den Eltern eine adäquate Vertretung der Kindesinteressen im Kontext der Forschung nicht zutraut.
Würde es sich bei solchen Studien tatsächlich um Hochrisikostudien handeln, wäre dies noch eher nachvollziehbar, doch solange z. B. das minimale Risiko als eine fixierte Grenze formal vorgegeben ist, erschiene ein solcher Paternalismus nicht überzeugend. Er würde nicht nur die Kinder, sondern auch die Eltern bevormunden und würde ihrer Verantwortung nicht gerecht werden. Das kategorische Verbot fremdnütziger Forschung mit Kindern könnte so einen illegitimen staatlichen Paternalismus darstellen.
Wir waren von der Frage ausgegangen, wie die Achtung des Kindes realisiert werden kann. Allein dadurch, dass der Arzt die Eltern des Kindes vor jeder Behandlung oder Forschung fragt, bringt er zum Ausdruck, dass er die Selbstzwecklichkeit des Kindes respektiert und nicht einfach willkürlich an ihm handelt. Allein über das Fragen respektiert der Arzt das Kind als wertvolles und einmaliges Wesen, über das nicht frei verfügt werden darf. Das Fragen der Eltern stellt sicher, dass sich der Arzt der besonderen Situation des Kindseins vergewissert und sich eben nicht die Wehrlosigkeit der Kinder zunutze macht.
So lässt sich schlussfolgern, dass die erste Intuition, die fremdnützige Forschung an Kindern grundsätzlich für problematisch anzusehen, in dieser Radikalität nicht wohlbegründet erscheint. Es gibt gewichtige Argumente gegen eine solche Intuition. Allerdings sind diese Argumente nur so stichhaltig, wie man sich darauf verlassen kann, dass die Eltern tatsächlich «gut» für das Kind entscheiden. Daher muss Sorge dafür getragen werden, dass die Eltern selbst nicht dazu «verführt» werden, die Interessen ihrer Kinder aufs Spiel zu setzen. So wäre es beispielsweise problematisch, wenn die Eltern grosse finanzielle Anreize erhielten, Studien zuzustimmen. Ferner kann eine solche Beruhigung nur dann sich einstellen, wenn gerade von Seiten der Medizin anerkannt wird, dass es zwar eine Forschungsfreiheit gibt, aber keine Freiheit zur Forschung mit Menschen. Daher gibt es auch keine Verpflichtung der Menschen zur Teilnahme an Forschung. Eine Zwangssolidarität gerade von Kindern kann von Seiten der Medizin oder der Gesellschaft in keiner Weise postuliert werden.
Wenn alle forschenden Ärzte dies im Blick haben und es dem tatsächlich freien Entscheidungswillen der Eltern ohne moralische Appelle oder moralischen Druck überlassen, dann sind die Kinder in den Händen der Eltern sicher gut aufgehoben. Noch besser aufgehoben wären sie jedoch, wenn die Eltern darauf vertrauen könnten, dass ein Arzt als Arzt allein aufgrund der moralischen Integrität der Medizin seine Patienten nie im Interesse der Forschung «verraten» würde. Daher ist der Schutz der Kinder, ganz gleich, welche Gesetze gelten, nur so gut wie die Moralität der Ärzte. Wenn der Staat erwägt, bestimmte Studien an Kindern kategorisch zu verbieten, so ist das ein Armutszeugnis für das Vertrauen der Gesellschaft in die Moralität der Ärzteschaft. Hier besteht wohl der grösste Nachholbedarf für die Medizin der Zukunft.
Ethische Überlegungen zur fremdnützigen Forschung mit Kindern
Ethische Konzepte, die für die Erwachsenen entworfen wurden, können nicht ohne weiteres auf Kinder übertragen werden. Kinder dürften insbesondere nicht «atomistisch», sondern sie müssen im Verbund mit ihrem sozialen Umfeld betrachtet werden, so der Ethiker Giovanni Maio. Daher liege es in erster Linie an den Eltern, das Kindswohl zu definieren und so über eine allfällige fremdnützige Forschung an ihren Kindern zu urteilen.
