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Hinweis

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Zeit-Fragen, 3.12.2007: «Sesam» - oder Die Geister die ich rief

Langzeitsudie über die Erbsubstanz von Einwohnern der Schweiz
von Dr. Armin Hofmann

Die mehrere tausend Menschen umfassende Langzeitstudie «Sesam» (Swiss Etiological Study of Adjustment and Mental Health) will systematisch Daten über das Erbgut von Einwohnern der Schweiz sammeln. Gegenstand der Studie sind Familien, vom Neugeborenen und seinen Eltern bis zu den Grosseltern, an denen Zusammenhänge zwischen genetischer Veranlagung, Umwelteinflüssen und psychischen Störungen untersucht werden sollen. Unter Fachleuten bestehen erhebliche ethische und rechtliche Bedenken; sie haben Zweifel am wissenschaftlichen Wert der Studie und befürchten einen Missbrauch genetischer Daten. Einige warnen vor neuen Formen der Bevölkerungskontrolle durch Eugenik (Erbgesundheitsforschung zur Ausschaltung erbschädigender Einflüsse). – Derzeit läuft die Studie mit der Rekrutierung schwangerer Frauen für die Studie in Basel an.

Ursprünglich sollten es 15 000 Versuchsteilnehmer sein, die 20 Jahre lang untersucht und beobachtet werden. Unter dem Druck der Öffentlichkeit musste die Studie jedoch stark eingeschränkt werden. Geblieben sind 1500 Kinder ab der 20. Schwangerschaftswoche bis zum 20. Lebensjahr sowie 4000 Eltern und Grosseltern, an denen das Zusammenwirken von sozialen, psychischen und genetischen Faktoren beim Entstehen psychischer Erkrankungen untersucht wird – mittels Ultraschall, Speichel-, Blut- und Urinproben, Tests zur geistigen und körperlichen Entwicklung, Interviews und Fragebögen.
Ethisch fragwürdig ist die Studie, weil sie – für den Fall, dass sich eine psychische Störung offenbart – dem Notleidenden keine Hilfe bietet. Sie macht ihn zum Untersuchungsobjekt und instrumentalisiert ihn für Forschung und Profit.
Keiner weiss so richtig, was Sesam eigentlich soll, nicht einmal die Wissenschafter selbst, denn es handelt sich um eine nicht-Hypothesen-geleitete Studie, die per Zufall etwas herausfinden will durch den Aufbau einer riesigen Datenbank. Entsprechend dürftig wird die Öffentlichkeit informiert, die grösstenteils für die Kosten aufkommt.
Träger der Studie ist der Schweizerische Nationalfonds, der das zum nationalen Forschungsschwerpunkt erklärte Projekt massgeb lich finanziert, und zwar mit 10,2 Millionen Schweizer Franken während einer ersten Phase bis 2009. Weitere Mittel in Höhe von 12,5 Millionen Franken werden von der Universität Basel, dem Stammhaus der Studie, von privaten Stiftungen und von der Wirtschaft beigesteuert; unter anderem 6 Millionen vom Pharma-Konzern Hoffmann La Roche.

Wie man zweifelhafte Studien «an den Mann» bringt

Anlass der seit 2005 in Planung befindlichen Mammut-Studie sei «der rapide Anstieg von psychisch bedingten Krankheiten (wie Ängsten, Depressionen, Sucht oder Jugendgewalt)», so der Leiter des Projekts, Professor Jürgen Margraf von der Uni Basel. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) würden Depressionen bis zum Jahr 2020 die zweithäufigste Ursache für gesundheitliche Beeinträchtigungen sein. Um Depressionen, Angst- oder Suchterkrankungen wirksam vorbeugen und behandeln zu können, fehle es jedoch am nötigen Wissen, behauptet Margraf.
Offensichtlich soll die Öffentlichkeit mit PR-Lügen und Halbwahrheiten über den wahren Zweck der Studie hinweggetäuscht werden. Tatsache ist, Psychologie und Psychotherapie verfügen heute über ein differenziertes Verständnis von Depressionen, Ängsten und Suchtkrankheiten, und es ist durchaus möglich, diese erfolgreich zu behandeln. Das wird jedoch nicht gesagt. Denn in Wirklichkeit geht es darum, biotechnologische, medikamentöse Verfahren zu entwickeln, von denen sich die Pharma-Konzerne Milliardengewinne erhoffen.
Wie die Öffentlichkeit durch PR-Lügen in Kriege gelogen wird,1 angeblich zum Schutz der Demokratie, so werden ihr zweifelhafte Forschungen verkauft, als Schutz vor psychischen Krankheiten. Oder als wohlschmeckender Sesam-Riegel für die Gesundheit. – In Wirklichkeit steckt mehr dahinter.

