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Dienstag, 4. Juli 2006

Pfarrblatt über Sesam

Das Pfarrblatt der römisch-katholischen Pfarreien der Nordwestschweiz schreibt am 2. Juli 2006 über Sesam:

Sesam: Menschliche Entwicklung und seelische Gesundheit verstehen
Autorin: Esther R. Suter

Geht es um orientalische Samen? Oder um ein Zauberwort als Türöffner zu einem unermesslichen Schatz? SESAM steht neuerdings für ein Forschungsprojekt: «Swiss Etiological Study of Adjustment and Mental Health» oder in der Selbstdarstellung: SESAM heisst der neue Nationale Forschungsschwerpunkt (NFS) zu seelischer Gesundheit. Zu Sesam ist die öffentliche Auseinandersetzung mit Leserbriefen, Interviews und Veranstaltungen bereits angelaufen. Auf diese Weise wird eine öffentliche Meinungsbildung möglich.


Anlässlich eines Podiums im Forum für Zeitfragen begründete Prof. Alexander Grob das Sesam-Projekt mit Prognosen der WHO, die darauf hinweisen, dass im Jahr 2020 Depression als weltweite Erkrankung an zweiter Stelle stehen wird. Prof. Jürgen Margraf, als Leiter des Sesam-Projekts, geht von der Annahme aus, dass psychische Erkrankungen vor allem in Form von Angststörungen zunehmen werden. Dazu ein paar Beispiele: Angst vor Gewalt und Terroranschlägen; vor Naturkatastrophen, Seuchen wie Sars und Aids; Arbeitslosigkeit; soziale Verbundenheit bzw. deren Veränderung. «Eine Form von Angst, die sie als Psychologen in eigener Forschung angehen werden, betrifft die Kontrollierbarkeit, d.h. das Gefühl, sein Leben unter Kontrolle zu haben in all diesen Belastungen». Dieses Gefühl komme, so Margraf (in einem Interview in Gesundheit-SprechStunde 7.4.06) zunehmend abhanden. «Die Globalisierung führt dazu, dass bei uns Arbeitsplätze verschwinden und nach Indien oder China verlegt werden. Was kann der Einzelne dagegen tun? … Natürlich nichts. Egal, welche politische Partei ich wähle, ich kann nicht wirklich etwas dagegen tun – und das macht Angst.» Und für Margraf folgt daraus, dass «Menschen, die das Gefühl haben, ihr Leben nicht kontrollieren zu können», viel eher an einer Angststörung erkranken. Wird diese lange nicht behandelt, kommen Depressionen und körperliche Leiden dazu.
Das Sesam-Projekt sieht vor, im Laufe von gut zwanzig Jahren 3000 individuelle Entwicklungsverläufe von Kindern zu beobachten.
Die Studie beginnt vorgeburtlich und dauert bis ins junge Erwachsenenalter. Einbezogen werden sowohl Eltern als auch Grosseltern. Es ist vorgesehen, Gendaten zu berücksichtigen, um besser ermitteln zu können, ob eine psychische Erkrankung angeboren oder erworben ist. Das Projekt soll im Frühjahr 2007 beginnen.
Als Erstes fällt einer Theologin, einem Theologen auf, dass dieses interdisziplinäre Projekt zwar die Geisteswissenschaften einschliesst, jedoch darunter keine TheologInnen vertreten sind. Was hätten sie zu sagen? Z.B., wie es der Assistent der Theologischen Fakultät, Andreas Heit, einbrachte: Ist es erlaubt, an unmündigen Personen bzw. Kindern Forschung zu betreiben, die dazu kein Einverständnis geben und nicht mitreden können? Denn das Verständnis von Menschenwürde schliesst ein, dass Menschen nicht als Mittel für etwas gebraucht werden dürfen, sondern der Zweck selbst sind. Welches Menschenbild wird so durch das Projekt nach aussen vermittelt? Was ist die Leistung von Statistiken und welche Daten und Werte können sie nicht erfassen? Was nehmen sie nicht wahr? Wo endet ihr Gültigkeitsbereich?
Für manche ist es eine Herausforderung, in Zeiten der Resignation («ich kann nicht wirklich etwas dagegen tun») erst recht die eigenen vitalen Reserven anzugehen, kreative Lösungen zu suchen, sich mit anderen Gleichgesinnten zu finden. Die Aussage «Ich kann nicht wirklich etwas tun» kann auch religiös gehört und gedeutet werden. Dann erhält sie einen anderen Akzent. Das Gefühl von Ohnmacht ist nicht die letzte Antwort und muss nicht zur Lähmung führen.
Wie steht es um Lebenskrisen, die zum Leben gehören und zu einem Reifungsprozess führen? Wie wird psychische Erkrankung verstanden? Seelische Erkrankungen werden heute besser akzeptiert. Prof. Theodor Cahn, Chefarzt der Kantonalen Psychiatrischen Klinik Liestal, meinte in einem Interview mit der Basler Zeitung, dass Depression auch als Reaktionsmöglichkeit aller Menschen betrachtet werden kann … mit verschiedenen Ursachen und Auswirkungen … «Depressivität gehört sozusagen zur menschlichen Ausrüstung». Ebenso gehört auch Angst dazu, sie zu erkennen und mit ihr umzugehen lernen, wäre eine der Fähigkeiten, die sowohl Familie wie Gesellschaft vermitteln könn(t)en. Es geht dabei um seelische Qualitäten, die vielleicht in einer Statistik nicht aufscheinen, nicht erfasst werden oder vielleicht gar nicht als Wert erkannt werden? Angst hat auch eine Warnfunktion. Wenn wirklich die Angststörungen zunehmen werden, können sie in ihrer Warnfunktion erfasst werden? Vielleicht verweisen sie auf eine weltweite Problematik, der wir uns stellen sollten? Eine religiöse Sichtweise wird als mögliche Antwort den Wert «Vertrauen ins Leben» neu angehen und zu leben versuchen. Dies lässt sich weder verordnen noch einfach vornehmen, es geht dabei um eine Tiefendimension, die wir zulassen können und damit unser Bild und Verständnis von Menschsein bereichern.
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Sesam Watch

Beobachtungen und Notizen zum Schweizer NCCR "Sesam", der 3'000 Kinder und ihr Umfeld vom ersten Ultraschallbild an 20 Jahre lang beobachten wollte (vorzeitiger Abbruch: 13.3.08). Autonom, skeptisch, ehrenamtlich. Kontakt: sesamwatch@gmail.com

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