Die Forschung an Kindern gehört zu den besonders umstrittenen Themenbereichen der medizinischen Ethik, weil sich in diesem Problemfeld zwei entscheidende Entwicklungen kreuzen, die unvereinbar scheinen. Wir haben auf der einen Seite eine zunehmende Sensibilität für die Rechte der Kinder zu verzeichnen; auf der anderen Seite erfordern der medizinische Fortschritt und die Medikamentensicherheit es immer mehr, dass auch Kinder in klinische Studien einbezogen werden. Dass man in einer solchen Zeit, in der die Rechte der Kinder so gestärkt werden, Vorschläge unterbreitet, Kinder nicht nur ärztlich zu behandeln, sondern sie auch zu Forschungszwecken zu benutzen, erscheint zunächst befremdlich, erst recht in den Fällen, in denen von vornherein klar wäre, dass das Kind von der Forschung gar keinen eigenen Nutzen hätte, wenn also das Kind zu rein fremdnützigen Forschungen herangezogen werden würde. Widersinnig erscheint die Forderung nach fremdnütziger Forschung an Kindern deswegen, weil gerade Kinder vulnerable Wesen sind, Menschen, die sich nicht wehren können, die potenziell ausgeliefert sind und die ausgenutzt werden können.
Wie weit geht die Pflicht zur Hilfe?
Hinzu kommt, dass der Mensch als Forschungsobjekt in den Dienst des Erkenntniszuwachses gestellt wird, er wird zu einem subjektfremden Zweck benutzt. Die Instrumentalisierung des Menschen kann zwar durch die freie Einwilligung gerechtfertigt werden, indem der Mensch mit der Einwilligung den subjektfremden Zweck zu seinem eigenen Zweck macht. Kinder jedoch sind bis zu einem bestimmten Reifegrad keine vollständig autonomiefähigen Menschen; sie können nicht bindend einwilligen. Daher stösst die Forschung mit Kindern auf gravierende ethische Probleme. Ist es vor diesem Hintergrund überhaupt denkbar, fremdnützige Forschung an Kindern als eine moralische Handlung zu betrachten?
In der Diskussion um die Legitimität der Forschung mit Kindern wird oft das Argument ins Feld geführt, dass man eine Hilfspflicht zukünftigen Kindern gegenüber habe und dass schon von daher eine Verpflichtung zur Forschung bestehe. Wenn man nämlich die fremdnützige Forschung mit Kindern für unmoralisch erklärte - so die Argumentation -, dann müsste man in Kauf nehmen, dass Kinder Medikamente erhalten, die nur an Erwachsenen, nicht aber an Kindern erprobt worden sind. Denn für die Unbedenklichkeits- und Wirksamkeitsprüfung von Arzneimitteln ist eine Testung dieser neuen Medikamente auch an Kindern notwendig, die keinerlei Vorteil von einer solchen Testung hätten. Angesichts dessen, dass ein Grossteil der Medikamente, die heute in der Kinder- und Jugendmedizin verabreicht werden, streng genommen für Kinder gar nicht zugelassen sind, müsste - nach dieser Argumentation - allein im Interesse des Patientenkollektivs «Kinder» die Forschung an Kindern erlaubt werden. Dieser Hinweis hat vieles für sich, denn gerade den Arzt kann diese Hilfspflicht für zukünftige Kinder nicht unbekümmert lassen, stellt doch auch die medizinische Forschung einen mittelbaren Dienst am kranken Menschen dar.
Doch das ethische Problem wird dann schwieriger, wenn wir es mit einer eindeutig nichttherapeutischen Studie zu tun haben, wenn also das Kind selbst keinerlei therapeutischen Vorteil aus der Studienteilnahme hätte. Bei einer solchen fremdnützigen Forschung stellt sich der moralische Konflikt in der Weise dar, dass dem jetzigen Kind eine Studie zugemutet werden muss, die erst zukünftigen Kindern zugute kommen soll. Wenn man den Wertkonflikt dieser Frage genauer analysiert, so liesse sich dieser formulieren als Konflikt zwischen zwei konkurrierenden Verpflichtungen; auf der einen Seite die negative Verpflichtung zur Vermeidung einer unmittelbaren Instrumentalisierung des Kindes, auf der anderen Seite die positive Verpflichtung zur mittelbaren Hilfeleistung für zukünftige kranke Kinder.
