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Samstag, 11. März 2006

Zahlen psychisch Kranker massiv zu hoch?

Die US-Professoren Allan V. Horwitz (Soziologie) und Jerome Wakefield (Sozialarbeit) vertreten in einem soeben erschienen Fachartikel die Ansicht, dass die in letzter Zeit publizierten enorm hohen Zahlen von Menschen mit unbehandelten Depressionen massiv zu hoch seien. Diese Ziffern seien ein Produkt der gewählten Methodologie, die quasi zwingend zu überhöhten Zahlen führen müsse.

The High Percentages of Depression Have Been Greatly Exaggerated
The Methodology of Community Surveys Leads to an Overestimate of Mental Illness
Washington, DC—According to widely reported community-based research, almost half the U.S. population suffers from depression. But research by two sociologists indicates that percentage is greatly exaggerated or is a misrepresentation.
The extraordinarily high rates of untreated mental illness reported by community studies are false, say Allan V. Horwitz, a sociology professor in the Institute of Health at Rutgers University, and Jerome Wakefield, a professor in the School of Social Work at New York University. Community studies rely on standard, closed-format questions about symptoms with no context provided to differentiate between reactions to normal life stress (i.e., a death, a romantic break up, work or school stress) and pathological conditions that indicate clinical mental illness.


Hier der Link zum Originalartikel in der Fachzeitschrift "Contexts" im .pdf-Format (Alternativlink, falls ersterer nichts liefert). Könnte es sein, dass wenn Horwitz und Wakefield recht haben, Sesam ein Teil der Legitimation wegbricht? Immerhin wird ja von Sesam selber explizit mit hohen Zahlen argumentiert:
Die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit, im Laufe des Lebens an einer psychischen Störung zu erkranken, liegt derzeit bei über 40%.
Wo kommen diese "über 40%"genau her? Der allgemeine Verweis auf "The global burden of disease" ist etwas dürftig. Auch hier kommen die % wieder:
Die Tatsache, dass die Forschung die Ursachen und Wirkungsfaktoren von psychischen Erkrankungen noch nicht hinreichend erklären kann, ist angesichts von Erkrankungsraten von weit über 40% beunruhigend. (...) Die Häufigkeit und die alarmierende Zunahme psychischer Erkrankungen führen unweigerlich zu gesundheitsökonomischen Herausforderungen. Selbst in der „reichen“ Schweiz befinden sich die Gesundheits- und Sozialausgaben in einer Höhe, die viele Menschen, insbesondere Familien und Alleinerziehende, vor finanzielle Probleme stellt. Ein besseres Verständnis der psychischen Gesundheit ist daher von Bedeutung für die Gesundheits- und Sozialpolitik wie auch für die Volkswirtschaft.
Im Weltgesundheitsbericht der WHO von 2001 steht:
Mental and behavioural disorders are estimated to account for 12% of the global burden of disease
12%, es ist nicht die Rede von "Erkrankungsraten von weit über 40%". Im Weltgesundheitsbericht von 2002 sind bei den developed countries "neuropsychiatric disorders" (Das sind: Unipolar depressive disorders, Bipolar disorder, Schizophrenia, Epilepsy, Alcohol use disorders, Alzheimer and other dementias, Parkinson disease, Multiple sclerosis, Drug use disorders, Post-traumatic stress disorder, Obsessive-compulsive disorder, Panic disorder, Insomnia [primary], Migraine, Mental retardation [lead-caused], Other neuropsychiatric disorders) laut Grafik 4.8 für gut 20% der DALYs (ungefähr: durch Tod und Krankheit verlorene Lebensjahre) verantwortlich. Das sind immer noch nicht "über 40%". Die 450 Millionen, die laut WHO an "mental or behavioural disorder"s leiden, sind sogar nur 7% der Weltbevölkerung. Es würde der Klarheit wohl dienen, wenn irgendwo bei Sesam eine Referenz zu finden wär auf die Quelle dieser 40%. Vielleicht vergleich ich hier ja ständig Aepfel mit Birnen.
Was aber, wenn die psychischen Erkrankungen gar nicht so häufig und erst noch nicht alarmierend am Zunehmen sind? Horwitz und Wakefield reden in ihrem Artikel eine sehr klare Sprache:
According to large, community-based research studies that the media report with great fanfare, alarming numbers of Americans suffer from mental disorders. The most frequently cited study, the National Comorbidity Survey, claims that half the population suffers from a mental illness at some point. Moreover, these same studies show that few people diagnosed as mentally ill seek professional treatment. Policy discussions, scientific studies, media reports, advocacy documents, and pharmaceutical advertisements routinely cite such figures to show that mental disorder is a public health problem of vast proportions, that few sufferers receive appropriate professional treatment, that untreated disorders incur huge economic costs, and that more people need to take medication or seek psychotherapy to overcome their suffering.
Awareness of large numbers of untreated, mentally ill people in the community has reshaped mental health policy, justifying efforts to address this “unmet need for treatment”—for example, by training general practitioners or public school personnel to screen for and treat mental disorders. Despite their rhetorical value, the high rates are a fiction; the studies establish no such thing.