Wissenschaftlicher Irrglaube

Der Sesam-Studie liegt der Irrglaube zugrunde, dass soziale und psychische Störungen durch unsere Gene bestimmt oder beeinflusst seien. Von allgemeinen Persönlichkeitsmerkmalen bis zu Depressionen, Ängsten, Sucht und Jugendgewalt wird behauptet, sie hätten eine familiär ererbte genetische Grundlage.
Dieser Irrglaube war es, auf dem die unmenschliche Eugenik des 20. Jahrhunderts aufbaute.2 Wollte man früher an den Formen der Ohren die Erbanlage zu Alkoholismus, Depression und Kriminalität ablesen, so sucht man sie heute – in den Genen.
Der Mensch wird nicht mehr als Mensch in seinen sozialen Beziehungen wahrgenommen, sondern als isolierter, entseelter Träger von Krankheitssymptomen, die mit Hilfe gentechnologischer oder medikamentöser Verfahren kostengünstig und effizient beseitigt werden sollen.
Ausdruck davon ist der 1991 überarbeitete Diagnoseschlüssel ICD-10 (International Classification of Diseases) der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der eine Vielzahl von Krankheitssymptomen klassifiziert, die – unter dem Druck verknappter Mittel – durch standardisierte, kostengünstige Verfahren behandelt werden müssen. Immer mehr, so der Zürcher Psychiater und Psychotherapeut Berthold Rothschild, rückt die Frage in den Vordergrund, wie die Diagnose nach ICD-10 lautet, anstatt zu fragen, was im Patienten vorgeht, was ihn oder sie quält.
Die heilende Beziehung zwischen Arzt und Patient, die auf einem mitfühlenden Erforschen des inneren Erlebens aufbaut, wird auf ein Minimum reduziert und durch eine angeblich zeit- und ressourcensparende Behandlung mit Medikamenten ersetzt. So sei in den vergangenen Jahren eine grundsätzliche Tendenz zur Medikalisierung psychischer Störungen entstanden, die mit der Suche nach den genetischen Grundlagen seelischer Erkrankungen Hand in Hand gehe.4

Rechtlich fragwürdig

Die zweifelhafte Verknüpfung von erbgenetischen mit psychologischen Daten war es auch, die zum Stein des Anstosses wurde. Verfassungsrechtlich umstritten ist, ob die sogenannte fremdnützige Forschung, die den Untersuchten nicht unmittelbar Hilfe bringt, überhaupt zulässig ist. Sesam beruft sich auf das «Europäische Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin» (Bioethik-Konvention, 1997), übergeht dabei aber, dass das Abkommen bislang von der Schweiz nicht ratifiziert wurde. Der Studie fehlt also die rechtliche Grundlage.
Auch das so genannte Humanforschungsgesetz, das die umstrittene Forschung an Nichteinwilligungsfähigen – an Ungeborenen und Kindern – auf nationaler Ebene regeln soll, ist noch nicht verabschiedet. Die Vernehmlassung war nicht einmal abgeschlossen, da hatte der Bundesrat das Sesam-Projekt bereits bewilligt. Frühestens im Jahr 2008 wird im Parlament über das Humanforschungsgesetz debattiert, so dass mit einem Inkrafttreten vor 2010 nicht zu rechnen ist.
Der Eindruck entsteht, dass mit Sesam Fakten geschaffen werden, noch bevor die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen existieren. Auf diese Weise soll die Politik unter Druck gesetzt werden, damit die entsprechenden Gesetze im Eiltempo durchgepaukt werden können. Zweifel an der Studie werden mit Worten heruntergespielt wie: «Untersuchungen an Erwachsenen und Kindern sind Alltag. In der Pädagogik, der Pädiatrie und eben in der Entwicklungspsychologie haben solche Studien eine lange Tradition.» (Margraf, «Südostschweiz» vom 25. März)
So wird die Öffentlichkeit mit PR-Lügen in die Irre geführt. Denn es stimmt nicht, dass die systematische Untersuchung von genetischem Material an nicht einwilligungsfähigen Ungeborenen und Kindern «eine lange Tradition» hat. Sie ist relativ neu und für die Schweiz absolut einzigartig.