Philosophisch gesehen stehen diese zwei Verpflichtungen in einer lexikalischen Ordnung zueinander, und zwar in der Weise, dass die unmittelbare negative Verpflichtung Vorrang vor der mittelbaren positiven Verpflichtung hat. Dies erklärt sich daraus, dass negative Verpflichtungen vollkommene Pflichten darstellen, d. h., ihre Befolgung unterliegt einer unbedingten Notwendigkeit. Die Hilfspflicht hingegen kann lediglich den Status der unvollkommenen Pflicht beanspruchen, was impliziert, dass ihre Befolgung von den Umständen der Entscheidungssituation abhängt. Dadurch, dass der Unterlassung von Schaden die Anerkennung fremder Rechte zugrunde liegt, stellt diese Unterlassung eine dringlichere Pflicht dar, so dass das positive Gebot des Helfens dort eine Grenze erfährt, wo zur Hilfe die «Schädigung» Dritter notwendig ist.
Wenn man also so argumentieren wollte, dass man eine Hilfspflicht zukünftigen Kindern gegenüber hätte, so würde man die beschriebene lexikalische Ordnung umkehren und die positive Hilfspflicht für relevanter ansehen als die negative Unterlassungspflicht, keinem Menschen einen Schaden zuzufügen. Dies bedeutete nichts anderes, als dass wir es für gerechtfertigt halten würden, jetzigen Kindern ein Opfer dafür abzuverlangen, damit zukünftigen Menschen geholfen werde. So sehr es auch wünschenswert wäre, dass zukünftige Kinder unbedenkliche Medikamente bekämen, es ist nicht die Grösse des zu erwartenden Drittnutzens, die eine Aussage über die Legitimität der Fremdverzweckung erlaubt. Würden wir die Hilfe für Dritte tatsächlich als Rechtfertigungsgrund nehmen, so müssten wir in Fällen, in denen diese Hilfe ein Höchstmass erreichte, bereit sein, auch ein Höchstmass an «Opfer» zu verlangen. Eine solche Argumentation ist nicht haltbar, weil man damit die grundsätzlich unveräusserlichen Grundrechte eines Menschen gegen Interessen Dritter abwägbar machte. Die dringende Angewiesenheit anderer Patienten auf die Durchführung solcher Studien zu deren Legitimation kann allein noch nicht ausreichen.
Das Kindsein ernst nehmen
Das ethische Problem der fremdnützigen Forschung mit Kindern lässt sich nicht durch den Verweis auf die positiven Folgen der Forschung lösen. Die entscheidende Frage lautet nicht, ob sich Rechtfertigungsgründe für die Verzweckung der Kinder finden lassen. Vielmehr hängt alles von der Frage ab, ob es sich bei der Forschung mit Kindern tatsächlich um eine illegitime und rechtfertigungsbedürftige Verzweckung handelt. Wir hatten bereits festgehalten, dass die Illegitimität durch die Einwilligung aufgehoben werden kann. Da Kinder nicht einwilligen können, ist diese Aufhebung direkt nicht möglich. In der bisherigen Diskussion wird die fehlende Einwilligungsfähigkeit der Kinder zum Ausgangspunkt der Kritik gemacht und damit oft stillschweigend vorausgesetzt, dass deswegen jede drittnützige Teilnahme von Kindern an Forschungsvorhaben grundsätzlich unmoralisch sei.
Eine solche Annahme lässt sich jedoch nicht in dieser kategorischen Weise halten, weil mit dieser Annahme vorausgesetzt wird, dass die Legitimitätsbedingungen, die für Erwachsene gelten, automatisch auch für Kinder gelten müssen. Genau diese Voraussetzung ist jedoch eindeutig falsch, weil ethische Konzepte, die für die Erwachsenenmedizin entwickelt wurden, nicht unhinterfragt auf Kinder übertragen werden können. Um dem Kind tatsächlich gerecht zu werden, dürfen Kinder nicht als kleine Erwachsene betrachtet werden, sondern als Wesen, die in ihrem Kindsein respektiert werden müssen. Das bedeutet, dass das Kindsein für sich genommen einen Eigenwert hat, der eigenständige Ethikkonzepte notwendig macht. Daher ist es zur Klärung des ethischen Problems der Forschung mit Kindern notwendig, eine kindorientierte Ethik als Grundlage zu nehmen und nicht eine Ethik, die wir sonst im Umgang mit Erwachsenen bemühen.