Tages-Anzeiger heute über Sesam

Protest gegen Psycho-Studie an Kindern
Darf man Forschung betreiben an Embryonen und Kindern? Nein, finden Kritiker und haben gegen ein ehrgeiziges Projekt des Nationalfonds über 10 000 Unterschriften gesammelt.
Von Antonio Cortesi
Das sei «gut investiertes Geld», sagte Pascal Couchepin im vergangenen März, als er 50 Millionen Franken für sechs nationale Forschungsschwerpunkte der Geistes- und Sozialwissenschaften freigab. Mit 10,2 Millionen wurde auch ein Grossprojekt der Universität Basel bedacht. Projektleiter Jürgen Margraf, Professor für klinische Psychologie, hatte damals allen Grund zur Freude.
Inzwischen dürfte die Freude getrübt sein. Gegen das Projekt «Sesam» (Swiss Etiological Study of Adjustment and Mental Health) hat sich erbitterter Widerstand formiert. Federführend ist dabei der Basler Appell gegen Gentechnologie. Der Verein hat eine Petition lanciert und in kurzer Zeit über 10'000 Unterschriften gesammelt, wie Geschäftsführerin Pascale Steck auf Anfrage bekannt gab. Das sei ein «beachtlicher Erfolg», zumal in Basel für eine Volksinitiative bloss 4000 Signaturen nötig sind.
Der Basler Appell wird die Petition am kommenden Dienstag dem Präsidenten der Ethikkommission beider Basel überreichen. Diese wird demnächst darüber beraten, ob die Studie moralischen Richtlinien standhält. Für die Realisierung von Sesam ist dies entscheidend.
Sesam ist ein weltweit einzigartiges Langzeitprojekt, das über die Ursachen psychischer Krankheiten Aufschluss geben soll. Die Forscher wollen die Entwicklung von 3000 Kindern und ihren Familien über einen Zeitraum von zwanzig Jahren wissenschaftlich begleiten - und zwar bereits ab der zwölften Schwangerschaftswoche. Dabei soll auch das Erbgut analysiert werden. Im Vordergrund steht die Frage, wie relevant genetische Faktoren beziehungsweise Umwelteinflüsse für die psychische Gesundheit sind.
Für den Basler Appell stossen die Forscher in einen Tabubereich vor. Zudem, so Pascale Steck, werfe die Studie heikle rechtliche Fragen auf:
Kinder würden instrumentalisiert, lautet der Hauptvorwurf. Da sie nicht urteilsfähig seien, könnten sie nicht selber entscheiden, ob sie sich am Projekt beteiligen wollen. Zudem würden sie nicht direkt von der Forschung profitieren.
Mit Speichelproben soll das Erbgut der Kinder und Eltern analysiert werden. Damit bewegten sich die Forscher im juristischen Graubereich.
Das genetische Material werde in Biobanken gespeichert. Das sei datenschützerisch höchst problematisch, zumal auch die Pharmaindustrie das Projekt unterstütze und Interesse an den Daten habe.
Bekämpft wird die Studie auch im eidgenössischen Parlament. Die grüne Basler Nationalrätin Maya Graf hat eine von Vertretern aus GP, SP, CVP und EVP mitunterzeichnete Interpellation eingereicht. Darin fragt sie den Bundesrat, ob er die «fremdnützige klinische Forschung an Kindern» gutheisse - zumal das Bundesgesetz über die Forschung am Menschen noch ausstehend sei und mit der Bewilligung der Studie ein Präjudiz geschaffen werde.