Ethisch zweifelhaft

Auch die brisanten ethischen Fragen, die mit Sesam verbunden sind, sind bei der Konzipierung der Studie übergangen worden. Dennoch hat der Bundesrat die Untersuchungen bewilligt. Deshalb sammelte der «Basler Appell gegen Gentechnologie» 12 000 Unterschriften Sesam-kritischer Bürger. Mit Erfolg. Die Ethikkommission beider Basel (EKBB) bewilligte in der Folge das Sesam-Projekt zwar, aber nur unter strengen Auflagen.
Sie lehnt die Entnahme und Untersuchung der genomischen DNA bei Versuchspersonen vor Erreichen der Mündigkeit grundsätzlich ab. Die Offenbarung sensibler genetischer Informationen könne ein Kind ein Leben lang belasten, wenn es erfährt, dass es eine genetische Veranlagung zu einer unheilbaren Krankheit hat. Das verletze die Verpflichtung zur Wahrung des Kindeswohls, ebenso den allgemeinen Persönlichkeitsschutz.
Die EKBB verlangt daher eine unabhängige Begleitstudie, welche die negativen psychischen Folgen der Studie untersucht. Sie fordert eine unentgeltliche Anlaufstelle, um Teilnehmer zu schützen. Verlangt wird auch, dass das Untersuchungspersonal im Umgang mit psychischen Krisen geschult wird, die im Verlauf der Studie auftreten können.
Strategischer Winkelzug

Roche wollte – ob des Entscheids der EKBB – die zugesagten Millionen zurückziehen, die Sesam-Verantwortlichen sahen das Projekt gefährdet. Da griffen sie in die Trickkiste und erdachten sich einen neuen Forschungsschwerpunkt für die Studie: Nicht die DNA an sich solle genetisch bestimmt werden, vielmehr wolle man die epigenetische Wechselwirkung zwischen Umwelt und Genen untersuchen; denn durch bestimmte umweltbedingte, psychosoziale Einflüsse, so die Vermutung, können Gene ein- oder ausgeschaltet werden, wodurch Krankheiten entstehen.
Ob genetisch oder epigenetisch, der Zweck der Studie ist derselbe geblieben: Erkenntnisse zu gewinnen, um Verfahren und Medikamente zu entwickeln, die auf der genetisch-biologischen Ebene ansetzen und nicht bei den psychosozialen Ursachen von Depressionen und anderen seelischen Leiden. Menschen sollen medikamentös ruhiggestellt werden, ohne dass die Ursachen im gesellschaftlichen, psychosozialen Umfeld ins Auge gefasst werden.5
Nun ist die EKBB im Juli dieses Jahres zurückgekrebst und hat entgegen den ursprünglichen Auflagen – Verzicht auf Entnahme und Untersuchung des Erbguts von Neugeborenen – den Abstrich von Mundschleimhaut (Speichelprobe) unmittelbar nach der Geburt erlaubt, was die Bestimmung der DNA doch möglich macht, durch die Hintertür sozusagen. Die Proben müssen aber in einer unabhängigen Biobank verwahrt werden; wobei sich die EKBB vorbehält, ihr Veto einzulegen, je nachdem, was die Sesam-Forscher damit machen. Genetische und epigenetische Untersuchungen sind nämlich kaum voneinander zu trennen.
Die Probleme mit den Biobanken sind hinlänglich bekannt. Gesetzliche Regelungen gibt es keine, und der Persönlichkeitsschutz wird nur selten gewahrt. Biobanken unterliegen keiner unabhängigen Kontrolle, sie unterstehen vielmehr der Selbstkontrolle durch die Betreiber. (Die Volkswirtschaft, Magazin für Wirtschaftspolitik 7/8, 2006, S. 48) Dem Missbrauch sind also Tür und Tor geöffnet.