Grundlagen einer kindorientierten Ethik
Der Schwerpunkt einer kindorientierten Medizinethik müsste darin liegen, das Kind nicht vornehmlich als Freiheitsträger zu betrachten, sondern es vor allem als Interessensträger zu sehen, als ein Mensch, der in gleicher Weise als in sich wertvolles Wesen geachtet und damit in seinen Interessen - die nicht nur Freiheitsinteressen sind - geschützt werden muss. Die ethische Frage lautet also nicht: «Wie kann beim Kind der ‹informed consent› ersetzt werden?». Die zentrale ethische Frage im Umgang mit Kindern müsste daher vielmehr lauten: «Wie kann dem Kind als Kind die notwendige Achtung als selbstgesetzliches Wesen entgegengebracht werden?»
Diese entscheidende Achtung des Kindes lässt sich nicht zuletzt durch die Sorge um das Wohl des Kindes, durch die Anerkennung des Kindes als eine unverwechselbare und einzigartig wertvolle und zugleich unverfügbare Person realisieren. Vor diesem Hintergrund verlagert sich der Blickpunkt ethischen Argumentierens vor allem auf die Definierbarkeit des Kindeswohls. Um das Wohl des Kindes in ethischer Hinsicht definieren zu können, muss nach den spezifischen Merkmalen des Kindseins gefragt werden. Was ist für das Kind spezifisch? Ein besonderes Spezifikum des Kindes ist (1) seine Ausrichtung auf Entwicklung. Daher ist der Schutz der Entwicklungsfähigkeit des Kindes sicher eine zentrale Grundlage für die Definierung des Kindeswohls. Damit verknüpft ist (2) die Verpflichtung, dem Kind die grösstmöglichen Chancen für die Zukunft zu gewähren. Der Philosoph Joel Feinberg spricht in Bezug auf eine kindorientierte Ethik vom «Recht des Kindes auf eine offene Zukunft».
Drittens ist das Kind wie kein anderes Wesen durch seine besondere Vulnerabilität charakterisiert. Das Kind ist verletzlich, weil es manipulierbar, verführbar und auch ausnutzbar ist. Schliesslich ist (4) das Kind auf sein soziales Umfeld angewiesen wie kein anderes Wesen. Das Spezifische des Kindseins ist das Angewiesensein auf Beziehungen, das Angewiesensein auf ein Gegenüber, auf ein intaktes Beziehungsumfeld.
Nach diesen Kriterien einer kindorientierten Ethik liegt es auf der Hand, dass - ganz gleich, von welchem Drittnutzen man ausgeht - eine Studie an Kindern nie gerechtfertigt sein kann, wenn sie mit dem Schutz der Entwicklungsfähigkeit kollidiert oder wenn ersichtlich wäre, dass die besondere Wehrlosigkeit und Manipulierbarkeit von Kindern ausgenutzt werden würde. Im Hinblick auf die Entwicklungsfähigkeit und das Recht auf eine offene Zukunft müssen Studien ausgeschlossen bleiben, von denen ein höheres Risiko ausgeht oder die möglicherweise traumatisierend für Kinder sind, da auch das Trauma die Zukunft des Kindes behindern kann. Was die besondere Vulnerabilität der Kinder angeht, so müsste gewährleistet sein, dass nur diejenigen Studien mit Kindern vorgenommen werden, die an den weniger vulnerablen Erwachsenen grundsätzlich nicht durchgeführt werden können. Eine Gewähr des Schutzes dieser Vulnerabilität kann in der Regel letztlich nur über den Einbezug der Eltern gewährleistet werden. Daher ist der Aspekt der Vulnerabilität eng mit dem Hinweis auf das Angewiesensein auf Beziehungen verknüpft. Die Achtung des Kindes als vulnerables Wesen kann vor allem dadurch gewahrt werden, dass das Kind in seinem sozialen Gefüge wahrgenommen und das Umfeld des Kindes als Teil seiner eigenen Identität und seines Wohlergehens betrachtet wird. Die Achtung realisiert sich dadurch, dass danach gefragt wird, wie man seinem Wohl in diesem Gefüge gerecht werden kann. Weil das soziale Gefüge des Kindes in der Regel die Eltern sind, kommt diesen eine entscheidende Rolle zu. Hieraus wird deutlich, dass der beste Schutz der Kinder demnach die Wahrung der Integrität der Eltern-Kind-Beziehung wäre.