Der Bundesrat sieht darin jedoch kein Problem, wie er in seiner Antwort schreibt. Inzwischen hat er zudem das Gesetz über die Forschung am Menschen in die Vernehmlassung geschickt. Gemäss dem Entwurf sollen Forschungen an unmündigen und nicht urteilsfähigen Personen erlaubt sein, wenn die gesetzlichen Vertreter einwilligen und die Risiken und Belastungen minimal sind.
Diese Kriterien seien bei Sesam ohne Zweifel erfüllt, sagte Projektleiter Margraf auf Anfrage: «Es steht jedem Beteiligten jederzeit frei, sich aus der Studie zurückzuziehen.» Erfahrungen mit ähnlichen Studien aus dem Ausland zeigten jedoch, dass die Familien in den meisten Fällen begeistert mitmachten, weil sie vom Wissen der Forscher profitierten. Margraf rechnet bei Sesam mit einer Ausstiegsquote von maximal 30 Prozent.
Maya Graf kritisiert aber auch «die ökonomielastige Grundhaltung» der Studie. Sauer aufgestossen ist ihr die Formulierung im Projektbeschrieb, Sesam trage dazu bei, «die Position des Landes in einem Feld von grösster strategischer Bedeutung für Gesellschaft und Wirtschaft nachhaltig zu stärken». Dass der Pharmakonzern Roche das Projekt mit sechs Millionen Franken unterstützt, schürt die Befürchtungen der Nationalrätin, Sesam habe einseitig das «ökonomische Funktionieren des Menschen» zum Ziel.
Auch diese Bedenken teilt der Bundesrat nicht: Die Erforschung psychischer Krankheiten gehe «weit über ökonomische Interessen hinaus». Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) würden im Jahr 2020 Depressionen «die zweithäufigste Ursache für vorzeitige Sterblichkeit und gesundheitliche Beeinträchtigungen» sein, so die Regierung. Und Margraf ergänzt: In der Schweiz gebe es jährlich dreimal mehr Suizide (1546) als Verkehrstote. Die Studie könne zur Prävention beitragen, was volkswirtschaftlich sehr wohl bedeutsam sei.
Geplanter Starttermin für Sesam ist der kommende Oktober. Am Anfang der Studie steht die Rekrutierung von 3000 schwangeren Frauen in diversen Frauenkliniken der Schweiz - was laut Margraf «kein Problem» sein werde. Bereits im Mutterleib sollen die Ungeborenen mit Ultraschall untersucht werden, beispielsweise auf ihr Stressverhalten hin. Nach der Geburt ist etwa das Schreiverhalten des Kindes und die Reaktion der Eltern ein Thema. Der Hauptteil der Daten soll aus Gesprächen, Fragebogen und Beobachtungen stammen.
Sesam ist ein Megaprojekt. Mit zwölf Teilstudien sind auch die Universitäten Zürich, Bern, Lausanne und Genf beteiligt. Ein hoch dotiertes Gremium mit Professoren aus den USA, aus Grossbritannien, Kanada und Australien soll den hiesigen Forschern beratend zur Seite stehen.
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Sesam Watch

Beobachtungen und Notizen zum Schweizer NCCR "Sesam", der 3'000 Kinder und ihr Umfeld vom ersten Ultraschallbild an 20 Jahre lang beobachten wollte (vorzeitiger Abbruch: 13.3.08). Autonom, skeptisch, ehrenamtlich. Kontakt: sesamwatch@gmail.com

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