Diskriminierung Kranker

Gefährlich sind auch die sozialen und gesellschaftlichen Folgen der Studie. Sesam will sogenannte Risikoprofile für bestimmte Krankheiten erstellen. Ab Anfang 2009 will der Bund die elektronische Versichertenkarte für alle Menschen in der Schweiz einführen, auf der vorerst nur die administrativen Daten – aller Einwohner der Schweiz – gespeichert werden.
Laut Mitteilung des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) soll es jedoch möglich sein, Zusatzangaben über aktuelle Krankheiten, Unfallfolgen oder Allergien freiwillig auf der Karte zu speichern. Nicht auszuschliessen ist, dass früher oder später auch Daten gespeichert werden müssen, welche die von Sesam avisierten psychogenetischen Risikoprofile betreffen. Dann kann es passieren, dass Patienten von Versicherungsgesellschaften aufgefordert werden, verfügbares Wissen über genetisch bedingte Erkrankungsrisiken offenzulegen. Das kann zu einer Erhöhung der Prämien oder zum Ausschluss aus der Versicherung führen, was diskriminierend ist und die solidarische Haftung aller Versicherungsnehmer für die Kranken untergräbt.

Neue Formen von Eugenik

Zu befürchten ist auch, dass die Sesam-Studie neuen Formen der Eugenik den Weg ebnet. Sesam geht von der Annahme aus, dass psychische Störungen (Ängste, Depressionen, Suchterkrankungen) genetisch beeinflusst sind. Zwar haben alle unsere Gefühle, Gedanken und unser Verhalten eine biochemische Grundlage; dennoch sind Ängste, Depressionen und Suchterkrankungen (auch das Abhängigkeitspotential von Suchtmitteln) nicht genetisch bedingt. Der Glaube an die genetische Bedingtheit sozialer, psychologischer Probleme scheint heute jedoch weiter verbreitet zu sein als zur Blütezeit der Eugenik.2
Auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die das Entstehen der Eugenik in den 20er- und 30er-Jahren begünstigten, ähneln denen von heute: militärische Hochrüstung, instabile wirtschaftliche Entwicklung, Börsenkrise, Arbeitslosigkeit. Die Forderung nach wirtschaftlicher Effizienz war damals wie heute ein zentrales Thema, in den USA ebenso wie in Europa. Da bot die Eugenik die Möglichkeit, seelisch und körperlich Kranke, die als wirtschaftliche Belastung angesehen wurden, zu beseitigen, um einen gesunden, leistungsfähigen «Volkskörper» entstehen zu lassen.
Mit der gegenwärtigen Verfügbarkeit von genetischen Tests und Fruchtwasseruntersuchungen hat bereits eine Art «Laissez faire»-Eugenik (Philip Kitcher) Einzug gehalten. Infolge des zunehmenden Drucks von Wirtschaft und Politik auf Familien, Risiko-Nachwuchs nicht zu kriegen bzw. abzutreiben, werden reproduktive Entscheidungen in bezug auf genetische Defekte schon heute durchgesetzt. Es handelt sich um eine Art «Eugenik durch die Hintertür» (Troy Duster). Dabei stellt sich die Frage, ob wirtschaftlicher Druck oder der Druck der öffentlichen Meinung so viel anders oder weniger heimtückisch ist als der staatliche Druck diktatorischer Regime?2