Auf Beziehungen angewiesen
Genau hierin liegt der Schwachpunkt der bisherigen Diskussion um die Legitimität der Forschung an Kindern. Kinder wurden atomistisch betrachtet, als Einzelwesen, die aufgrund ihrer Vulnerabilität vom Staat über das kategorische Verbot von Forschung an Kindern geschützt werden müssten. Eine solche Konzeption ist problematisch, weil Kinder sich nur in ihrem sozialen Umfeld entwickeln können. Der beste Garant für das Wohl der Kinder ist daher nicht der Staat, sondern sind in den allermeisten Fällen die Eltern. Eltern haben in allen anderen Lebensbereichen mit gutem Grund eine weitreichende Definitionshoheit über das Wohl ihrer Kinder. Wenn die fremdnützige Forschung mit Kindern verboten wäre, würde dies bedeuten, dass der Staat den Eltern eine adäquate Vertretung der Kindesinteressen im Kontext der Forschung nicht zutraut.
Würde es sich bei solchen Studien tatsächlich um Hochrisikostudien handeln, wäre dies noch eher nachvollziehbar, doch solange z. B. das minimale Risiko als eine fixierte Grenze formal vorgegeben ist, erschiene ein solcher Paternalismus nicht überzeugend. Er würde nicht nur die Kinder, sondern auch die Eltern bevormunden und würde ihrer Verantwortung nicht gerecht werden. Das kategorische Verbot fremdnütziger Forschung mit Kindern könnte so einen illegitimen staatlichen Paternalismus darstellen.
Wir waren von der Frage ausgegangen, wie die Achtung des Kindes realisiert werden kann. Allein dadurch, dass der Arzt die Eltern des Kindes vor jeder Behandlung oder Forschung fragt, bringt er zum Ausdruck, dass er die Selbstzwecklichkeit des Kindes respektiert und nicht einfach willkürlich an ihm handelt. Allein über das Fragen respektiert der Arzt das Kind als wertvolles und einmaliges Wesen, über das nicht frei verfügt werden darf. Das Fragen der Eltern stellt sicher, dass sich der Arzt der besonderen Situation des Kindseins vergewissert und sich eben nicht die Wehrlosigkeit der Kinder zunutze macht.
So lässt sich schlussfolgern, dass die erste Intuition, die fremdnützige Forschung an Kindern grundsätzlich für problematisch anzusehen, in dieser Radikalität nicht wohlbegründet erscheint. Es gibt gewichtige Argumente gegen eine solche Intuition. Allerdings sind diese Argumente nur so stichhaltig, wie man sich darauf verlassen kann, dass die Eltern tatsächlich «gut» für das Kind entscheiden. Daher muss Sorge dafür getragen werden, dass die Eltern selbst nicht dazu «verführt» werden, die Interessen ihrer Kinder aufs Spiel zu setzen. So wäre es beispielsweise problematisch, wenn die Eltern grosse finanzielle Anreize erhielten, Studien zuzustimmen. Ferner kann eine solche Beruhigung nur dann sich einstellen, wenn gerade von Seiten der Medizin anerkannt wird, dass es zwar eine Forschungsfreiheit gibt, aber keine Freiheit zur Forschung mit Menschen. Daher gibt es auch keine Verpflichtung der Menschen zur Teilnahme an Forschung. Eine Zwangssolidarität gerade von Kindern kann von Seiten der Medizin oder der Gesellschaft in keiner Weise postuliert werden.
Wenn alle forschenden Ärzte dies im Blick haben und es dem tatsächlich freien Entscheidungswillen der Eltern ohne moralische Appelle oder moralischen Druck überlassen, dann sind die Kinder in den Händen der Eltern sicher gut aufgehoben. Noch besser aufgehoben wären sie jedoch, wenn die Eltern darauf vertrauen könnten, dass ein Arzt als Arzt allein aufgrund der moralischen Integrität der Medizin seine Patienten nie im Interesse der Forschung «verraten» würde. Daher ist der Schutz der Kinder, ganz gleich, welche Gesetze gelten, nur so gut wie die Moralität der Ärzte. Wenn der Staat erwägt, bestimmte Studien an Kindern kategorisch zu verbieten, so ist das ein Armutszeugnis für das Vertrauen der Gesellschaft in die Moralität der Ärzteschaft. Hier besteht wohl der grösste Nachholbedarf für die Medizin der Zukunft.
patpatpat - 13. Aug, 11:03