Akademisch-industrieller Komplex

Hinter Sesam offenbart sich ein akademisch-industrieller Komplex aus Pharma-Konzernen, Hochschulen und eine vom Nationalfonds gelenkte Wissenschaftspolitik, welche die öffentliche Hochschulforschung privatwirtschaftlichen und politischen Interessen unterstellt (BFT-Botschaft 2004–2007). Deshalb werden vor allem Forschungsvorhaben gefördert, die politisch und wirtschaftlich effizient scheinen; wirtschaftlich, insofern sie horrende Gewinne für die Konzerne abwerfen, politisch, indem sie psychosoziale Probleme – gemäss New Public Management – angeblich kostengünstig verwalten helfen.
Die Schweiz gilt als geradezu prädestiniert für Sesam, so Dieter Imboden, Präsident des Forschungsrates des Schweizerischen Nationalfonds, und zwar wegen des zuverlässigen Meldewesens, wegen der stabilen Bevölkerungssituation und wegen der guten Verfügbarkeit pränataler Diagnostik. Hinzu kommt, dass die Schweiz in Sachen Eugenik (Erbgesundheitsforschung) historisch nicht belastet ist, ganz im Gegensatz zu Deutschland, wo infolge der grauenvollen Nazi-Experimente eine solche Massenuntersuchung mit genetischen Daten kaum durchsetzbar wäre. Deshalb hat sich das von ausländischen Gutachtern aus Grossbritannien, Deutschland und den USA dominierte Gremium des Schweizerischen Nationalfonds auch für den Standort Schweiz entschieden.
Und Basel bietet die besten Voraussetzungen dafür, nicht zuletzt wegen der Nähe universitärer Forschung zur Pharmaindustrie, die solche Gen-Studien äusserst schätzt und grosszügig Geld gibt. Denn hier winkt das grosse Geschäft der Zukunft. «Die Konzepte […]», so die Erklärung des Pharma-Konzerns Roche, der hinter Sesam steht, «stimmen völlig überein mit den Langzeitstrategien von Schweizer pharmazeutischen Firmen wie Novartis und Roche […], die zum Ziel haben, neue therapeutische Ansätze zu bestimmen, um Menschen mit psychischen Krankheiten und Verhaltensstörungen zu helfen.»3 Da Beratung und Psychotherapie usw. angeblich zu langwierig und zu teuer seien, müssten sie durch effizientere ersetzt werden, und zwar durch gentechnologische Verfahren oder durch Medikamente, welche auf molekulare Abläufe im Gehirn Einfluss nehmen.
Eigens dafür wurde am Psychologischen Institut der Universität Basel ein Lehrstuhl für «Molekulare Psychologie» geschaffen, der mit Professor Andreas Papassotiropoulos besetzt wurde. Papassotiropoulos war von 2000–2004 Group Leader für Clinical Genetics in der Abteilung für Psychiatrische Forschung der Uni Zürich. Im Rahmen des Sesam-Projekts leitet er die Studien über den Zusammenhang zwischen genetischen Faktoren und der Entwicklung psychischer Erkrankungen.

Missbrauch vorprogrammiert

Mit Hilfe von Sesam soll eine gigantische Datensammlung über biologische Eigenschaften von mehreren tausend Menschen angelegt, und vielfältige psychologische und soziologische Daten sollen damit verknüpft werden. Diese Daten können in beliebige, ökonomisch und politisch opportune Zusammenhänge gebracht werden und für den Einzelnen wie für die Gesellschaft heute nicht voraussehbare Konsequenzen haben. Eine gigantische Datenbank mit Informationen von Tausenden von Menschen stelle eine grosse Versuchung dar, so der Sesam-kritische Basler Appell, der deshalb fordert: Keine Gen-Forschung an Menschen, bevor die ethischen und rechtlichen Zweifel ausgeräumt sind und die grosse Gefahr des Missbrauchs gebannt ist!3
In Basel hat man im Oktober begonnen, schwangere Frauen für die Studie zu rekrutieren. An den Hochschulen in Zürich, Bern, Lausanne und Genf wird man voraussichtlich erst nächstes Jahr mit der Suche nach Studienteilnehmer(innen) beginnen können. Ob dann allerdings die Ethik-Kommissionen die Studie in den anderen Kantonen durchwinken, ist fraglich.
Inzwischen kommt Widerstand von Bürgerinnen und Bürgern. Von Wissenschaftern, Ärzten und Intellektuellen wird gefordert, vereinfachten genetischen Erklärungen für soziales Verhalten, wie sie der Sesam-Studie zugrunde liegen, entgegenzutreten, sowohl in fachlichen wie auch in populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen.
Bürgerinnen und Bürger verlangen berechtigterweise Transparenz in Sachen Sesam, denn schliesslich wird die Studie zu einem Grossteil mit öffentlichen Mitteln finanziert.6 In der Debatte um die elektronische Gesundheitskarte setzen sie sich für ein Krankenversicherungssystem ein, das nicht diskriminiert, sondern Menschen mit Risikoprofilen schützt. Sie verlangen auch eine Abkehr von der neoliberalen Globalisierungsdoktrin, die nur zu mehr Krieg, verknappten Ressourcen, verschärfter Konkurrenz und Entsolidarisierung der Gesellschaft führt. So soll verhindert werden, dass gesellschaftspolitische und wirtschaftliche Bedingungen entstehen, unter denen Bevölkerungskontrolle und eugenische Lösungen einmal mehr als akzeptabel angesehen werden.2 •


1 Tobias Salander: Rezension von Becker/Beham «Operation Balkan: Werbung für Krieg und Tod» – Oder über die Kolonialisierung der Medien durch die PR-Industrie. In: Zeit-Fragen Nr. 8 vom 27.2.2007
2 Allen, Garland E.: Genetik, Eugenik und die Medikalisierung des sozialen Verhaltens: Lehren aus der Vergangenheit. In: Endeavour, Bd. 23(1), 1999
3 Sesam-Riegel für das seelische Wohlbefinden, www.baslerappell.ch; siehe auch www.sesam swiss.ch, sesam.twoday.net
4 Rothschild, Berthold: Viadukte über das Jammertal Psychiatrie. Analysieren wollen und können viele, mitfühlen und nachempfinden nur wenige. «Neue Zürcher Zeitung», 13.1.2007, abgedruckt in Zeit-Fragen am 3.4.2007
5 Vogel, Benno: Die Seele im Gewebe suchend, in: Die Wochenzeitung 37/13.9.2007, Seite 27
6 Siehe: www.baslerappell.ch; www.sesamswiss.ch, sesam.twoday.net
Nationalrat öffnet fremdnütziger Forschung die Tür


Anfang Oktober genehmigte der Nationalrat das «Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin» des Europarats. Der Basler Appell gegen Gentechnologie kritisiert die Vorlage schon seit Jahren. Zu hoffen ist, dass der Ständerat [in der aktuellen Wintersession 2007, Anm. der Red.] die Notbremse ziehen wird.
Im Europäischen Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin werden erstmals auf internationaler Ebene die wichtigsten Grundsätze in den Bereichen Einwilligung in medizinische Eingriffe, Schutz der Privatsphäre, Genetik, Organ entnahme für Transplantationszwecke und medizinische Forschung verbindlich geregelt. Das Übereinkommen, kurz auch «Bioethikkonvention» genannt, trat 1999 in Kraft. Doch wegen seiner zu liberalen Grundsätze wurde es bis heute von Staaten wie Deutschland, Frankreich, Italien und Österreich nicht ratifiziert.

Vorschnelle Ratifizierung

In der Schweiz soll sich dies nun ändern. Der Nationalrat folgte Anfang Oktober der Empfehlung der vorbereitenden Kommission und befürwortete eine vorschnelle Ratifizierung mit 121 zu 17 Stimmen. Damit wird der fremdnützigen Forschung an nichteinwilligungsfähigen Menschen hier in der Schweiz der Weg geebnet. Dies ist insofern nur schwer nachzuvollziehen, als die nationale Gesetzgebung zum Thema noch in den Kinderschuhen steckt. Die Vernehmlassung zum Humanforschungsgesetz ist erst gerade abgeschlossen.

Öffentliche Diskussion nötig

Geht es nach dem Nationalrat, soll das Pferd nun von hinten aufgezäumt werden. Anstelle der dringend notwendigen öffentlichen Debatte darüber, auf welche ethischen Standards man sich in der Schweiz festlegen will, sollen nun Fakten geschaffen werden, die durch die Hintertür einen Paradigmenwechsel einleiten. Denn mit der Befürwortung der Bioethik konvention wird besonders schutzwürdigen Menschen wie Behinderten oder Kindern das Grundrecht auf Unversehrtheit abgesprochen. Eine Sistierung des Geschäfts ist aus der Sicht des Basler Appells gegen Gentechnologie unabdingbar, damit eine öffentliche Diskussion lanciert werden kann. Nur so ist es möglich, dass die Debatte um die Forschung am Menschen in der Schweiz auch wirklich geführt wird.

Abstimmung im Frühjahr 2009

Erst kürzlich wurde die Botschaft, vorerst nur zum Verfassungsartikel über die Forschung am Menschen, veröffentlicht. Dies bedeutet, dass die Vorlage über kurz oder lang in den Räten beraten werden wird. Geht es nach dem Bundesrat, so soll der Verfassungsartikel bereits im Frühjahr 2009 vor das Volk kommen. Das Humanforschungsgesetz allerdings braucht etwas mehr Zeit. Der Gesetzesentwurf wird zur Zeit überarbeitet, geplant ist die Botschaft auf Ende 2008.

Schiebt Ständerat einen Riegel?

Wichtige ethische Grundwerte dürfen nicht unüberlegt und im Eilzugtempo untergraben werden. Es bleibt zu hoffen, dass die Kleine Kammer ein Einsehen hat und der Ratifizierung der Bioethikkonvention im letzten Moment den Riegel schiebt. Damit bliebe der Weg frei für eine intensive und vor allem ehrliche Diskussion des Wegs, den die Schweiz in Bezug auf die fremdnützige Forschung an Urteilsunfähigen einschlagen will.
Quelle: Aha! Rundbrief des Basler Appells gegen Gentechnologie 5/2007


Bioethikkonvention – Paradigmen wechsel durch die Hintertür
Fremdnützige Forschung an Nichteinwilligungsfähigen?

Was Deutschland, Frankreich, Italien und Österreich abgelehnt haben, dem soll nun die Schweiz den Weg ebnen? Ratifiziert die Schweiz die Bioethikkonvention des Europarates, sinkt das Schutzniveau zum Beispiel für Ungeborene, Kleinkinder oder Alzheimer-Kranke in unserem Land. Der Nationalrat befürwortete Anfang Oktober mit 121 zu 17 eine übereilte Ratifizierung des Abkommens. Nun liegt alle Hoffnung auf dem Ständerat, der in Woche zwei der Wintersession 2007 dieses Geschäft behandelt. Lehnt er ab, bleibt die Chance gewahrt auf eine «ehrliche und offene Diskussion des Wegs, den die Schweiz in bezug auf die fremdnützige Forschung an Urteilsunfähigen einschlagen will.»
(Siehe Kasten: «Nationalrat öffnet fremdnütziger Forschung die Tür»)


Wie mit PR-Kampagnen «Sesam» der Öffentlichkeit verkauft wird

Eine junge schwangere Frau mit einem Kind an der Hand, gekleidet in ein eng anliegendes rotes T-Shirt mit Schweizerkreuz wirbt für Sesam. Jung, dynamisch, national. Schliesslich liege ihr die Gesundheit ihrer Kinder am Herzen, so die Aussage des Hochglanzprospekts. Dabei geht es um fremdnützige Forschung an Einwilligungsunfähigen (siehe Kasten: «Nationalrat öffnet fremdnütziger Forschung die Tür»). So soll Müttern weisgemacht werden, dass die Teilnahme an Sesam der Gesundheit ihrer Kinder etwas bringt.
Beauftragt mit der PR-Kampagne wurde die Agentur Opcon Communications von Regensberg ZH, die laut eigener Aussage spezialisiert ist auf «Marketing communication campaigns» oder: wie man mit «value-creating mechanisms» zweifelhafte Produkte, dazu gehören auch Forschungsvorhaben, der Öffentlichkeit als etwas Gutes verkauft.
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Sesam Watch

Beobachtungen und Notizen zum Schweizer NCCR "Sesam", der 3'000 Kinder und ihr Umfeld vom ersten Ultraschallbild an 20 Jahre lang beobachten wollte (vorzeitiger Abbruch: 13.3.08). Autonom, skeptisch, ehrenamtlich. Kontakt: sesamwatch@gmail.com

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